Akute Alkoholintoxikation

Zusammenfassung

  • Definition:Die akute Alkoholintoxikation ist eine passagere exogene Psychose infolge einer akuten Zufuhr von Ethanol (C2H5OH).
  • Häufigkeit:Ca. 3 % der Notfälle.
  • Symptome:Die Symptome sind abhängig vom dem Grad der Vergiftung. Primär Enthemmung, mit steigendem Alkoholspiegel zunehmende Bewusstseinsstörung, schließlich Koma und respiratorische Insuffizienz.
  • Befunde:Neurologische Störungen (Bewusstsein, Sprache, Koordination), evtl. Folgen von Traumata.
  • Diagnostik:Bestimmung der Alkoholkonzentration im Blut.
  • Therapie:In den meisten Fällen nur Monitorung ohne spezifische Therapie; ggf. medikamentöse Behandlung eines Alkoholentzugsdelirs.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Als Alkoholintoxikation wird die Folge einer Einnahme der psychoaktiven Substanz Ethylalkohol (Syn. Ethanol, C2H5OH,) verstanden.
    • Formal kommen auch Intoxikationen mit anderen Alkoholen (Methanol, Ethylenglycol) infrage, üblicherweise ist die Ethanolintoxikation gemeint.  
  • Die akute Alkoholintoxikation ist eine passagere exogene Psychose infolge der akuten Alkoholzufuhr.

Häufigkeit

  • Ca. 3 % der Notfälle
  • Ca. 100–150 jährliche Behandlungsfälle pro 100.000 Einw.
  • Männliche Personen werden in fast allen Alters­gruppen (mit Ausnahme der 10- bis 14-Jährigen) häufiger stationär versorgt als weib­liche.
  • Bei beiden Geschlechtern seit Anfang des Jahrtausends Aufwärtstrend bei der Häufigkeit der Behandlungsfälle
  • In großen Notaufnahmen gehört die Alkoholintoxikation zu den 10 häufigsten Entlassdiagnosen.

Pathophysiologie

Aufnahme und Metabolismus von Ethanol

  • Rasche Diffusion von hydrophilem Ethanol durch Zellmembranen
  • Nach Aufnahme erfolgt die Absorption zum größten Teil in Magen (70 %) und Duodenum (25 %).
  • Maximale Blutalkoholspiegel 30–90 min nach Aufnahme
  • Ausscheidung zu geringem Teil über Lunge, Niere und Schweiß/Tränen
  • Metabolismus vorwiegend über Alkoholdehydrogenase in Magen und Leber
  • Abbau über Azetaldehyd und Azetat zu Kohlendioxid und Wasser
  • Eliminationsrate ca. 0,1 g/kg KG/h
  • Erhöhte Alkoholtoleranz durch Enzyminduktion bei chronischem Abusus
    • außerdem aufgrund genetischer Varianten von ADH Unterschiede in der Alkoholtoleranz (niedrige Toleranz z. B. bei aus Ostasien stammenden Personen)

Intoxikation

  • Die zerebralen Auswirkungen des Alkohols sind in erster Linie abhängig von der Alkoholkonzentration im Blut.
  • Das Ausmaß der Intoxikation wird somit vor allem von Dosis und Geschwindigkeit von Aufnahme und Metabolisierung bestimmt.
  • Weitere Faktoren, die das klinische Bild beeinflussen, sind Persönlichkeitsstruktur und körperliche Verfassung.
  • Bei einer Intoxikation kommt es mit ansteigender Konzentration zu einem stadienhaften Verlauf hinsichtlich der Gehirnfunktionen:
    • „Exzitation": stimulierende Wirkung mit Euphorie und Enthemmung
    • „Hypnose": zunehmende Einschränkung zerebraler Funktionen mit Verwirrtheit, Sprach- und Gangstörung
    • „Narkose": Bewusstseinseintrübung, Gefahr der Aspiration
    • „Asphyxie": Atemdepression, Koma
  • Die Temperaturregulation kann durch alkoholbedingte Vasodilatation beeinträchtigt sein (Hypothermie).
  • Mögliche assoziierte metabolische Veränderungen sind Hypoglykämie, Hyponatriämie (bei exzessivem Bierkonsum) und Hypomagnesiämie.
  • Beim „Binge Drinking“ erfolgt die Aufnahme so schnell, dass Übelkeit/Erbrechen als Schutzmechanismen nicht greifen und schnell ein komatöser Zustand auftreten kann.

ICD-10

  • T51 Toxische Wirkung von Alkohol
    • T51.0 Äthanol
  • F10 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol
    • F10.0 Akute Intoxikation
    • F10.1 Schädlicher Konsum
  • Y90 Blutprobendokumentation von Alkoholeinfluss
    • Y90.0 Blutalkoholspiegel von weniger als 20 mg/100 ml
    • Y90.1 Blutalkoholspiegel von 20-39 mg/100 ml
    • Y90.2 Blutalkoholspiegel von 40-59 mg/100 ml
    • Y90.3 Blutalkoholspiegel von 60-79 mg/100 ml
    • Y90.4 Blutalkoholspiegel von 80-99 mg/100 ml
    • Y90.5 Blutalkoholspiegel von 100-119 mg/100 ml
    • Y90.6 Blutalkoholspiegel von 120-199 mg/100 ml
    • Y90.7 Blutalkoholspiegel von 200-239 mg/100 ml
    • Y90.8 Blutalkoholspiegel von 240 mg/100 ml oder mehr
    • Y90.9 Blutalkoholspiegel, nicht spezifiziert
  • Y91 Blutalkoholspiegel, bei klinischer Untersuchung bestimmt
    • Y91.0 Leichter Alkoholeinfluss
    • Y91.1 Mäßiger Alkoholeinfluss
    • Y91.2 Bedeutender Alkoholeinfluss
    • Y91.3 Schwerwiegender Alkoholeinfluss
    • Y91.9 Alkoholeinfluss INA

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Anamnestische Hinweise und klinische Anzeichen einer Alkoholintoxikation
  • Bestätigung durch Messung der Ethanolkonzentration im Blut

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Trotz der häufig erschwerten Bedingungen muss auch bei alkoholisierten Patient*innen eine gründliche Anamnese und Befunderhebung erfolgen.

Anamnese bzw. Fremdanamnese

  • Akute Intoxikation
    • Wie viel Alkohol wurde aufgenommen?
    • Welche Art und Menge von alkoholischem Getränk?
    • Einnahme weiterer Substanzen (Drogen, Medikamente)?
    • Beginn und Zeitraum der Aufnahme?
    • Trauma im Rahmen der Intoxikation?
    • Länger dauernde Exposition gegenüber Kälte oder Sonnenstrahlung/Hitze?
    • Erbrochen?
    • Krampfanfall?
  • Allgemeine Anamnese nach dem SAMPLE-Schema
    • Symptoms
    • Allergies
    • Medication
    • Past medical history
    • Last oral intake
    • Events prior to incident
  • Anamnese zur sozialen Situation

Klinisches Bild und körperliche Untersuchung

  • Bei Erstkontakt Gewinnung eines ersten Eindrucks, ungefähre Schweregradbeurteilung der Intoxikation
  • Aufgrund der individuell stark unterschiedlichen Toleranzentwicklung besteht allerdings nur eine lose Korrelation zwischen Blutalkoholspiegel und klinischer Symptomatik.
  • Folgende Stadien können in etwa unterschieden werden:

Stadieneinteilung der Alkoholintoxikation (Alkoholwirkungsskala)

  • Leichter Rausch, „Exzitation“ (Blutalkoholspiegel bis 1 ‰)
    • psychomotorische Leistungsfähigkeit vermindert
    • Enthemmung
    • Stimulation
    • vermehrte Kontaktbereitschaft
    • vermehrter Rede- und Tätigkeitsdrang
    • verminderte Selbstkontrolle
  • Mittelgradiger Rausch, „Hypnose“ (Blutalkoholspiegel 1–2 ‰)
    • Euphorie oder aggressive Gereiztheit
    • verminderte Selbstkritik
    • starke Abhängigkeit des Verhaltens von der äußeren Situation
    • primitive, explosive Reaktionsweisen
    • Sprachstörung
    • Gangstörung
    • Benommenheit
  • Schwerer Rausch, „Narkose“ (Blutalkoholspiegel > 2‰)
    • motivationslose Angst und Erregung
    • Desorientiertheit
    • zunehmende Bewusstseinsstörung
  • Lebensbedrohlicher Rausch, „Asphyxie“ (Blutalkoholspiegel > 3 ‰)
    • Atemdepression
    • Koma
    • Lebensgefahr

Körperliche Untersuchung, Bestimmung der Vitalparameter

  • Zügige Untersuchung nach dem ABCDE-Schema, insbesondere bei schwerer/lebensbedrohlicher Intoxikation
    • Airway
    • Breathing
    • Circulation
    • Disability (neurologischer Status)
    • Exposure (Entkleiden für körperliche Untersuchung, Verletzungszeichen?)
  • Körpertemperatur bestimmen.

Weitere Diagnostik

Labor

  • Allgemeines Labor
  • Alkoholkonzentration im Serum
    • Bei Laborwert des Alkoholspiegels in g/l erfolgt die Errechnung auf den Promillewert mit dem Umrechnungsfaktor 1,23 (z. B. Alkoholkonzentration 3,0 g/l entspricht 2,4 ‰)
  • Bei V. a. Mischintoxikation Screening-Untersuchung in Blut und Urin
  • Blutgasanalyse

Bildgebung

  • Je nach klinischem Befund Indikationsstellung zur Bildgebung mit konventionellem Röntgen und/oder CT
  • Insbesondere großzügige Indikationsstellung zur Schädel-CT bei V. a. Hirnverletzung oder V. a. primäre neurologische Erkrankungen

Monitoring

  • Bis zum Erreichen eines klaren Bewusstseins sollten Kreislauf und Respiration am Monitor überwacht werden.
  • Zudem sollten wiederholte körperliche Kontrolluntersuchungen mit Beurteilung der Aufwachreaktion durchgeführt werden.
  • Bodennahe Lagerung zur Vermeidung von Verletzungen

Indikationen zur Einweisung

  • Auf jeden Fall bei vitaler Gefährdung mit Notwendigkeit der Überwachung oder Intensivpflichtigkeit
  • Im übrigen gibt es bei Patient*innen mit Alkoholintoxikation derzeit keine Leitlinien hinsichtlich Aufnahmekriterien in eine Notaufnahme (oder auch zur Entlassfähigkeit).

Therapie

Therapieziele

  • Überwachung der Patient*innen bis zur Normalisierung des Alkoholspiegels
  • Behandlung von intoxikationsbedingten Komplikationen

Allgemeines zur Therapie

  • Primär supportive Therapie, häufig sin über die Überwachung hinaus keine therapeutischen Maßnahmen erforderlich.
  • Bei selten auftretender Hypoglykämie Infusion von Glukoselösung
  • Bei chronischer Alkoholabhängigkeit Gabe von Vitamin B1 (Thiamin)
  • Bei Hypomagnesiämie Substitution
  • Bei agitierten, aggressiven Patient*innen evtl. vorsichtige Gabe von Neuroleptika (z. B. Haloperidol)
  • Tetanusauffrischimpfung im Rahmen einer Wundversorgung

Alkoholentzugssyndrom/Delir

  • Bei ca. 3–5 % der alkoholanhängigen Personen entwickelt sich ein schweres Alkoholentzugssyndrom (Delir).
    • Tremor, Tachykardie, Hypertonie, Schwitzen, Angst, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit
  • Zur Behandlung stehen verschiedene Substanzgruppen zur Verfügung:,
    • Benzodiazepine
      • Diazepam
      • Oxazepam
      • Lorazepam
      • Midazolam
    • Chloridiazepoxid
    • Clomethiazol
    • Clonidin
    • Haloperidol

Entlassung

  • Bislang gibt es keine genaue medizinische und juristische Definition der Entlassfähigkeit.
  • Schwierig ist insbesondere der nicht seltene Wunsch nach Entlassung gegen ärztlichen Rat.
  • In dieser Situation sind notwendig:
    • eine Prüfung der Einwilligungsfähigkeit
      • Fähigkeit der Patient*innen, auf der Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung der Situation eine Entscheidung eigenständig treffen zu können.
    • Risikoabschätzung und Aufklärung (Sicherheitsaufklärung) vor allem hinsichtlich:
      • Unfällen
      • Entzugskomplikationen
      • Suizidalität
      • Fremdgefährdung (z. B. durch aggressives Verhalten)
  • Besonders wichtig sind eine gewissenhafte Dokumentation von klinischem Zustand und medizinischen Maßnahmen (oder deren Ablehnung) im Verlauf sowie der Aufklärung der Patient*innen.

Maßnahmen nach Entlassung

  • Im überwiegenden Teil der Fälle erfolgt eine Entlassung ohne weitere Anbindung.
  • Wünschenswert wäre ein Paradigmenwechsel mit Hilfs- und Therapieangeboten durch ein interdisziplinäres Team.
    • Notfallmediziner*innen
    • Hausärzt*innen
    • Suchttherapeut*innen
  • Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist nach Intoxikation eine psychologische Erstintervention sinnvoll zur Vermeidung einer Entwicklung in Richtung Alkoholabhängigkeit und psychischer Störungen.  

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Verlauf und Prognose

  • Primär alkoholintoxikierte Patient*innen mit zumeist mittelschwerer bis schwerer Bewusstseinsstörung haben insgesamt ein niedriges klinisches Risiko und erholen sich in der Regel komplikationslos.
  • Wichtig sind hohe Versorgungsstandards (wiederholte körperliche Untersuchung, Laborscreening, Monitoring, ggf. Bildgebung) zur Erkennung bzw. Vermeidung der eher seltenen schwerwiegenden Komplikationen.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

 

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.

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