Zusammenfassung
- Definition:Chronische und progrediente Fettverteilungsstörung mit deutlicher Disproportion zwischen Stamm und Extremitäten.
- Häufigkeit:0,1–10 % der erwachsenen Frauen betroffen.
- Symptome:Diätresistente Volumenzunahme an den Extremitäten, disproportional zum Stamm. Spannungsgefühl. Hämatomneigung.
- Befunde:Symmetrische Fettgewebsvermehrung an den Extremitäten, bei Palpation druckschmerzhaft. Keine Schwellung an Händen oder Füßen (negatives Stemmer-Zeichen: Anhaben der Haut über 2. Zehe möglich).
- Diagnostik:Klinische Diagnose nach Ausschluss von Lymphödem und venösem Ödem als Differenzialdiagnosen.
- Therapie:Keine kausale Therapie bekannt. Primär physikalische Entstauungstherapie, bei Therapieversagen operative Liposuktion (im Stadium III Kassenleistung).
Allgemeine Informationen
Definition
- Chronische und progrediente Erkrankung, die nahezu ausschließlich bei Frauen auftritt und durch eine Fettverteilungsstörung mit deutlicher Disproportion zwischen Stamm und Extremitäten gekennzeichnet ist.
Häufigkeit
- 0,1–10 % der erwachsenen Frauen sind betroffen.
- Das Lipödem beginnt in der Regel in einer Phase hormoneller Veränderungen wie Pubertät, Schwangerschaft oder Klimakterium.
- Bei Männern wurden lipödemähnliche Veränderungen nur bei hormonell wirksamen Therapien, ausgeprägten Hormonstörungen (z. B. Hypogonadismus) oder bei Leberzirrhose beschrieben.
Ätiologie und Pathogenese
- Die Ätiologie ist weiterhin unbekannt.
- Es wird eine östrogenregulierte polygenetische Störung angenommen.
- Die umschriebene Fettgewebsvermehrung ist Folge einer Hypertrophie und Hyperplasie der Fettzellen.
- Primär liegt keine Lymphgefäßveränderung vor.
- Zusätzlich besteht eine Kapillarpermeabilitätsstörung, wodurch vermehrt Flüssigkeit aus dem Gefäßsystem ins Interstitium gelangt.
- Die erhöhte Kapillarfragilität bedingt die auffallende Hämatomneigung.
- Einer Theorie zufolge könnte eine pathologische Angiogenese zur Entwicklung des Lipödems beitragen.1
Prädisponierende Faktoren
- Weibliches Geschlecht
- Positive Familienanamnese
- in 16–60 % der Fälle
ICPC-2
- T83 Übergewicht
- Das Lipödem ist in der Liste der Diagnosen nicht gesondert aufgeführt.
ICD-10
- E88.20 Lipödem, Stadium I
- E88.21 Lipödem, Stadium II
- E88.22 Lipödem, Stadium III
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Diagnosestellung des Lipödems durch Anamnese, Inspektion und Palpation anhand der typischen klinischen Kriterien
- Andere Ursachen eines Ödems sollten ausgeschlossen werden.
- Trias aus Disproportionalität der proximalen Extremitäten, Schmerz und Hämatomneigung
Stadieneinteilung
- Drei morphologische Stadien des Lipödems lassen sich abgrenzen.
- Die Stadieneinteilungen sind nicht zwangsläufig mit dem Ausmaß der klinischen Symptomatik (Schmerzen) verknüpft.
- Stadien
Differenzialdiagnosen
- Übergewicht oder Adipositas
- Lymphödem
- Venöse Insuffizienz
- Lipohypertrophie
- ebenfalls Disproportion und Fettvermehrung, aber
- kein Ödem, kein Druckschmerz, kaum Hämatomneigung
- Morbus Dercum/Adiposis dolorosa (sehr selten)2
- Entwicklung multipler schmerzhafter subkutaner Fettgewebe-Tumoren, nicht symmetrisch
Anamnese
- Fast nur Frauen betroffen, vor allen in Phasen hormoneller Umstellungen, z. B. Pubertät oder Klimakterium
- Oft positive Familienanamnese
- Typische Symptomatik
- symmetrische Volumenzunahme an den Extremitäten, disproportional zum Stamm
Lipödem
- fehlendes Ansprechen der betroffenen Regionen auf Diätmaßnahmen
- Spannungsgefühl mit Berührungs- und Druckempfindlichkeit
- verstärkt bei warmem Wetter, nach längerem Stehen bzw. Sitzen sowie am Abend
- teils auch erhebliche Spontanschmerzhaftigkeit
- Hämatomneigung
- symmetrische Volumenzunahme an den Extremitäten, disproportional zum Stamm
Klinische Untersuchung
Klinische Kriterien für Lipödem
- Beginn mit Pubertät, Schwangerschaft oder Menopause
- Disproportionale Fettgewebsvermehrung (Extremitäten – Stamm)
- Kragen- oder Muffbildung im Bereich der Gelenkregionen
- Kalibersprung zur angrenzenden gesunden Region
- Hände und Füße sind nicht betroffen.
- Schwere- und Spannungsgefühl der betroffenen Extremitäten
- Schmerzhaftigkeit bei Palpation oder spontan – im Tagesverlauf zunehmend
- Ödeme – im Tagesverlauf zunehmend
- Hämatomneigung
- Stemmer-Zeichen negativ
- Abheben der Haut über der 2. Zehe möglich
- DD Lymphödem hat positives Stemmer-Zeichen: Abheben der Haut nicht möglich
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Zur Verlaufskontrolle weitere Parameter empfohlen, z. B.:
- Gewicht
- Body-Mass-Index (BMI)
- Index Taille/Hüfte
- Index Taille/Körpergröße sowie
- Umfangs- und Volumenmessungen der Extremitäten
- tägliche Aktivität.
- Insbesondere in differenzialdiagnostisch schwierigen Fällen (Adipositas versus Lipödem) können diese Verlaufsparameter bei fehlender Volumenabnahme der Extremitäten trotz Reduktion des Gesamtgewichts und des Stammfetts hilfreich für die Diagnosestellung des Lipödems sein.
Diagnostik bei Spezialist*innen
- In unklaren Fällen und zur Verlaufsbeurteilung können die (Duplex-)Sonografie der Beingefäße und in Ausnahmefällen eine Lymphszintigrafie helfen.3
- Eine Lymphszintigrafie zur Diagnostik eines Lymphödems ist jedoch fehleranfällig.
Indikationen zur Überweisung
- Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose oder beim Auftreten von Komplikationen Überweisung an Dermatolog*in und ggf. Phlebolog*in/Lympholog*in
Therapie
Therapieziele
- Beseitigung bzw. Verbesserung der Befunde und Beschwerden (besonders Schmerzen, Ödem und Disproportion)
- Verhinderung von Komplikationen, z. B. sekundäres Lymphödem
- Vermeidung einer Adipositas, da diese den Verlauf verkomplizieren kann
Allgemeines zur Therapie
- Es existiert keine kausale Therapie, da die Ursache unbekannt ist.
- Aufklärung der Patient*innen über die Erkrankung
- Primär Therapieversuch mit konservativen Maßnahmen
- Bleibt eine entsprechende Besserung der Beschwerden aus, ist eine Liposuktion zu erwägen.
Empfehlungen für Patient*innen
- Die Patient*innen sollten eine weitere Gewichtszunahme vermeiden, indem sie ihre Ernährung anpassen und auf ausreichend Bewegung achten.
- Gute Hautpflege, um Mazerationen zu vermeiden
Konservative Therapie
- Die konservative Therapie umfasst physikalische Maßnahmen in Form der komplexen bzw. kombinierten physikalischen Entstauungstherapie (KPE).
- kann zur Minderung des Schweregefühls und der Hämatomneigung beitragen
- Einen Einfluss auf das pathologisch veränderte subkutane Fettgewebe hat das Verfahren jedoch nicht.
- konsequente Anwendung notwendig
Kombinierte physikalische Entstauungstherapie (KPE)
- Manuelle Lymphdrainage
- nicht nur, wenn als Komplikation ein Lymphödem hinzukommt
- Kompressionstherapie
- in der Entstauungsphase mit Verbänden
- in der Erhaltungsphase (nach Umfangsreduktion) mit Kompressionsstrümpfen
Bewegungstherapie
- Besonders sportliche Aktivitäten im Wasser sind effektiv (Schwimmen, Aqua-Jogging, Aqua-Aerobic, Aqua-Cycling), da durch den Auftrieb die Gelenke entlastet, durch den Wasserdruck eine Lymphdrainage bewirkt und durch Bewegung gegen den Wasserwiderstand Kalorien verbraucht werden.
Medikamentöse Therapie
- Es existiert keine effektive medikamentöse Therapie.
- Diuretika zur Beseitigung der Beinödeme werden nicht empfohlen.
- Es kommt zu einem Flüssigkeitsentzug des Interstitiums mit konsekutiv gesteigertem Proteingehalt und somit sekundär zu einer Verstärkung der Ödeme.
Operative Therapie
- Standardverfahren
- Liposuktion in örtlicher Betäubung
- Indikationen
- Progredienz von Befund (Unterhautfettvolumen) und/oder Beschwerden (Schmerzen, Ödem)
- Ergebnisse
- deutliche Reduktion von Ödemen, Hämatomneigung und Schmerzen
- Verbesserung der Lebensqualität
- Reduktion von mechanisch bedingten Hautschäden an den Oberschenkel- und Knieinnenseiten
- Besserung der Beweglichkeit und des Gangbildes sowie Reduktion des Risikos für weitere orthopädische Komplikationen infolge des Lipödem-assoziierten pathologischen Gangbildes (z. B. Gon- und Coxarthrosen)
- Verlauf
- Häufig sind mehrere Operationen im Abstand von zumindest 3 Monaten notwendig.
- Meist kann das Ausmaß der konservativen Therapie nach der Liposuktion deutlich eingeschränkt oder ganz eingestellt werden.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Chronisch-progredienter Verlauf, der Progress ist jedoch nicht vorhersehbar und individuell unterschiedlich.
- Eine begleitend bestehende Adipositas kann den Verlauf und das Beschwerdebild des Lipödems verschlechtern.
Komplikationen
- Dermatologische Komplikationen
- Lymphödem
- venöse Stase
- Ulcera cruris
- Über Scheuereffekte entstehen Gewebetraumatisierungen (chronisch irritative Dermatitis), über Okklusionseffekte in den Hautfalten Mazerationen und konsekutiv Infektionen.
- Orthopädische Komplikationen
- Die Wulstbildungen an den Oberschenkelinnenseiten führen zu einer Störung des Gangbildes mit Achsenfehlstellung der Beine und orthopädischen Komplikationen (vorwiegend Valgusgonarthrosen).
- Psychische Komplikationen
- verringertes Selbstwertgefühl, reaktive Depression
Prognose
- Während die konservative Therapie Symptome temporär lindern kann, wird bei der Liposuktion das erkrankte Gewebe entfernt, was zu einer nachhaltigen Symptomlinderung führen kann.
Verlaufskontrolle
- Bei begleitender Adipositas zu Ernährungsanpassung und Bewegung motivieren, regelmäßig Gewicht kontrollieren
- Evtl. Komplikationen (Lymphödem, Wunden, Durchblutungsstörungen) durch Hautinspektion überwachen
- Bei psychischen Auffälligkeiten Psychotherapie anbieten
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Die Ursache der Erkrankung ist unbekannt.
- Eine Gewichtsreduktion verringert die pathologischen Fettansammlungen nicht, eine begleitende Adipositas sollte jedoch vermieden werden.
- Die kombinierte physikalische Entstauungstherapie soll kontinuierlich durchgeführt werden.
- Bei therapierefraktären Beschwerden ist die Liposuktion eine Option mit guten langfristigen Ergebnissen.
Patienteninformationen in Deximed
Illustrationen

Lipödem der Unterschenkel
Quellen
Literatur
- Buck DW, Herbst KL. Lipedema: A relatively common disease with extremely common misconceptions. Plast Reconstr Surg Glob Open 2016; 4: e1043. pmid:27757353 PubMed
- Orphanet. Adipositas dolorosa. Stand 2008. Letzter Zugriff 17.11.2022. www.orpha.net
- Reich-Schupke S, Altmeyer P, Stücker M. Thick legs - not always lipedema. Review article. J Dtsch Dermatol Ges 2013; 11: 225-33. pmid:23231593 PubMed
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster