Allgemeine Informationen
Definition
Allgemeine Definition des Brustschmerzes
- Brustschmerz bezeichnet eine Schmerzempfindung im weiteren Sinne (auch Brennen, Druckgefühl, Ziehen, Stechen, Missempfindung) im Bereich des vorderen und seitlichen Thorax.
Typische kardiale Brustschmerzen1
- Retrosternales Schmerz-, Druck- oder Schweregefühl („Angina“)
- Ausstrahlung in den linken Arm (seltener in beide Arme oder in den rechten Arm), den Hals oder den Kiefer
- Intermittierend (in der Regel mehrere Minuten anhaltend) oder persistierend
Ätiologie
- Häufigere Ursachen kardialer Brustschmerzen
- Seltenere Ursachen
Häufigkeit auf der hausärztlichen Versorgungsebene
- Kardialer Brustschmerz ist als Leitsymptom abhängig von der Versorgungsebene unterschiedlich häufig (hausärztliche Praxis, kardiologische Praxis, Notfallstation).
- Ursachen und Häufigkeit von kardialem Brustschmerz auf der hausärztlichen Versorgungsebene (Anteil aller Patient*innen mit Brustschmerz):
- chronische KHK 8–11 %
- akutes Koronarsyndrom 2–4 %
- hypertensive Krise 1–4 %
- Arrhythmien 1–2 %
- Lungenembolie < 0,5 %
- Aortenklappenstenose < 0,5 %
- Myo-/Perikarditis < 0,5 %
- Kardiomyopathie < 0,5 %
- Aortendissektion < 0,5 %.
Diagnostisches Vorgehen durch Hausärzt*innen
Dreistufiges Vorgehen bei der Abklärung eines Brustschmerzes
- Ersteinschätzung: Liegt eine vitale Bedrohung vor?
- Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines ACS/einer KHK
- Abklärung nicht-kardialer Ursachen
Ersteinschätzung: Vitale Bedrohung?
- Ersteinschätzung der Situation beruht auf:
- den Umständen der Konsultation
- dringlicher Hausbesuch
- ängstliche Angehörige
- dem ersten Eindruck von der Patientin/dem Patienten
- Bewusstseinszustand
- Atemnot
- Hautkolorit
- Angst
- der fokussierten Anamnese/Untersuchung
- (unmittelbar vorangegangene) Synkope oder Kollaps
- Kaltschweißigkeit
- hämodynamische Zeichen des Kreislaufversagens (Schockindex = Puls/syst. Blutdruck > 1).
- den Umständen der Konsultation
- Ggf. sind Maßnahmen der Erstversorgung bzw. lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen.
- lebensrettende Sofortmaßnahmen und symptomatische Therapie (siehe auch die Artikel Bewusstlosigkeit bei Erwachsenen, Kammerflimmern, Kardiogener Schock, Basic Life Support BLS, Advanced Life Support ALS)
- Überwachung entsprechend den Möglichkeiten
- Alarmierung des Rettungsdienstes – stationäre Einweisung
- EKG, wenn möglich
- weitere diagnostische Schritte nur, falls in der Situation möglich
Evaluation akutes Koronarsyndrom/KHK
- Bei nicht unmittelbar pathologischen Vitalparametern erfolgt die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von ACS/KHK als häufigster Ursache für einen abwendbar bedrohlichen Verlauf.
- Die Anamnese erfolgt primär hinsichtlich:
Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer stenosierenden KHK (Marburg-Herz-Score)
- Der Marburg-Herz-Score wurde für den allgemeinärztlichen Bereich entwickelt.
- Erfasst werden 5 Kriterien (jeweils 1 Punkt bei positivem Kriterium):
- Alter/Geschlecht (Männer ≥ 55 J. und Frauen ≥ 65 J.)
- bekannte vaskuläre Erkrankung
- Beschwerden belastungsabhängig
- Schmerzen durch Palpation nicht reproduzierbar
- Patient*in vermutet Herzkrankheit als Ursache.
- Wahrscheinlichkeit für stenosierende KHK:
- 0–2 Punkte: < 2,5 %
- 3 Punkte: ca. 17 %
- 4–5 Punkte: ca. 50 %.
- Bei der Interpretation sollte immer auch das klinische Gesamtbild berücksichtigt werden.
Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines akuten Koronarsyndroms (ACS)
- Bei Patient*innen mit mittlerer bis hoher Wahrscheinlichkeit für eine KHK (Marburg-Herz-Score > 2 Punkte) sollte die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines ACS beurteilt werden.
- Kriterien, die für ein ACS sprechen:
- neu aufgetretene Beschwerden in Ruhe
- Beschwerdedauer in Ruhe > 20 min
- Crescendo-Angina
- Patient*in ist anders als sonst.
- Patient*in „gefällt“ Ihnen nicht.
- Sie/er ist kaltschweißig.
- Sie/er ist blass.
- Kriterien, die gegen ein ACS sprechen:
- Der Thoraxschmerz ist nicht der eigentliche Beratungsanlass.
Psychosoziale Beurteilung
- Parallel zur somatischen Beurteilung sollte die Anamnese auch Grundlage für eine psychosoziale Einschätzung sein.
- Vermutungen der Patient*innen über die Ursache der Beschwerden?
- Beeinträchtigung im Alltag?
- Psychosoziale Einflussfaktoren?
- Familie, Beruf etc.
- Hinweise für psychische Erkrankungen (z. B. Depression, Angststörung)
Körperliche Untersuchung
- Untersuchung von Herz, Lunge und Brustwand
- Puls (Frequenz, Rhythmus)
- Blutdruck
- Herzgeräusch
- Extratöne
- Atemfrequenz
- Lungenstauung
- Reproduzierbarkeit des Schmerzes durch Palpation/tiefe Inspiration
- Weitergehende körperliche Untersuchung nur bei entsprechenden Hinweisen
- Untersuchung der Beine (Risikofaktoren für TVT, Herzinsuffizienz)
- Abdomen (abdomineller Schmerz bzw. Ausstrahlung ins Abdomen)
- periphere Pulse (Hinweise für Aortenaneurysma/-dissektion)
EKG
- Ruhe-EKG bei V. a. ACS
- hohe Spezifität (ACS bei ischämietypischen Veränderungen und entsprechender Klinik wahrscheinlich)
- niedrige Sensitivität (ein negatives EKG schließt ein ACS nicht aus!)
- initiales EKG mit Sensitivität von 20–60 %2
- weitere Informationen, z. B. Rhythmus, Hypertrophiezeichen
- Siehe auch Artikel EKG: Checkliste, EKG: Veränderungen von P-Welle, QRS-Komplex und ST-T-Segment, EKG: Rhythmus und Rhythmusstörungen.
Labor
- Evtl. Troponin-Schnelltest
- hohe Spezifität
- niedrige Sensitivität (Anstieg erst nach Stunden)
Evaluation nicht-kardialer Ursachen
- Siehe Artikel Nicht-kardiale bedingte Brustschmerzen und Brustschmerzen.
Maßnahmen in der Hausarztpraxis
Bei V. a. ACS
- Lagerung mit 30 Grad angehobenem Oberkörper
- Zugang i. v.
- Nach Eintreffen des Rettungswagens: Monitoring des Herzrhythmus und Sauerstoff (2–4 l/min), falls Atemnot oder andere Zeichen der Herzinsuffizienz
- ASS 500 mg i. v. oder oral, falls nicht bereits Dauermedikation
- Nitroglyzerin (Spray oder Kapsel s. l.), sofern RR syst. > 100 mmHg
- Bei starken Schmerzen Morphin 5 mg i. v.; ggf. wiederholt bis Schmerzfreiheit
- Bei (opiatbedingter) Übelkeit 10 mg Metoclopramid i. v. oder 62 mg Dimenhydrinat i. v.
- Heparin 5.000 IE i. v. oder Enoxaparin-Na, 1 mg/kg KG mg s. c. bei Vorliegen ischämiebedingter EKG-Veränderungen oder erhöhter Enzymmarker
- Bei Bradykardie < 45/min 1 Amp. Atropin 0,5 mg i. v.
- Einweisung in kardiologische Abteilung mit Katheterbereitschaft
Bei V. a. KHK
- Koordination durch die Hausärzt*innen abhängig von den regionalen Gegebenheiten
- Überweisung zur weiteren Abklärung an die Kardiologie – oder –
- Koordination der weiteren ambulanten Diagnostik bzw.
- eigene Durchführung von Teilen der ambulanten Diagnostik (Belastungs-EKG).
- Beratende Funktion der Hausärzt*innen: Aufklärung über verschiedene Möglichkeiten zur Abklärung
- Steuernde Funktion der Hausärzt*innen: Wahl eines bestimmten Verfahrens zur weiteren Abklärung und ggf. Überweisung an entsprechende Spezialist*innen
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
- Bei Verdacht auf ACS
- Bei V. a. andere Grunderkrankung mit abwendbar gefährlichem Verlauf
Weitere Abklärung im Krankenhaus
Chest Pain Units
- Eine weitere Verbesserung der Versorgung von Patient*innen mit akutem Brustschmerz soll durch die flächendeckende Einrichtung von sog. „Chest Pain Units“ erzielt werden.
- Ziel ist die rasche und zielgerichtete Abklärung eines akuten oder neu aufgetretenen unklaren Thoraxschmerzes.
- Nutzen in Bezug auf:
- Prognose
- Liegedauer
- Kosten.
- Nutzen in Bezug auf:
- Räumliche, apparative und personelle Voraussetzungen
- Integration in eine Notaufnahmeeinheit mit ständiger Verfügbarkeit von definierten Kapazitäten
- Leitung durch Kardiolog*innen
- mindestens 4 Überwachungsplätze
- Verfügbarkeit 365 Tage/24 h
- Herzkatheterlabor mit Verfügbarkeit 365 Tage/24 h
- enge Verzahnung mit Reanimations- und Notfallkonzept des Hauses
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinien
- European Society of Cardiology. Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation. Stand 2020. www.escardio.org
Literatur
- European Society of Cardiology. Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation, Stand 2020. www.escardio.org
- Speake D, Terry P. Towards evidence based emergency medicine: best BETs from the Manchester Royal Infirmary. First ECG in chest pain. Emerg Med J 2001; 18: 61-62. doi:10.1136/emj.18.1.61-a DOI
Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
- Stefan Bösner, Prof. Dr. med., MPH, DTM&H, Arzt für Allgemeinmedizin, Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, Marburg (Review)