Androgenetische Alopezie

Zusammenfassung

  • Definition:Die häufigste Form von Haarausfall ist die androgenetische Alopezie.
  • Häufigkeit:Bei bis zu 80 % der Männer und 40 % der Frauen. Beginn und Progressionsgeschwindigkeit variieren stark.
  • Symptome:Zunehmende „Geheimratsecken“, die nach hinten wandern, und zunehmende Hinterhauptglatze. Bei Frauen dünnt eher der Scheitel aus.
  • Therapie:Bei bestehendem Behandlungswunsch Beginn der Therapie frühzeitig,solange sich noch Haare auf der Kopfhaut befinden. Therapieformen der 1. Wahl sind die systemische Behandlung mit Finasterid (nur bei Männern) oder lokale Behandlung mit Minoxidil.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Die häufigste Form von Haarausfall ist die androgenetische Alopezie (AGA).1
    • Begrifflich unterscheidet man verstärkten Haarausfall (Effluvium) von sichtbarer Haarlosigkeit (Alopezie).2
  • Die androgenetische Alopezie zeigt sich in der Regel bei Frauen durch Schütterkeit im Mittelscheitel und bei Männern durch Haarverlust im Bereich der Schläfen („Geheimratsecken“) und des Haarwirbels.2
  • Diese kann mit negativen psychischen Auswirkungen verbunden sein, die das Selbstwertgefühl, Depressionen und Unzufriedenheit mit dem eigenen Erscheinungsbild betreffen.3

Häufigkeit

  • Die androgenetische Alopezie ist die häufigste Form des Haarausfalls.
  • In der Regel nehmen Häufigkeit und Schwere mit dem Alter zu.
    • Der Beginn kann sich bereits im Teenageralter zeigen.
    • Der Zeitpunkt, zu dem der Prozess beginnt, variiert stark.
  • Die höchste Prävalenz liegt in der europäischen Bevölkerung.
  • Im Alter ab 70 Jahren leiden 80 % der Männer und etwa 40 % der Frauen unter einer androgenetischen Alopezie.2

Grundlagen des Haarwachstums

  • Jeder Mensch hat um die 100.000 Kopfhaare, die normalerweise unabhängig voneinander wachsen.
  • Jeder Haarfollikel durchläuft immer wieder Phasen des Wachstums und der Ruhe.
    • Die Wachstums- oder Anagenphase dauert 2–6 Jahre.
      • Dabei wächst das Haar mit einer Geschwindigkeit von etwa 0,3 mm pro Tag oder 1 cm pro Monat.
      • Von der Dauer der Anagenphase ist die max. Haarlänge abhängig.
    • Nach einer kurzen Übergangsphase (Katagen) kommt eine 2- bis 4-monatige Ruhephase, das Telogen, bevor das Haar schließlich ausfällt.
  • Durch innere oder äußere Einflussfaktoren kann ein synchronisiert vorzeitiger Übergang der Haarfollikel vom Anagen ins Telogen vorkommen und so nach 2–4 Monaten einen spürbar stärkeren Haarausfall auslösen.
    • z. B. durch Hormone, Wachstumsfaktoren, Medikamente und Jahreszeiten

Ätiologie und Pathogenese

  • Androgenetische Alopezie wird durch eine genetisch bedingte erhöhte Empfindlichkeit der Haarfollikel gegenüber Androgenen verursacht.
    • Hierbei ist vor allem das durch das Enzym 5-alpha-Reduktase aus Testosteron gebildete Dihydrotestosteron (DHT) entscheidend, das Gene aktiviert, die für die Reduzierung der Größe der betroffenen Haarfollikel verantwortlich sind.
    • Dabei scheint die Sensibilität der Haarfollikel gegenüber normwertig zirkulierenden Androgenen genetisch bedingt erhöht zu sein, die Androgenspiegel im Blut sind in der Regel normwertig.
  • Aktuell geht man bei der androgenetischen Alopezie von einem polygenen Erbgang aus. Der Androgenrezeptor wird auf dem X-Chromosom vererbt, was auf den mütterlichen Einfluss bei der androgenetischen Alopezie hinweist.4
  • Histologisch beobachtet man eine fortschreitende Verkleinerung von Terminalhaarfollikeln in genetisch prädisponierten Kopfhautarealen, eine Verkürzung der Wachstumsphasen und verminderte Haarschaftdicken.2
  • Zur androgenetischen Alopezie bei Frauen gibt es nur wenige verfügbare Daten, aber auch hier klare Hinweise auf genetische Einflüsse.2

ICPC-2

  • S23 Haarausfall/Kahlheit
  • Z27 Angst vor sozialen Problemen

ICD-10

  • L63 Alopecia areata
    • L63.0 Alopecia totalis
    • L63.1 Alopecia universalis
    • L63.2 Ophiasis
    • L63.8 Sonstige Alopecia areata
    • L63.9 Alopecia androgenita, nicht näher bezeichnet
  • L64 Alopecia androgenetica
    • L64.0 Arzneimittelinduzierte Alopecia androgenetica
    • L64.8 Sonstige Alopecia androgenetica
    • L64.9 Alopecia androgenetica, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

  • Bei Männern: Bei typischem klinischem Befund ist keine weiterführende Labordiagnostik erforderlich. Die Diagnose wird klinisch gestellt.
  • Bei Frauen: Die Labordiagnostik hängt von der Anamnese und klinischen Untersuchung ab. Bei Hinweisen auf hormonelle Dysregulation (Akne, Hirsutismus) sollte eine gynäkologisch-endokrinologische Untersuchung erfolgen.2
  • Inspektion
    • Die androgenetische Alopezie zeigt typische Haarausfallsmuster (siehe Abbildungen unten):
      • der männliche Typ mit Geheimratsecken und Lichtung im Bereich der Tonsur (Klassifikation Norwood-Hamilton) 
      • der weibliche Typ mit Mittelscheitel-Lichtung (Ludwig-Klassifikation).2
  • Nur bei unklarem Bild ggf. Überweisung an Dermatologie
    • Dermatoskopie 
    • Haarzugtest
    • Tricho(rhizo)gramm2

Therapie

Therapieziele

  • Den Haarausfall reduzieren.
  • Wachstum neuer Haare

Allgemeines zur Therapie

  • Die Entscheidung über eine Behandlung sollte von Ärzt*in und Patient*in gemeinsam erfolgen unter Berücksichtigung des persönlichen Leidensdruckes, der Nebenwirkungen und Therapiekosten.1,5
  • Die Behandlung verlangsamt eine physiologische Entwicklung oder kehrt diese um; die Wirkung tritt nur ein, wenn die Behandlung fortgeführt wird. Ein Ende der Behandlung führt nach einigen Monaten zu erneutem Haarausfall.
  • Es gibt bislang keine Medikamente, die bewirken, dass auf einem kahlen Kopf wieder Haare wachsen.
    • Die Behandlung muss daher frühzeitig beginnen; um die Wirkung zu erhalten, muss die Behandlung fortgesetzt werden.

Medikamentöse Therapie

  • Finasterid
    • Selektiver 5-alpha-Reduktasehemmer
    • Mit einer Dosierung von 1 mg/d in Deutschland bei Männern zwischen 18 und 41 Jahren zur Therapie der AGA zugelassen.2
    • Die topische Applikation von 1 % Finasterid Gel führt zu ähnlichen Ergebnissen wie die orale Anwendung.1
    • in höherer Dosierung (5 mg) erweiterte Zulassung zur Therapie der benignen Prostatahypertrophie (BPH)
    • Finasterid verlangsamt den Haarausfall und verstärkt im Vergleich zu Placebo das Haarwachstum bei Männern.1
    • Bei 80–90 % der Behandelten kann der Haarverlust gestoppt werden, bei 50 % der Männer wird die Kopfbehaarung dichter.2
    • Für Frauen ist Finasterid nicht zugelassen, da es bei männlichen Feten zu Fehlbildungen führen kann und bei postmenopausalen Frauen mit androgenetischer Alopezie unwirksam ist.
    • Nebenwirkungen (Risiko steigt mit der Dauer der Einnahme)5-6
  • Dutasterid
    • ebenfalls selektiver 5-alpha-Reduktasehemmer
    • Dutasterid 0,5 mg/d p. o. führt zu signifikanter Verbesserung des Haarwachstums bei Männern.1
    • Einige Studien zeigen bessere Effektivität im Vergleich zu Finasterid bei vergleichbarem Nebenwirkungsprofi.5
    • Empfehlung als Therapie der 2. Wahl für Männer bei unzureichender Wirkung mit Finasterid1
  • Minoxidil
    • Wurde früher als Kaliumkanalöffner zur Therapie des erhöhten Blutdrucks eingesetzt. Hierbei vermehrtes Haarwachstum als Nebenwirkung, was zum Einsatz des Mittels für die Alopezie führte.5
    • Ist bei Frauen und Männern zur Behandlung der Alopezie zugelassen.
    • Wird lokal auf die Kopfhaut aufgetragen als Lösung oder Schaum.
    • Eine 5-prozentige Lösung ist bei Männern wirksamer ist als eine 2-prozentige, aber die konzentriertere Lösung führt zu mehr Nebenwirkungen.1
      • Bei Frauen ist die Wirksamkeit der 2-prozentigen Lösung vergleichbar mit der 5-prozentigen.1
    • Zu Beginn der Behandlung kann es vorübergehend zu einem verstärkten Effluvium – durch Abstoßung der Telogenfollikel vor Übergang in die anagene Wachstumsphase – führen. Die Behandlung sollte in diesem Fall weitergeführt werden. Die Patient*innen hierüber aufklären.1
    • häufigste Nebenwirkung: Hypertrichose
      • Die Patient*innen sollen darauf achten, dass nur die Kopfhaut mit Minoxidil in Kontakt kommt.
    • weitere Nebenwirkungen
      • lokale Reizungen 
      • Kontaktdermatitis.1
    • Minoxidil ist rezeptfrei in Apotheken erhältlich.
  • Kombination von topischem Minoxidil und Finasterid per os
    • Führt zu besseren Ergebnissen als die Monotherapie mit einer der Substanzen allein.1,7
  • Spironolacton
    • Aldosteron-Antagonist mit antiadrogener Wirkung
    • Kann bei Hirsutismus wirken und Haarausfall bei Frauen mit androgenetischer Alopezie begrenzen, regt jedoch nicht das Nachwachsen der Haare an.
    • Standarddosis 100–200 mg/d5
    • Zur Behandlung des Haarausfalls off label!
    • Nebenwirkungen
      • Elektrolytstörung
      • Verschlechterung der Nierenfunktion
      • Hypotension.5
  • Topische oder systemische Hormonbehandlung bei Frauen
    • Orale Therapie: Cyproteronacetat kann bei Frauen mit androgenetischer Alopezie bei Hyperandrogenismus hilfreich sein.1
    • Bei Frauen ohne Hinweise auf hormonelle Dysregulation wird der topische Einsatz von natürlichen Östrogenen, Progesteron oder von Antiandrogenen nicht empfohlen.
    • Bei Frauen mit hormoneller Dysregulation kann die Therapie durch Antiandrogene wie Cyproteronazetat, Chlormadinonazetat oder Dienogest versucht werden (Evidenzlevel 3).2
    • Anwendung von Cyproteronacetat in einer Dosierung über 25 mg/d ist mit einem erhöhten Risiko für Meningeome assoziiert.

Weitere Behandlungsmethoden

  • Von Friseur*innen angepasste (Teil-)Perücken können in einigen Fällen eine Alternative sein.
  • Haartransplantation1-2
    • Die Eigenhaartransplantation stellt eine ergänzende Maßnahme bei fortgeschrittener androgenetischer Alopezie dar.
    • Hierbei werden Haare aus dem okzipitalen, nicht androgensensitiven Bereich entnommen und in betroffene Areale transplantiert.
    • Nicht nur bei der männlichen, sondern auch bei der weiblichen androgenetischen Alopezie kann eine Verdichtung durch Haarfollikeltransplantation erzielt werden.1
  • Thombozytenreiches Plasma und Low-Level-Lasertherapie sind weitere Therapieansätze, die jedoch nicht ausreichend evaluiert sind.1

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Stetig voranschreitend, die Geschwindigkeit ist jedoch von Person zu Person unterschiedlich.

Komplikationen

  • Durch die Alopezie ausgelöstes herabgesetztes Selbstwertgefühl und psychosoziale Belastung, insbes. bei Frauen.
  • Die Behandlung der Männer mit 1 mg Finasterid pro Tag führt etwa zur Halbierung des PSA-Wertes im Blut (ähnlich einer Behandlung mit 5 mg täglich bei BPH).
    • Dies muss bei der Beurteilung des PSA-Wertes, z. B. im Rahmen der Prostatakrebs-Früherkennungsprogramme (ab dem 45. Lebensjahr), berücksichtigt werden.
    • Zugelassen ist Finasterid 1 mg/d nur für Männer zwischen 18 und 41 Jahren!2
  • Je länger die Einnahme von Finasterid erfolgt, um so höher ist das Risiko für Nebenwirkungen (erektile Dysfunktion, Libidoverlust, Ejakulationsprobleme). Teilweise sind diese Nebenwirkungen irreversibel.6

Prognose

  • Bislang gibt es keine Möglichkeit, einmal ausgefallene Haare wieder wachsen zu lassen.
  • Es gibt jedoch Ansätze, über die Hemmung bestimmter Prostaglandine die Stammzellen am atrophierten Haarfollikel wieder zu aktivieren, um ein erneutes Haarwachstum zu ermöglichen.
  • Eine Therapieempfehlung kann hieraus bislang nicht abgeleitet werden.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

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Haarausfall vom männlichen Typ
Haarausfall vom weiblichen Typ
Haarausfall vom weiblichen Typ

 

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Norwood-Hamilton-Klassifikation, Haarausfall vom männlichen Typ (Quelle: Wikipedia)

 

Ludwig_scale_for_female_pattern_baldness.png
Ludwig-Klassifikation, Haarausfall vom weiblichen Typ

Quellen

Literatur

  1. Kanti V, Messenger A, Dobos G. Evidence-based (S3) guideline for the treatment of androgenetic alopecia in women and in men - short version. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2018 Jan;32(1):11-22. onlinelibrary.wiley.com
  2. Wolff H, Fischer TW, Blume-Peytavi U.The diagnosis and treatment of hair and scalp diseases.Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 377–86.DOI: 10.3238/arztebl.2016.0377 DOI
  3. Stough D, Stenn K, Haber R, et al. Psychological effect, pathophysiology, and management of androgenetic alopecia in men. Mayo Clin Proc. 2005 Oct. 80(10):1316-22. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Lolli F, Pallotti F, Rossi A, et al. Androgenetic alopecia: a review. Endocrine. 2017;57(1):9‐17. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Nestor MS, Ablon G, Gade A, Han H, Fischer DL.Treatment options for androgenetic alopecia: Efficacy, side effects, compliance, financial considerations, and ethics. J Cosmet Dermatol. 2021 Dec;20(12):3759-3781. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Kiguradze T, et al. Persistent erectile dysfunction in men exposed to the 5α-reductase inhibitors, finasteride, or dutasteride. Published March 9, 2017. PubMed 28289563 peerj.com
  7. Hu R, Xu F, Sheng Y, et al. Combined treatment with oral finasteride and topical minoxidil in male androgenetic alopecia: a randomized and comparative study in Chinese patients. Dermatol Ther 2015; 28: 303–308. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Franziska Jorda, Dr. med., Fachärztin für Viszeralchirurgie, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Kaufbeuren

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