Akromegalie

Zusammenfassung

  • Definition:Chronische Erkrankung, die durch eine Hypersekretion von Wachstumshormon (GH) aus Hypophysenadenomen verursacht wird.
  • Häufigkeit:Selten, jährlich ca. 0,3–0,4 neue Fälle pro 100.000 Einw.
  • Symptome:Schleichende Krankheitsentwicklung mit u. a. Vergrößerung der Akren, Veränderungen von Gesichtsschädel und Kiefer, Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Schwitzen, Sehstörungen.
  • Befunde:Vergröberte Gesichtszüge, Vorstehen des Unterkiefers mit Malokklusion, vergrößerte Hände/Füße, verdickte Haut, Gewichtszunahme, Bluthochdruck.
  • Diagnostik:Laborchemisch erhöhter IGF-1-Spiegel, fehlende Suppression von GH im Glukosebelastungstest. Nachweis von Hypophysenadenomen mittels MRT.
  • Therapie:Überwiegend operative Therapie durch Resektion des Hypophysenadenoms. Medikamentöse Therapie, falls OP nicht möglich, oder bei unzureichendem Behandlungserfolg. Strahlenbehandlung als Drittlinienoption.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Chronische Erkrankung, die durch eine Hypersekretion von Wachstumshormon (GH = Growth Hormone) verursacht wird, zumeist aus Hypophysenadenomen.
  • Die durch GH stimulierte Überproduktion von Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1) führt zu einer multisystemischen Erkrankung mit zahlreichen klinischen Manifestationen.

Häufigkeit

  • Seltene Erkrankung
  • Prävalenz
    • ca. 5–10 Patient*innen pro 100.000 Einw.
  • Inzidenz
    • jährlich ca. 0,3–0,4 neue Fälle pro 100.000 Einw.
  • Alter
    • mittleres Alter bei Diagnose: 40–45 Jahre
    • Die Diagnose wird allerdings mit im Mittel ca. 7–10 Jahren Verzögerung gestellt.2
  • Geschlecht
    • Frauen zu Männern ca. 1:13

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologie

  • Häufigste Ursache (> 95 %) ist ein GH-sezernierendes Hypophysenadenom.1
    • GH-sezernierende Adenome machen ca. 8–16 % der hormonaktiven Hypophysenadenome aus.
  • Seltenere Ursachen (insgesamt < 5 %) sind:1
    • Überproduktion von GH-releasing Hormone (GH-RH) durch:
      • Hypothalamus-Tumor
      • Neuroendokrinen Tumor (Lunge, Pankreas).
    • ektope GH-Produktion durch abdominalen oder hämatopoetischen Tumor
    • hereditäre Erkrankungen

Pathogenese

  • GH ist in der Kindheit für das Längenwachstum verantwortlich, im Erwachsenenalter Abnahme der GH-Sekretion mit erhaltener metabolischer Wirkung (anabole Wirkung auf Protein- und Knochenstoffwechsel, lipolytische Wirkung).
  • Die Vermittlung der GH-Wirkung erfolgt über das Polypeptid IGF-1.4
    • ca. 80 % der IGF-1-Synthese in der Leber
    • außerdem Synthese in extrahepatischen Geweben (Knochen, Muskel, Nieren)
  • IGF-1-Rezeptoren werden ubiquitär exprimiert, sodass umfassende proliferative und metabolische Prozesse durch IGF-1 getriggert werden.4

Klinisches Bild

Zentrale Effekte durch Hypophysenadenom
  • ZNS
    • Kopfschmerzen, Visusverlust (bitemporale Hemianopsie), Hirnnervenausfälle (Hirnnerven III, IV, VI)
  • Hypophysenfunktion
    • gonadotrope Insuffizienz (Oligo-/Amenorrhö, Hitzewallungen, erektile Dysfunktion, Libidoverlust)
    • Hyperprolaktinämie (Galaktorrhö)
    • thyreotrope und kortikotrope Insuffizienz möglich, aber selten
Periphere Efekte durch GH/IGF-1-Überproduktion
  • Acromegaly_hands.jpg
    Akromegalie, vergrößerte Hände
    Bindegewebe/Haut
    • Hautverdickung, vergrößerte Hände und Füße, vergröberte Gesichtszüge, Nasenvergrößerung, hohe Stirn, verdickte Lippen, Makroglossie, Vertiefung der Stimme, Karpaltunnelsyndrom, Seborrhoe, Hyperhidrose
  • Zähne/Kiefer
    • Prognathie (Vorstand des Unterkiefers) und Makrognathie (Vergrößerung des Kiefers) mit Malokklusion, vergrößerter Zahnabstand
      Acromegalyteethgapping.jpg
      Akromegalie, typische Vergrößerung der Zahnabstände
  • Knochen/Gelenke
    • Gigantismus in Kindheit (vor Schluss der Epiphysenfugen), keine Veränderung der Körpergröße bei Erwachsenen, Gelenkbeschwerden durch hypertrophe Arthropathie (Knie, Knöchel, Hüfte, Wirbelsäule)
  • Organomegalie
    • Schilddrüse, Herz, Leber, Lungen, Nieren, Prostata
  • Kardiovaskulär
  • Atemwege
  • Gastrointestinal
  • Schilddrüse
  • Metabolisch

ICD-10

  • E22 Überfunktion der Hypophyse
    • E22.0 Akromegalie und hypophysärer Hochwuchs

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Verdacht auf Akromegalie durch Symptome und klinische Befunde
  • Diagnosestellung durch laborchemische Untersuchungen
    • IGF-1 im Serum (bei Akromegalie erhöht)
    • GH-Suppressionstest durch orale Glukosebelastung (bei Akromegalie GH nicht supprimierbar)
  • Tumornachweis durch eine MRT der Hypophysenregion

Differenzialdiagnosen

  • Familiär bedingter Hochwuchs
  • Konstitutionell vergröberte Akren

Anamnese

  • In der Regel langsame Symptomentwicklung mit mehrjähriger Latenz bis zur Diagnosestellung
  • Bei ca. 40 % der Patient*innen eher zufällige Diagnose durch behandelnde Ärzt*innen/Zahnärzt*innen oder bei Röntgenuntersuchungen
  • Mögliche Symptome bei Akromegalie:
    • Vergrößerung der Akren (86 %)
    • Veränderungen im Bereich des Kiefers und Gesichtsschädels (74 %)
    • Hyperhidrose (48 %)
    • Gelenkschmerzen (46 %)
    • Kopfschmerzen (40 %)
    • Symptome eines Hypogonadismus (38 %)
    • Sehstörungen (26 %)
    • Fatigue (26 %)
    • Körpergewichtszunahme (18 %)
    • Galaktorrhö (9 %).

Klinische Untersuchung

  • Blutdruck
  • Gewicht
    • Zunahme
  • Äußere Erscheinung
    • Gesichtszüge: vergröbert, hohe Stirn, verdickte Lippen
    • Kiefer, Zahnstellung, Zunge: vorstehender Unterkiefer mit Malokklusion, Zahnlücken, Makroglossie
    • Akren: vorstehende Augenbrauen und Wangenknochen, vergrößerte Nase, vergrößerte Finger/Hände und Zehen/Füße
  • Haut
  • Gelenke
    • Funktionseinschränkungen 
  • Augen
    • Gesichtsfeldeinschränkung
  • Schilddrüse
    • vergrößert
  • Neurologie
  • Psyche

Ergänzende hausärztliche Untersuchungen

Labor

  • IGF-1-Bestimmung als Screening-Untersuchung1 
    • Normwerte (Berücksichtigung altersentsprechender und assaybezogener Grenzbereiche) schließen eine Akromegalie mit hoher Sicherheit aus.
      • erhöhte IGF-I-Konzentrationen physiologischerweise besonders in der Pubertät und während der Schwangerschaft
    • Bei erhöhten IGF-1-Werten Veranlassung eines GH-Suppressionstests durch orale Glukosebelastung
  • Glukose, HbA1c
  • Gesamtcholesterin, LDL, Triglyzeride

EKG

LZ-EKG

  • Nachweis von Arrhythmien

Röntgen Schädel

  • Vergrößerung der Sella turcica bei großem Adenom
  • Knochenverdickungen

Diagnostik bei Spezialist*innen

Labor

  • Oraler Glokosebelastungstest mit 75g Glukose ist Goldstandard für den Nachweis bzw. Ausschluss einer Akromegalie2
    • Bestimmung der GH-Werte alle 30 min über 2 h nach Gabe von 75 g Glukose
    • Ausschluss bei GH-Spiegel < 1 μg/l1
  • Weitere Laborparameter bei Erstdiagnose eines Hypophysentumors5
    • Prolaktin
    • TSH, FT4, FT3
    • LH, FSH, Sexualhormone
      • bei prämenopausalen Frauen Östradiol
      • bei Männern Gesamt-Testosteron
    • morgendliches basales Kortisol
    • 1 mg Dexamethason-Hemmtest

MRT

  • Methode der Wahl zum Nachweis eines Hypophysenadenoms
  • MRT sensitiver als CT6

Echokardiografie

  • Nachweis einer linksventrikulären Hypertrophie, einer reduzierten linksventrikulären Funktion

Polysomnografie

Koloskopie

Elektrophysiologische Untersuchung

Augenärztliche Untersuchung

  • Bei Gesichtsfeldausfällen

Zahnärztliche/kieferorthopädische Untersuchung

  • Bei Kieferveränderungen, Zahnfehlstellung

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Krankheitsverdacht

Therapie

Therapieziele

  • Therapieziele sind:
    • Kontrolle der autonomen GH-Sekretion und des Hypophysentumorwachstums
    • Erhalt der hypophysären Funktion
    • Behandlung von Folgeerkrankungen

Allgemeines zur Therapie

  • In der Primärdiagnostik werden durch die Hausärzt*innen die Weichen für die nachfolgende interdisziplinäre Versorgung gestellt.5
  • Die Therapieplanung sollte dann durch ein in Hypophysenerkrankungen erfahrenes interdisziplinären Team erfolgen.5
    • obligat Endokrinologie, (Neuro-)Radiologie, Neurochirurgie
    • je nach Tumorgröße oder geplanter Intervention zusätzlich Ophthalmologie, (Neuro-)Pathologie, Strahlentherapie
  • Therapeutische Optionen sind:
    • Operation (transsphenoidale Adenektomie)
    • medikamentöse Therapie
    • Strahlentherapie.

Spezielle Therapie

Operation

  • Bei den meisten Patient*innen wird eine Adenomresektion als Primärtherapie empfohlen.1
  • Die wichtigste Determinante des Operationserfolgs ist die Erfahrung der Neurochirurg*innen.1
  • Der Eingriff kann mikrochirurgisch oder endoskopisch vorgenommen werden.5
  • Erfolgsrate (biochemische Kontrolle) liegt bei 80–90 % für Mikroadenome und 20-50 % für Makroadenome.

Medikamentöse Therapie

  • Eine medikamentöse Therapie erfolgt bei nicht operablen Patient*innen oder bei postoperativ nicht kontrollierter Akromegalie (erhöhte IGF-1-Spiegel).
  • Zur medikamentösen Behandlung werden verwendet:
    • Somatostatin-Analoga
    • Dopaminagonisten
    • GH-Antagonist.
Somatostatinanaloga
  • Somatostatin ist ein physiologischer Wachstumshormonhemmstoff
  • Klinisch angewendet werden bisher vorwiegend die Somatostatinanaloga:
    • Lanreotid 60–120 mg 1 x/Monat tief s. c.
    • Octreotid 20–40 mg 1 x/Monat i. m.
  • Zudem gibt es ein neueres Somatostatinanalogon:
    • Pasireotid 20–60 mg 1 x/Monat i. m.
  • Die Gabe von Somatostatinanaloga führt bei 80–95 % der Patient*innen zu einer Hemmung der Ausschüttung von Wachstumshormon.
  • Somatostatinanaloga und Dopaminagonisten können kombiniert werden.
Dopaminagonisten
  • Option insbesondere bei milder biochemischer Aktivität
  • Cabergolin 0,25–2 mg/Woche p. o.
  • Normalisierung von IGF-1 in ca. 30 % der Fälle
GH-Antagonist
  • Wirkt durch kompetetive Verdrängung von GH.
  • Pegvisomant 10–20 mg (off label bis 50 mg) 1 x/d s. c.
  • Normalisierung von IGF-I bei 80–95 % der Patient*innen

Bestrahlung

  • Gilt momentan als Drittlinientherapie.
    • Vor einer Bestrahlung sollte geprüft werden, ob die Erkrankung nicht ausschließlich medikamentös behandelt werden kann.
  •  Strahlentherapie kann erfolgen als:
    • fraktionierte Radiotherapie
    • stereotaktische Radiochirurgie (z. B. Gamma-Knife).
  • Die Auswahl zwischen den beiden Methoden ist abhängig vom:
    • Ausmaß der Läsion
    • Abstand zur Sehbahn.
  • Verzögerter Wirkungseintritt, daher Fortsetzung der medikamentösen Therapie in den ersten Monaten oder gar Jahren nach der Bestrahlung

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Häufige Komorbiditäten durch Akromegalie
  • Postoperative Komplikationen
    • Blutung, Meningitis, Liquorfistel jeweils < 1 %
    • Verletzung großer hirnversorgender Gefäße, Diabetes insipidus, Hypophysenvorderlappeninsuffizienz sehr selten

Verlauf und Prognose

  • Eine nicht ausreichend behandelte Akromegalie ist verbunden mit:
    • Verkürzung der Lebenserwartung durch Begleitkrankheiten um ca. 10 Jahre
    • eingeschränkter Lebensqualität.
  • Erhöhte Mortalität vorwiegend durch Kardiomyopathie mit Herzinsuffizienz und Rhythmusstörungen
  • Nach operativer Adenomentfernung kommt es bei > 90 % der Patient*innen zu  einer symptomatischen Besserung.
    • Mortalität der OP bei erfahrenen Operateur*innen deutlich < 0,5 %
  • Eine Remission kann durch Bestimmung des IGF-1-Spiegels 6 Wochen nach OP festgestellt werden.8

Verlaufskontrolle

  • Patient*innen mit Akromegalie benötigen eine lebenslange Nachsorge.
  • Laborchemische Kontrollen von IGF-1 und der Hormone der hypophysären Achse
  • Bildgebung: MRT 3-4 Monate nach OP, weitere Kontrollen je nach Heilungserfolg
  • Weitere Verkaufskontrollen im Hinblick auf:
    • kardiovaskuläres System (Blutdruck, EKG, Echokardiografie)
    • Glukosestoffwechsel, Lipidstoffwechsel
    • Schlafapnoe 
    • Schilddrüsenfunktion
    • maligne Erkrankungen (Koloskopie nach Diagnosestellung, Schilddrüse)
    • Bewegungsapparat (Gelenkfunktion, Osteoporose-Prävention)
    • neuropsychiatrische Störungen.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Acromegaly_prognathism.jpg
Prognathie und Makrognathie bei Akromegalie (Quelle: Wikipedia, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1a/Acromegaly_prognathism.JPEG)
Acromegaly_hands.jpg
Im Vergleich mit einer gesunden Person durch Weichteilverdickung vergrößerte Hand eines Patienten mit Akromegalie (Quelle: Wikipedia, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/47/Acromegaly_hands.JPEG)
Acromegalyteethgapping.jpg
Unterkiefer mit typischer Vergrößerung der Zahnabstände bei Akromegalie (Quelle: Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/Acromegaly#/media/File:Acromegalyteethgapping.jpg)

Quellen

Literatur

  1. Endocrine Society. Acromegaly Clinical Practice Guideline. Stand 2014. www.endocrine.org
  2. Zahr R, Fleseriu M. Updates in Diagnosis and Treatment of Acromegaly. European Endocrinology 2018; 14: 57-61. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Chanson P, Salenave S. Acromegaly. Orphanet J Rare Dis 2008; 3: 17. doi:10.1186/1750-1172-3-17 DOI
  4. Melmed S. Acromegaly pathogenesis and treatment. J Clin Invest 2009; 119: 3189-3202. doi:10.1172/JCI39375 DOI
  5. Jaursch-Hancke C, Deutschbein T, Knappe U, et al. The interdisciplinary management of newly diagnosed pituitary tumors. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 237-243. doi:10.3238/arztebl.m2021.0015 DOI
  6. Schwartz R. Gigantism and Acromegaly. Medscape, updated Jul 09,2020. Zugriff 12.03.22. emedicine.medscape.com
  7. Kauppinen-Mäkelin R, Sane T, Reunanen A, et al. Increased cancer incidence in acromegaly – a nationwide survey. Clin Endocrinol (Oxf) 2010; 72: 278-279. PubMed
  8. Fleseriu M, Biller B, Freda P, et al. A Pituitary Society update to acromegaly management guidelines. Pituitary 2021; 24: 1-13. doi:10.1007/s11102-020-01091-7 DOI

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i.Br.

Link lists

Authors

Previous authors

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit