Zusammenfassung
- Definition:Stellenweiser Haarausfall, vermutlich autoimmunbedingt, der genetisch veranlagt auftreten kann. Stress und Umweltfaktoren können auslösend wirken.
- Häufigkeit:Lebenszeitrisiko 1–2 %. Beide Geschlechter sind betroffen. Auftreten eher in jüngeren Jahren.
- Symptome:Beginn mit einer oder mehreren münzgroßen haarlosen Stellen, die im Laufe einiger Wochen schrittweise größer werden. Die Erkrankung variiert im Umfang und kann die gesamte Körperbehaarung betreffen.
- Befunde:Stellenweiser Haarausfall ohne Anzeichen einer Entzündung oder anderer Veränderungen. Der Nachweis von Haaren mit Ausrufezeichen-Form ist diagnostisch (pathologische Stummelhaare, befinden sich im Randbereich der Läsion, nach unten dünner werdende Haare).
- Diagnostik:Probenentnahme und Tests sind nur bei diagnostischer Unsicherheit indiziert.
- Therapie:Bei ca. der Hälfte der Patient*innen wachsen die Haare innerhalb von 6–12 Monaten wieder nach, v. a. bei kleinen Befunden; Rezidive jedoch sehr häufig. Bei gering ausgeprägten Formen kann die Spontanremission abgewartet werden. Eine medikamentöse Behandlung mit starkwirksamen Kortikosteroiden unter Okklusionsbehandlung ist möglich.
Allgemeine Informationen
Definition
- Rasch auftretende Alopezie, zunächst meist kreisrund („kreisrunder Haarausfall“, zentrifugale oder multilokuläre Ausbreitung
- Erkrankung der Haarfollikel, wahrscheinlich autoimmun bedingt
- Das Ausmaß der Erkrankung reicht von kleinen haarlosen Patches, die an jeder behaarten Stelle auftreten können, bis zum vollständigen Verlust der Haare auf dem Kopf, an den Augenbrauen, den Augenlidern und am Körper.
- Alopecia totalis: vollständiger Verlust des Kopfhaares
- Alopecia universalis: Verlust der gesamten Körperbehaarung
- Entsteht oft schon in jungen Jahren und kann eine Belastung für das Selbstwertgefühl und die Lebensqualität sein.
Häufigkeit
- Dritthäufigster Haarausfall nach der androgenetischen Alopezie und diffuser Alopezie
- Lebenszeitinzidenz ca. 2 %
- Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.1
- Die Erkrankung kann in jedem Alter auftreten, kommt aber am häufigsten bei Menschen zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr vor.
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Nicht geklärt, am ehesten Autoimmunerkrankung
- Wahrscheinlich handelt sich um eine T-Zellen-abhängige Autoimmunerkrankung, die sich gegen die Haarfollikel richtet.
- Sie entsteht bei genetisch prädisponierten Personen.
- Auslösende Faktoren
- Umweltfaktoren (u. a. Infektionen) und psychischer Stress werden vermutet.
- Ein Zusammenhang besteht zwischen Alopecia areata und Vitamin-D-Mangel.
- Ob der Zusammenhang kausal ist, ein auslösender Effekt ist oder nicht, ist nicht geklärt.2
- Genetische Disposition
- Genetische Komponenten: betreffen Störungen von Signalwegen der Autophagie/Apoptose sowie der Janus-Kinasen (JAK).3
- Bei frühem Beginn ist auch ein erhöhtes Auftreten in der Familie verzeichnet.
Pathophysiologie
- Histologisch zeigt sich im untersten Anteil der Haarfollikel eine dichte Infiltration von Lymphozyten und anderen Immunzellen.
- Vorwiegend zytotoxische T-Lymphozyten bzw. Zytokine (Interferon-γ, Interleukin-2, Interleukin-15-Rezeptor-β)
- Diese schädigen den Haarfollikel reversibel, das Haar fällt aus.
- Einzelne Haare werden dystrophisch und brechen ab.
- sog. Ausrufezeichenhaare (am dünnsten am Haaransatz)
- in der Peripherie der haarlosen Stellen
- Forschung an Mäusen hat gezeigt, dass die Zerstörung der Haarfollikel durch die T-Zellen von Janus-Kinasen (JAK) abhängig ist – dies kann die Grundlage für eine Therapie mit sog. JAK-Hemmern sein.4
Prädisponierende Faktoren
- Andere Autoimmunerkrankungen, z. B.:
ICPC-2
- S23 Haarausfall/Kahlheit
ICD-10
- L63 Alopecia areata
- L63.0 Alopecia (cranialis) totalis
- L63.1 Alopecia universalis
- L63.2 Ophiasis
- L63.8 Sonstige Alopecia areata
- L63.9 Alopecia areata, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinische Diagnose
- schnelles Einsetzen der Haarlosigkeit
- typische klinische Befunde:
- kreisrunder Haarausfall
- keine Anzeichen von Entzündungen oder anderen Veränderungen der Haut, eine helle und gänzlich reaktionslose Kopfhaut
- keine Narben.
- Pathognomonische Anzeichen: dermatoskopischer Nachweis von Haaren mit Ausrufezeichen-Form im Randbereich der Läsion5
Differenzialdiagnosen
- Tinea capitis
- Gewöhnliche Kahlköpfigkeit, androgenetische Alopezie
- Diskoider Lupus erythematodes
- Nervöses Ausrupfen der Haare (Trichotillomanie)
- Medikamenteninduzierte Alopezie
- z. B. als Folge von Vitamin A, Retinoiden, antimitotischen Arzneimitteln, Antikoagulanzien, antithyreoidalen Arzneimitteln, oralen Kontrazeptiva, Allopurinol, Propranolol, Indometacin, Amphetaminen, Salizylaten, Gentamicin oder Levodopa
- eine reversible Erkrankung
- Vernarbende Alopezien
Anamnese
- Beginn mit einer oder mehreren münzgroßen haarlosen Stellen, die im Laufe einiger Wochen schrittweise größer werden.
- Kann auch Bart, Augenbrauen und Augenlider miteinbeziehen.
- Vereinzelt können der gesamte Schädel und die Körperbehaarung betroffen sein.
- Erfragung weiterer Autoimmunerkrankungen
Klinische Untersuchung
- Stellenweiser Haarausfall, wobei die Fläche kreisförmig ist, völlig glatt und ohne Narbenbildung.
- Es sind kleine, 2–3 mm lange Härchen zu erkennen.
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Eine Messung des Vitamin-D-Status wird empfohlen, da ein großer Teil der Patient*innen Vitamin-D-Mangel hat und von einer Supplementierung profitieren kann.2
- Bei anamnestischen oder klinischen Hinweisen ggf. Abklärung weiterer Autoimmunerkrankungen
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Meist aufgrund des typischen klinischen Befundes ist keine weitere Diagnostik notwendig.5
- Trichoskopie – dermatoskopische Untersuchung der betroffenen Region
- „Ausrufezeichenhaare“ (am dünnsten am Haaransatz)
- abgebrochene Haare
- gelbe und schwarze Punkte5
- Bei nicht sicherer Diagnose zur differenzialdiagnostischen Abklärung
- Pilzkultivierung
- Punktionsbiopsie
Indikationen zur Überweisung
- Wenn es zu keiner Spontanemission kommt und eine Therapie eingeleitet werden soll.
- Bei Alopecia totalis oder Alopecia universalis ist es sinnvoll, an eine dermatologische Praxis zu überweisen.
- Bei einer Alopezie im Bereich des Gesichts kann es ebenfalls angebracht sein, an eine fachärztliche Praxis zu überweisen, wenn eine Injektionstherapie in Betracht gezogen wird.
Therapie
Therapieziele
- Den Leidensdruck der Betroffenen senken.
- Über häufige Spontanremission aufklären.
- Bei refraktärer Erkrankung ggf. medikamentöse Behandlung
Allgemeines zur Therapie
- Bei knapp 50 % der Patient*innen wächst das Haar spontan innerhalb eines Jahres wieder vollständig nach.5
- jedoch hohe Rezidivneigung
- In einigen Fällen ist die Erkrankung dauerhaft.
- Ein abwartendes Verhalten ist neben der Aufklärung berechtigt und empfohlen.
Empfehlungen für Patient*innen
- Aufklärung über die hohe Spontanheilungsrate
- Exponierte Kopfhaut sollte gegen eine Schädigung durch Sonneneinstrahlung geschützt werden.
- Beim Verlust der Wimpern können Brillen die Augen gegen das Eindringen von Schmutzpartikeln schützen, vor allem im Freien.
Medikamentöse Therapie
- 1. Wahl: stark wirksame topische Kortikoide
- Deutlichere Effekte im Halbseitenversuch wurden nach Einsatz von sehr starken Kortikosteroiden in Salbenform mit Okklusionsbehandlung gesehen.6
- alternativ intraläsionale Injektion von Triamcinolon-Kristallen
- NW: lokale Hautatrophie
- Alternative: Therapie mit systemischen Kortikosteroiden5
- Kann im Einzelfall hilfreich sein.
- Typische systemische Nebenwirkungen von Kortikosteroiden können auftreten.
- hohe Rezidivrate
- Weitere Therapien
- topische Immuntherapie mit Diphenylcyclopropenon oder Quadratsäure-Dibutylester7
- Ansprechraten zw. 9 % und 87 %5
- TNF-alpha-Antagonisten
- Unwirksam bzw. können sogar eine Alopecia areata induzieren; keine Empfehlung.7
- Bei Kindern kann die orale Gabe von Zink versucht werden, wobei es keine genauen Angaben zur empfohlenen Dosis gibt.
- Vitamin-D-Supplementierung
- Wenn Vitamin-D-Mangel nachgewiesen wurde (unsicher, ob dies den Verlauf der Hauterkrankung beeinflusst).2
- Minoxidil Haarlösung
- Anprechraten zwischen 0–40 % der Patient*innen.
- möglicherweise besonderer Effekt bei der Verhinderung eines Rückfalls nach erfolgreicher Behandlung mit Steroiden
- Kein sicherer Anhaltspunkt, dass die topische Anwendung von Minoxidil langfristig anhält.
- JAK-Hemmer (Januskinase-Inhibitoren)8
- Hoffnungen gibt es derzeit bei Januskinase-Inhibitoren, vor allem bei topischer Anwendung.
- Baricitinib ist für die Indikation schwere Alopecia areata bei Erwachsenen zugelassen.
- Nebenwirkungen: schwere Infektionen, venöse Thromboembolien, schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse, Krebserkrankungen, erhöhte Mortalität
- Hohe Kosten müssen selbst getragen werden, gilt als Life-Style-Arzneimittel.
- Therapieversuch grundsätzlich vertretbar bei Patient*innen mit einer jahrelang bestehenden Alopecia areata ohne Besserung in den letzten 6 Monaten, bei Versagen von Standardtherapien, wenn Perücken keine zufriedenstellende Lösung bieten, und bei großem Leidensdruck.
- topische Immuntherapie mit Diphenylcyclopropenon oder Quadratsäure-Dibutylester7
Weitere Behandlungsmethoden
- PUVA, Psoralen plus UV-A-Licht
- fehlende Evidenz für eine Empfehlung
- Weitere Verfahren, bei denen jedoch ebenso keine ausreichende Evidenz vorliegt:
- Reiztherapie mit Dithranol, 308-nm-Excimer-Laser.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Der Verlauf variiert stark, knapp die Hälfte der Patient*innen wachsen die Haare innerhalb von 6–12 Monaten spontan wieder nach.5
- Das Nachwachsen dauert in der Regel mehrere Monate.
- Im nachgewachsenen Haar sind Pigmentveränderungen möglich.
- Eine Remission tritt am häufigsten bei kleinen Veränderungen ein.
- Rezidive sind häufig, vermutlich erleben mehr als 80 % der Patient*innen einen Rückfall.
- Verlauf und die Dynamik sind individuell sehr unterschiedlich. Varianten:
- einmalig auftretender kleiner Herd mit Spontanremission
- ein Nebeneinander von wieder zuwachsenden und neu entstehenden Alopezie-Arealen
- multiple größere Herde, oft konfluierend und Jahre persistierend
- viele Jahre bestehende völlige Haarlosigkeit.
Prognose
- Etwa 50–80 % der Patient*innen sind nach 1 Jahr erscheinungsfrei und ohne Beschwerden.7
- Faktoren, die die Prognose verschlechtern:
- Beginn vor der Pubertät
- ausgeprägte Symptome, total oder universal
- länger als 1 Jahr andauernd
- Beteiligung der peripheren Teile der Kopfhaut
- Nagelbeteiligung (Tüpfel- und Sandpapiernägel)
- atopische Dermatitis und Autoimmunerkrankungen
- positive Familienanamnese.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Illustrationen
Alopecia areata
Alopecia areata
Alopecia areata
Alopecia totalis
Alopecia areata unter dem Kinn
Quellen
Literatur
- Mounsey AL, Reed SW. Diagnosing and treating hair loss. Am Fam Physician 2009; 80: 356-62. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Cerman AA, Solak SS; Altunay IK. Vitamin D defieciency in alopecia areata. Br J Dermatol 2014. doi:10.1111/bjd.12980 DOI
- Betz RC, Petukhova L, Ripke S, et al.: Genome-wide meta-analysis in alopecia areata resolves HLA associations and reveals two new susceptibility loci. Nat Commun 2015; 6: 5966. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Xing L, Dai Z, Jabbari A, Cerise JE, Higgins CA, Gong W, de Jong A, Harel S, DeStefano GM, Rothman L, Singh P, Petukhova L, Mackay-Wiggan J, Christiano AM, Clynes R. Alopecia areata is driven by cytotoxic T lymphocytes and is reversed by JAK inhibition. Nat Med. 2014 Sep;20(9):1043-9. doi: 10.1038/nm.3645. Epub 2014 Aug 17. PMID: 25129481; PMCID: PMC4362521. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Darwin E, Hirt PA, Fertig R, Doliner B, Delcanto G, Jimenez JJ. Alopecia Areata: Review of Epidemiology, Clinical Features, Pathogenesis, and New Treatment Options. Int J Trichology. 2018 Mar-Apr;10(2):51-60. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Tosti A, Bellavista S, Iorizzo M. Alopecia areata: a long term follow-up study of 191 patients. J Am Acad Dermatol 2006; 55: 438–41. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Messenger AG, McKillop J, Farrant P, McDonagh AJ, Sladden M: British Association of Dermatologists’ guidelines for the management of alopecia areata 2012. Br J Dermatol 2012; 166: 916–26. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Xing L, Dai Z, Jabbari A, et al.: Alopecia areata is driven by cytotoxic T lymphocytes and is reversed by JAK inhibition. Nat Med 2014; 20: 1043–9. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Autor*innen
- Franziska Jorda, Dr. med, Fachärztin für Viszeralchirurgie, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Kaufbeuren