Zusammenfassung
- Definition:Die Anorexia nervosa (Magersucht) ist gekennzeichnet durch die dauerhafte Einschränkung der Zufuhr kalorienhaltiger Nahrung, einem daraus resultierenden auffällig niedrigen Körpergewicht, die intensive Furcht vor Gewichtszunahme oder anhaltendes Verhalten, das eine Gewichtszunahme – trotz auffällig niedrigen Körpergewichts – behindert, eine gestörte Wahrnehmung des Gewichts oder der Form des eigenen Körpers, den übermäßigen Einfluss von Körpergewicht und -form auf die Selbstbewertung oder den anhaltenden Mangel an Einsicht in den Ernst der Lage angesichts des aktuell niedrigen Körpergewichts.
- Häufigkeit:Prävalenz ca. 0,1–1 %, variiert stark von Land zu Land. Sie liegt für Frauen sehr viel höher als für Männer. Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen.
- Symptome:Äußerung von Gewichtssorgen trotz fehlenden Übergewichts, Zyklusstörungen oder Amenorrhö, gastrointestinale Symptome, Wachstumsverzögerungen, Pubertas tarda. Häufig psychische Begleitsymptome wie Angst, Zwangsgedanken oder Stimmungsschwankungen.
- Untersuchung:Niedriges Körpergewicht, atrophische trockene Haut mit Lanugobehaarung, periphere Durchblutungsstörungen, Hypothermie, arterielle Hypotonie, Mitralklappenprolaps, bradykarde Rhythmusstörungen, Muskelatrophie, klinische Hinweise auf wiederholtes Erbrechen oder Laxanzienabusus.
- Diagnostik:Die Erstdiagnostik stützt sich in der Regel auf die Eigen- und möglichst auch Fremdanamnese sowie die körperliche Untersuchung, ergänzt durch Laboruntersuchungen und EKG. Die weiterführende Psychodiagnostik erfolgt im Rahmen von Symptomchecklisten oder strukturierten Interviews.
- Therapie:Die wirksamste Therapiemethode ist die Psychotherapie. Störungsspezifische Verfahren scheinen von Vorteil zu sein. Darüber hinaus konnten im Vergleich verschiedender Psychotherapieverfahren keine Wirksamkeitsunterschiede nachgewiesen werden. Die Behandlung kann als Einzel-, Gruppen- oder Familientherapie erfolgen, je nach Schwere der Störung ambulant, in einer Tagesklinik oder vollstätionär. Bei mangelnder Krankheitseinsicht und Selbstgefährdung kann eine rechtliche Betreuung und als Ultima Ratio Zwangsbehandlung und -ernährung angezeigt sein.
Allgemeine Informationen
Definition1
Nach DSM-5
- A. Eine in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energieaufnahme, welche unter
Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Entwicklungsverlauf und körperlicher Gesundheit zu einem signifikant niedrigen Körpergewicht führt. Signifikant niedriges Gewicht ist definiert als Gewicht, das unterhalb des Minimums des normalen Gewichts oder bei Kindern und Jugendlichen unterhalb des minimal zu erwartenden Gewichts liegt. - B. Ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, oder dauerhaftes Verhalten, das einer Gewichtszunahme entgegenwirkt, trotz des signifikant niedrigen Gewichts.
- C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur oder des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder anhaltende fehlende Einsicht in Bezug auf den Schweregrad des gegenwärtig geringen Körpergewichts.
Nach ICD-10
- Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert.
- Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein.
- Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei
- die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und
- die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen.
- Es liegt meist Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt.
- Zu den Symptomen gehören:
- eingeschränkte Nahrungsauswahl
- übertriebene körperliche Aktivitäten
- selbstinduziertes Erbrechen und Abführen
- Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika
Subtypen
- Restriktiver Typ (ICD-10 und DSM-5)
- Anorexia nervosa ohne weitere aktive Maßnahmen zur Gewichtsreduktion
- Aktiver Typ (ICD-10), Binge-Eating/Purging-Typ (etwa „Essattacken-/Entleerungstyp“) (DSM-5)
- Anorexia nervosa, bulimischer Typ (ICD-10)
- Anorexia nervosa mit zusätzlichen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion (ICD-10)
Atypische Anorexia nervosa (ICD-10 F50.1)
- Einige Kriterien der Anorexia nervosa sind erfüllt, das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht.
- z. B. erheblicher Gewichtsverlust und gewichtsreduzierendes Verhalten, aber fehlende Schlüsselsymptome wie Amenorrhö oder ausgeprägte Angst vor Gewichtszunahme
Häufigkeit
- Prävalenz
- ca. 0,1–1 %, variiert sehr stark von Land zu Land
- bei Erwachsenen ca. 1 % der Frauen und 0,3 % der Männer
- bei Jugendlichen
- Punktprävalenz in einer deutschen Studie bei 12- bis 14-Jährigen: 0,3 % (95 % KI: 0,1–0,7)2
- Inzidenz
- Geschlecht und Alter
- Vor dem Alter von 7–8 Jahren ist die Anorexie selten, ab dem Alter von 10 Jahren nimmt die Häufigkeit zu, und in der späten Jugend (16–18 Jahre) ist sie am weitesten verbreitet.
- Bei etwa 25 % der jungen Mädchen mit Anorexie setzt die Erkrankung vor der Menarche ein.
- Mehr als 90 % der Betroffenen sind junge Frauen.
- Frauen sind 10-mal häufiger betroffen als Männer.
- Inanspruchnahme von therapeutischer Hilfe
- Viele Betroffene weigern sich, therapeutische Hilfe aufzusuchen.
- Nur etwa 30 % der Patient*innen mit Anorexia nervosa und weniger als 6 % der Patient*innen mit Bulimia nervosa nehmen überhaupt einmal medizinische Hilfe in Anspruch.
- Durchschnittlich besteht bereits seit 4–5 Jahren ein erheblich gestörtes Essverhalten, bevor Hilfe in Anspruch genommen wird.
- Viele Betroffene weigern sich, therapeutische Hilfe aufzusuchen.
- Hohe Dunkelziffer
- Leichtere Fälle werden oft nicht registriert.
Ätiologie und Pathogenese
- Vermutlich Zusammenspiel von biopsychosozialen einschließlich familiären und kulturellen Faktoren
- Geringes Selbstwertgefühl und Störungen der Impulskontrolle scheinen zentrale psychische Faktoren zu sein.
Prädisponierende Faktoren
Individuelle Faktoren
- Ängste im Zusammenhang mit dem Reifungsprozess in der Pubertät
- Die Erkrankung tritt meist in der Pubertät auf, in der der Körper große Veränderungen durchmacht und die Jugendlichen mit großen psychosozialen Herausforderungen konfrontiert sind.
- Die Zunahme an Körperfett und die Veränderungen der Figur in der Pubertät (insbesondere bei Mädchen) können dazu führen, dass die Jugendlichen sich um ihr Gewicht sorgen und das Bedürfnis verspüren, ihr Gewicht zu kontrollieren.
- Diät zur Gewichtsreduktion als Auslöser
- Viele Betroffene haben vor Beginn der Erkrankung eine Phase mit mehr oder weniger starkem Übergewicht durchlaufen, und häufig entwickelt sich die Erkrankung aus einer Diät zur Gewichtsreduzierung heraus.
- Frühere Diät-Phasen scheinen der stärkste Prädiktor für eine Essstörung zu sein.
- Komorbidität
- Persönlichkeitsstörungen
- Knapp 60 % der Patient*innen weisen eine Form einer Persönlichkeitsstörung auf. Dieser Anteil steigt mit zunehmender Schwere der Essstörung.
- Die Persönlichkeit ist häufig durch zwanghafte Züge, Perfektionismus und Abhängigkeit von anderen Menschen geprägt.
- andere psychische Störungen
- Bei 50–75 % der Patient*innen mit Anorexie und Bulimie liegt eine schwere Depression oder Dysthymie vor.
- Bei Patient*innen mit Anorexie besteht eine Lebenszeitprävalenz von Zwangsstörungen von 25 %.
- Bei knapp 20 % der Patient*innen mit Anorexie liegt auch ein Substanzmissbrauch vor.
- Persönlichkeitsstörungen
- Schwierigkeiten in Schule, Ausbildung oder am Arbeitsplatz treten vor der Erkrankung eher selten auf, können sich jedoch als Komplikation entwickeln.
- Zwanghafte Persönlichkeitszüge und perfektionistisches Verhalten, die häufig als Begleitsymptome vorliegen, erhöhen das Burnout-Risiko.
Familiäre Faktoren
- Es gibt keine Familienformen, die typisch für Anorexie-Fälle wären.
- Kommunikations- und Interaktionsprobleme in der Familie kommen bei Betroffenen gehäuft vor.
- Bei Familienangehörigen erhöhte Prävalenz von
- Über- oder Untergewicht
- körperlichen Erkrankungen
- psychischen Störungen einschließlich Suchterkrankungen
- Angehörige von Magersüchtigen haben oder hatten mit ca. 11-mal höherer Wahrscheinlichkeit eine Essstörung und mit ca. 3- bis 4-mal höherer Wahrscheinlichkeit eine Depression, Angststörung oder Zwangsstörung als die Normalbevölkerung.
Soziokulturelle Faktoren
- Angesichts der charakteristischen Merkmale der Anorexie (ungleichmäßige Geschlechterverteilung, Beginn in jungem Alter, erhöhte Inzidenz in den vergangenen Jahren und Zusammenhang mit dem westlichen Lebensstil) ist es wahrscheinlich, dass soziokulturelle Faktoren bei der Entwicklung der Erkrankung eine große Rolle spielen. Dazu zählen z. B.:
- Leistungsdruck (erfolgreich sein)
- das weibliche Körperideal (attraktiv und schlank)
- Körperideale innerhalb bestimmter Risikogruppen wie Models, Balletttänzerinnen und Leistungssportlerinnen
Biologische Faktoren
- Hormonstörungen und Veränderungen des Stoffwechsels, die infolge der Unterernährung und des Hungers entstehen, begünstigen die Aufrechterhaltung der Erkrankung.
Genetik
- Eine genetische Veranlagung ist wahrscheinlich (bei monozygoten Zwillingen ist die Inzidenz höher als bei dizygoten).
ICD-10
- F50 Essstörungen
- F50.0 Anorexia nervosa
- F50.00 restriktiver Typ
- F50.01 aktiver Typ (bulimischer Typ oder mit Maßnahmen zur Gewichtsreduktion)
- F50.08 Sonstige und nicht näher bezeichnete Anorexia nervosa
- F50.1 Atypische Anorexia nervosa
- F50.0 Anorexia nervosa
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Siehe auch Abschnitt Definition.
- Gewichtsverlust (bei Kindern fehlende Gewichtszunahme) von mehr als 15 % des zu erwartenden Normalgewichts oder bei einem BMI ≤ 17,5
- Selbstinduzierter Gewichtsverlust durch den Verzicht auf kalorienhaltige Lebensmittel
- Gestörte Körperwahrnehmung; Gefühl, zu dick zu sein, und Angst, dick zu werden.
- Endokrine Störungen mit Amenorrhö und verminderter Libido und Potenz
- Bei Krankheitsbeginn vor der Pubertät: verzögerte pubertäre Entwicklung (Brüste, Genitalien, primäre Amenorrhö)
Differenzialdiagnosen
Atypische Anorexie (nicht alle Kriterien erfüllt)
- Cave: Unterdiagnostik und -behandlung!
- Bei gestörtem Essverhalten sind meist nicht alle Diagnosekriterien für Anorexie oder Bulimie erfüllt.
- Die aktuellen ICD- und DSM-Hauptkategorien erfassen nur etwa die Hälfte aller klinisch relevanten Essstörungen.
- Bei atypischen (subsyndromalen) Essstörungen gelten dieselben Behandlungsprinzipien wie beim Vollbild.
- Cave: Überdiagnostik und -behandlung!
- Manche subsyndromale Merkmale, wie ein ausgeprägter Schlankheitswunsch bei erwachsenen Frauen, stellen allein keinen Grund dar, eine Essstörung zu vermuten.
- Krankheitsdynamik entscheidend
- Nehmen die Symptome zu?
- Bewegen sie sich auf eine manifeste Essstörung zu?
- Individuell zu prüfen:
- Gefährdung der körperlichen Gesundheit?
- Psychosoziale Funktionsdefizite?
- Subjektiver Leidensdruck?
- Vorübergehende lebensphasebedingte Verhaltensweisen?
- Diäten, induziertes Erbrechen oder intensiver Sport zur Gewichtskontrolle können besonders in der Adoleszenz auch bei gesunden Männern und Frauen vorübergehend vorkommen.
Andere Essstörungen
Andere psychische Störungen
Somatische Ursachen einer Gewichtsabnahme
- Langwierige Infektionen
- Neurologische Erkrankungen
- Hypophyseninsuffizienz
- Thyreotoxikose
- Nebennierenrindeninsuffizienz
- Diabetes mellitus
- Funktionelle Dysphagie
- Magen-Darm-Erkrankungen wie u. a. Zöliakie
- Nebenwirkungen von Medikamenten
Anamnese
Anamneseerhebung
- Die Fremdanamnese ist entscheidend.
- Sie erfordert bei Jugendlichen das ausdrückliche Einverständnis der Betroffenen.
- Bei ausgeprägter Gesundheitsgefährdung ggf. Betreuung in Erwägung ziehen (Nähere siehe Abschnitt Betreuung und stationäre Zwangsbehandlung).
- Konkrete Fragen in Bezug auf:
- das Verhältnis zu Lebensmitteln
- übermäßiges Essen
- Erbrechen
- andere Methoden zur Gewichtsreduzierung
- Soziale Situation der Patient*innen?
- Gradmesser für die krankheitsbedingte funktionelle Einschränkung
Fragen mit hoher Sensitivität
- Wird eine der folgenden Fragen wahrheitsgemäß mit Nein beantwortet, kann eine Anorexia nervosa nahezu ausgeschlossen werden:
- Haben Sie große Angst zuzunehmen?
- Finden Sie, dass Sie dick sind oder dass Teile Ihres Körpers aktuell zu füllig sind?
- Ist Ihre Menstruation in mindestens den vergangenen 3 Monaten ausgefallen?
SCOFF: Screening-Fragen zu Essstörungen
- Erbrechen Sie sich, weil Sie ein unangenehmes Völlegefühl haben?
- Befürchten Sie, die Kontrolle darüber zu verlieren, wie viel Sie essen?
- Haben Sie in letzter Zeit innerhalb eines Zeitraums von 3 Monaten mehr als 6 kg abgenommen?
- Finden Sie, dass Sie dick sind, obwohl andere sagen, dass Sie zu dünn sind?
- Würden Sie sagen, dass Lebensmittel eine dominante Rolle in Ihrem Leben spielen?
Essgewohnheiten, Wahl der Lebensmittel
- Typisch bei Essstörungen:
- Wahl kalorienarmer Lebensmittel und kleiner Mahlzeiten
- Beschränkung auf wenige Lebensmittelsorten
- Verwenden von Süßstoffen, Fettersatzstoffen und Light-Produkten
- Auswahl und Zufuhr von unattraktiven oder z. B. durch Versalzen ungenießbar gemachten Nahrungsmitteln
- Nutzen von Ekelkonditionierungen, um die Zufuhr von attraktiven Nahrungsmitteln zu blockieren (z. B. die Vorstellung, dass Schokolade durch Mäusekot verunreinigt ist).
- Evtl. frühere Phase mit Übergewicht
- Häufig starkes Hungergefühl, das aber meist nicht kommuniziert wird.
- Exzessives Trinken von Wasser, um das Hungergefühl zu unterdrücken.
- Evtl. auch um das niedrige Körpergewicht zu kaschieren, etwa bei einer ärztlichen Kontrolle.
- Evtl. Flüssigkeitseinschränkung, besonders bei sehr jungen Betroffenen
Große Präsenz des Themas Essen
- Spricht viel über nahrungsbezogene Themen, z. B. Kochrezepte.
- Kocht oder bäckt gerne für andere.
- Verbringt viel Zeit mit der Essenszubereitung und der (restriktiven) Nahrungsaufnahme.
- Hält sich oft und lange in Lebensmittelgeschäften auf.
Gestörte Körperwahrnehmung
- Verlust des natürlichen Selbstbildes, Wahrnehmung des eigenen Körpers als übergewichtig, obwohl das Gewicht sehr niedrig ist.
- Zu unterscheiden von asketischen oder religiösen Idealvorstellungen.
- Zu unterscheiden von kulturell geprägter Selbstbewertung gesunder junger Frauen als „zu dick“.
- Der Aspekt des Unangemessenen oder Pathologischen ergibt sich erst aus zusätzlichen Charakteristika:
- Die Gedanken wie „Ich bin zu dick“ nehmen einen wesentlichen Raum ein.
- Die Betroffenen können sich von solchen Gedanken nicht distanzieren.
- Die Gedanken beeinträchtigen das Selbstwertgefühl in erheblichem Maß.
- Ein dysfunktionales Verhalten wird dadurch aufrecht erhalten.
- Der Aspekt des Unangemessenen oder Pathologischen ergibt sich erst aus zusätzlichen Charakteristika:
Übermäßige Gewichtskontrolle
- Wunsch, abzunehmen und schlanker zu werden.
- Häufiges Wiegen, Messen des Bauchumfangs, der Hautfaltendicke, häufige Prüfung des eigenen Aussehens im Spiegel
- Kalorienzählen
- Eng gezogene Bauchgürtel, enge Kleidung oder willentliche Muskelanspannung, um beim Essen ein frühzeitiges Völlegefühl hervorzurufen.
- Absichtliches Erschweren der Nahrungsaufnahme durch Zungenpiercings oder Selbstverletzungen im Mundraum
- Purging-Verhalten
- absichtliches Erbrechen durch mechanische Reizung des Rachenraums, Abführmittel
- Laxanzien
- Diuretika
- Schilddrüsenhormone zur Steigerung des Grundumsatzes
- Medikamente oder Nikotin zur Appetitreduktion oder zum Abführen
- Patient*innen mit Typ-1-Diabetes unterlassen notwendige Insulininjektionen, mit dem Ziel, den renalen Glukoseverlust zu steigern.
Hyperaktivität
- Innere Unruhe, die durch körperliche Aktivität gelindert wird (Bewegungsdrang).
- Übermäßige Ausübung von Sport, dadurch gesteigerter Kalorienverbrauch, Anregung der Darmmotorik und weitere Gewichtsabnahme
- Exposition gegenüber Kälte oder Hitze (z. B. Sauna)
Essanfälle
- Eine Anorexia nervosa beginnt in der Regel mit restriktivem Essverhalten. Im weiteren Verlauf kommen jedoch häufig auch Essanfälle (Binge-Eating) hinzu, oft gefolgt von Purging-Verhalten.
- Zufuhr von Nahrungsmengen, deren Kaloriengehalt den einer normalen Mahlzeit deutlich überschreitet.
- Betroffene können auch ungeplante oder unerwünschte Nahrungsaufnahmen mit normalem Kaloriengehalt als Essanfall erleben.
- Meist werden während eines Essanfalls Nahrungsmittel konsumiert, die sich die betroffene Person sonst verbietet (z. B. mit hohem Fett- und Zuckergehalt).
- Personen, die bereits seit Längerem von einer Essstörung betroffen sind, planen ihre Essattacken oft im Voraus, etwa indem sie vorher dafür einkaufen und sicherstellen, dass niemand sie dabei beobachten kann.
Allgemeine Merkmale
- Schwindel, Synkopen, Müdigkeit, Kälteintoleranz
- Infolge der Unterernährung schwinden die Kräfte, und die Arbeitsintensität nimmt ab.
- Schlafstörungen
- Bei einigen Patient*innen treten Schlafstörungen auf. Sie fühlen sich aufgedreht und unruhig.
- Erbrechen
- Völlegefühl und Unwohlsein nach Mahlzeiten und die Angst vor dem Zunehmen können zu dem Entschluss führen, Erbrechen zu induzieren.
- Abführmittel
- Die Fehlernährung führt zu einer Obstipation und hartem, knolligem Stuhl.
- Es werden Abführmittel und Diuretika angewendet, um das Gewicht zu reduzieren.
- Verminderte Knochendichte
- Eine verminderte Knochendichte ist zwar früh im Verlauf messbar, hat aber keine zusätzlichen therapeutischen Konsequenzen und wird daher nicht im Rahmen der Routinediagnostik empfohlen.
- Ausnahme: Spontanfrakturen (Näheres siehe Artikel Osteoporose)
- Eine verminderte Knochendichte ist zwar früh im Verlauf messbar, hat aber keine zusätzlichen therapeutischen Konsequenzen und wird daher nicht im Rahmen der Routinediagnostik empfohlen.
Schweregrad
- Die Erkrankung kann unterschiedlich schwer ausgeprägt sein.
- Die meisten Patient*innen mit einer Essstörung gehen jeden Tag zur Arbeit oder zur Schule.
- Die Mehrzahl ist normalgewichtig, sodass das Problem nicht sichtbar ist (siehe Abschnitt Atypische Anorexie).
Psychosoziale Umstände
- Psychosoziale Entwicklung?
- Frühere Traumata oder psychische Störungen?
- Angst, Zwangsgedanken und Stimmungsschwankungen sind häufig.
- Bei schweren Essstörungen besteht eine hohe Komorbidität mit Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, PTBS und Autismus-Spektrum-Störungen.
- Informationen über Schule, Freizeit und soziale Einbindung einholen.
Klinische Untersuchung
Gründliche somatische Untersuchung
- Bestimmung von Gewicht und Größe in Unterwäsche und ohne Schuhe
- Berechnung des BMI
- Hautveränderungen
- trockene Haut
- Intertrigo
- generalisierter Pruritus
- Ekzeme
- Hautinfektionen
- Haarausfall
- Akne
- Pigmentierungsstörungen
- Flaumbehaarung (Lanugobehaarung)
- Gelbfärbung bei Hyperkarotinämie
- Petechien
- livide Verfärbung
- Russell-Zeichen: Schwielen am Finger oder Handrücken nach häufiger Induktion von Erbrechen
- Evtl. liegt eine Dehydratation vor.
- Gastrointestinale Symptome, z. B.:
- geblähtes Abdomen
- veränderte Darmmotilität
- Obstipation
- epigastrische Schmerzen, Völlegefühl
- selten akutes Abdomen bei extremer Magendilatation
- Herz und Gefäße
- Eine Anorexie geht häufig mit einem Mitralklappenprolaps einher.
- evtl. ausgeprägte Bradykardie (z. B. HF 40–60/min) und Hypotonie (z. B. RR 75/55 mmHg)
- häufig Akrozyanose (Raynaud-Syndrom)
- Die Körpertemperatur kann erniedrigt sein (friert leicht).
- erhöhtes Risiko von Erfrierungen bei Kälteexposition
- Mundhöhle, Speicheldrüsen
- Ausgeprägte Karies? Mögliche Ursachen:
- Schmelzschädigung durch Magensäure bei häufigem Erbrechen
- exzessiver Konsum zuckerhaltiger Nahrungsmittel im Rahmen von Essattacken
- Fasten erhöht die Phosphatkonzentration im Speichel und begünstigt die Plaquebildung.
- Verminderte Speichelproduktion durch Diuretika oder Laxanzien kann zu Xerostomie führen.
- Absichtlich unbehandelte Karies, z. B. um das Essen zu erschweren.
- Zahnarztphobie
- Gingivitis und Parodontose durch Unter- oder Fehlernährung
- weitere Folgen häufigen Erbrechens
- Schleimhauterosionen
- Vergrößerung der Ohrspeicheldrüsen und Zungengrundspeicheldrüsen
- Ausgeprägte Karies? Mögliche Ursachen:
- Grobe Kraftprüfung
- Beim Squat-Test wird die untersuchte Person aufgefordert, in die Hocke zu gehen und ohne Zuhilfenahme der Arme aufzustehen.5
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Labor
- Differenzialblutbild
- BSG, CRP
- Albumin
- Kreatinin
- Elektrolyte (Na, K, Ca, Phosphat, Magnesium) – bei Anorexie kann es aus verschiedenen Gründen zu bedenklichen Elektrolytverschiebungen kommen, z. B.:
- Verdünnungshyponatriämie durch Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH, Schwartz-Bartter-Syndrom)
- Scheint bei Anorexie gehäuft aufzutreten.
- möglicher Medikamenteneffekt (z. B. Antidepressiva)
- Kaliumverlust durch Erbrechen
- ernährungsbedingter Kalziummangel
- Natriumverlust durch exzessive Flüssigkeitsaufnahme
- Laxanzienabusus, z. B.:
- Kaliumverlust bis hin zu Herzrhythmusstörungen und hypokaliämischer Nephropathie
- Magnesiumüberladung
- Verdünnungshyponatriämie durch Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH, Schwartz-Bartter-Syndrom)
- GGT, GOT, GPT, AP, gesamtes und direktes Bilirubin, CHE, CK, PTZ und PTT
- Blutglukose (häufig Hypoglykämie)
- Urinstatus
- Lipase
- TSH
- Ggf. weitere Labortests, z. B.:
- Speichelamylase im Serum (korreliert mit der Häufigkeit des Erbrechens)
- Endokrinologie
- Wachstumshormon
- Kortisol
- Sexualhormone
- Eisen, Ferritin
- Vitamine A, E, D, B12; Folsäure, Beta-Karotin
- Zink, Kupfer, Selen
- Serumprotein
- Harnstoff
- Transglutaminase-Antikörper (Zöliakie)
- immunchemisches oder chromatografisches Drogenscreening
- EKG
- (Herzrhythmusstörungen im Rahmen von Elektrolytverschiebungen oder Mitralklappenprolaps)
Indikationen zur Überweisung
- Häufig ist eine intensive professionelle Hilfe erforderlich.
- Meist ist eine freiwillige Behandlung im ambulanten oder teilstationären (Tagesklinik) möglich.
- Ggf. Zusammenarbeit mit Ernährungsberater*innen
- Erfahrung im Umgang mit Anorexie-Betroffenen
- engmaschige Abstimmung mit Psychotherapeut*innen
- Zahnärztliche Konsultationen
- regelmäßige Kontrollen auf Folgeschäden an Zahnschmelz und Parodontium (siehe auch Abschnitt Klinische Untersuchung)
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
- Eine stationäre Behandlung sollte bei Vorliegen eines oder mehrerer der folgenden Kriterien erfolgen:
- rapider oder anhaltender Gewichtsverlust (> 20 % über 6 Monate)
- gravierendes Untergewicht (BMI < 15 kg/m2 bzw. bei Kindern und Jugendlichen unterhalb der 3. Altersperzentile)
- anhaltender Gewichtsverlust oder unzureichende Gewichtszunahme über 3 Monate (bei Kindern und Jugendlichen früher) trotz ambulanter oder tagesklinischer Behandlung
- Soziale oder familiäre Einflussfaktoren, die einen Gesundungsprozess stark behindern (z. B. soziale Isolation, problematische familiäre Situation, unzureichende soziale Unterstützung).
- ausgeprägte psychische Komorbidität
- Suizidalität
- Schwere bulimische Symptomatik (z. B. Laxanzien-/Diuretikaabusus, schwere Essanfälle mit Erbrechen) oder exzessiver Bewegungsdrang, die ambulant nicht beherrscht werden können.
- körperliche Gefährdung oder Komplikationen
- geringe Krankheitseinsicht
- Überforderung im ambulanten Setting
- zu wenig strukturierte Vorgaben (Mahlzeitenstruktur, Essensmengen, Rückmeldungen zum Essverhalten, Motivationsbildung)
- bei Kindern und Jugendlichen: Zusammenbruch der familiären Ressourcen
- Notwendigkeit der Behandlung durch ein multiprofessionelles Team mit krankenhaustypischen Heilmethoden (psychosomatische/psychiatrische Krankenhausbehandlung)
- Die stationäre Behandlung sollte an Einrichtungen erfolgen, die ein spezialisiertes, multimodales Behandlungsprogramm anbieten können.
Betreuung und stationäre Zwangsbehandlung
- Rechtliche Betreuung
- Als möglicher 1. Schritt der Fremdkontrolle, z. B. wenn die betroffene Person
- nicht ausreichend für sich sorgen kann
- noch mit Untergewicht aus der stationären Behandlung entlassen wurde
- Dies sollte in jedem Fall die Aufgabenbereiche Gesundheitsfürsorge und unterbringungsähnliche Maßnahmen umfassen.
- Juristische Betreuer*innen können eine stationäre Zwangsbehandlung beantragen.
- Zwangsbehandlungen sind nicht nur in psychiatrischen, sondern auch in anderen Kliniken und Einrichtungen möglich.
- Sollte für einen Zeitraum von mindestens 3–6 Monaten eingerichtet werden, um eine gesundheitliche Stabilisierung zu ermöglichen.
- Professionelle Betreuer*innen sollten Erfahrung mit Anorexie-Betroffenen haben.
- Familienangehörige stehen unter einer hohen psychischen Belastung und sind Teil der häufig komplexen Familiendynamik. Das spricht häufig gegen eine Betreuung durch Familienangehörige.
- Als möglicher 1. Schritt der Fremdkontrolle, z. B. wenn die betroffene Person
- Eine Zwangsbehandlung darf nur im stationären Rahmen erfolgen und nur als Ultima Ratio, wenn die Essstörung ein lebensbedrohliches Ausmaß erreicht.
- Sie ist sorgfältig mit anderen Formen engmaschigen klinischen Managements abzuwägen.
- Gefühle der Ohnmacht seitens der Behandelnden oder Angehörigen rechtfertigen keine Zwangsbehandlung.
- Die Interventionen sollten in einer spezialisierten Einrichtung vorgenommen werden.
- Zwangsernährung und Fixierung
- Können notwendig werden, wenn Betroffene mit extremer Unterernährung ihre Gefährdung nicht mehr wahrnehmen und gleichzeitig massive Angst vor der Nahrungsaufnahme haben.
- erhöhte Mortalität bei BMI < 13 (ohne künstliche Ernährung keine reelle Chance auf Zustandsumkehr)
- BMI < 12: Mortalität von 20 % innerhalb von 9 Jahren
- bei längerfristig notwendiger Sondenernährung ggf. auch PEG-Anlage
- ggf. auch bei höheren BMI-Werten, z. B. bei:
- Elektrolytentgleisungen aufgrund von Laxanzienmissbrauch
- Herzrhythmusstörungen
- körperlichen Erkrankungen wie Diabetes mellitus
- Alkohol- oder Drogenmissbrauch
- akuter Suizidgefährdung
- Können notwendig werden, wenn Betroffene mit extremer Unterernährung ihre Gefährdung nicht mehr wahrnehmen und gleichzeitig massive Angst vor der Nahrungsaufnahme haben.
Beratungsstellen
- Niederschwellige Gesprächsangebote erleichtern es den Betroffenen, professionelle Hilfe aufzusuchen.
- Aufklärung über Essstörungen
- Weitervermittlung in psychotherapeutische Behandlung
- Die Berater*innen sollten Erfahrungen im Umgang mit Anorexie-Betroffenen haben.
Therapie
Therapieziele
- Angemessene Aufklärung der Patient*innen und – bei Minderjährigen – ihrer Eltern/Sorgeberechtigten über die Erkrankung und den Therapieplan
- Aufbau einer Therapieallianz mit den Betroffenen
- In der Regel vorsichtige und realistische Gewichtszunahme unter ständiger (wöchentlicher) Kontrolle des Gewichts
- Remission körperlicher Folgeerkrankungen
- Normalisierung der körperlichen Aktivität
- Bewältigung psychischer Schwierigkeiten
- Chronifizierung des gestörten Essverhaltens vermeiden.
Stationäre Therapie (internistische und psychotherapeutische)
- Wiederherstellung eines ausgewogenen Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts
- Intensivierte Zahnpflege (falls erforderlich)
- Stabilisierung der Nahrungsaufnahme und des Gewichts
- Zwangsernährung, z. B. über Magensonde nur als absolute Ultima Ratio (siehe Abschnitt Betreuung und stationäre Zwangsbehandlung)
- Förderung der Autonomieentwicklung
- Stärkung von Selbstwertgefühl und Selbstbehauptung
- Flexible Kontrolle: So viel Autonomie wie möglich, so viel Kontrolle wie nötig.
Allgemeines zur Therapie
- Die Behandlung sollte störungsorientiert sein und die körperlichen Aspekte der Erkrankung berücksichtigen.
- Frühzeitig eine Behandlung anbieten, um Chronifizierung zu vermeiden.
- Behandlungskontinuität anstreben.
- Engmaschige Absprache zwischen den Behandelnden (niedergelassene Therapeut*innen, Beratungsstellen, Kliniken, Hausärzt*innen)
- besonders bei Übergängen in weniger intensive Settings (hohes Rückfallrisiko!)
- Die Psychotherapie ist bei Essstörungen die wirksamste Therapiemethode.
- Als Fundament der Therapie gilt eine Kombination aus Psychotherapie und einer strukturierten Verlaufskontrolle in der primären Gesundheitsversorgung.6
- Als Einzel-, Gruppen- oder Familientherapie
- Ggf. zusätzlich Ernährungstherapie und -beratung
Motivation der betroffenen Person
- Patientinnen mit AN stehen einer Veränderung ihres Gewichtes und Essverhaltens in der Regel hochambivalent gegenüber.
- Das Arbeiten an der Motivation und Ambivalenz ist daher eine zentrale Aufgabe der Behandler*innen und sollte über den gesamten Behandlungsprozess im Auge behalten werden.
- Bei Kindern und Jugendlichen
- Sorgeberechtigte bzw. nahen Angehörige informieren und in die Behandlung miteinbeziehen.
Elemente störungsspezifischer Psychotherapie
Therapeutische Zielbereiche
- Verhaltensänderung
- Normalisierung des Essverhaltens, Einstellung des Erbrechens usw.
- Psychoedukation
- Aufklärung über gesunde Ernährung, den Nährstoffbedarf des Körpers und somatische Folgen einer Essstörung
- Kognition
- Hinterfragen der zentralen dysfunktionalen Denkmuster wie etwa „Ich kann nur glücklich sein, wenn ich dünn bin“.
- Emotionen
- Identifizierung des Zusammenhangs zwischen dem Essverhalten und zugrunde liegenden Gefühlen wie Scham, Trauer, Wut usw.
- Beziehungen
- Analyse der Beziehungen zu anderen und der Rolle der Essstörung in diesen Interaktionen
Faktoren, die Anorexie-Betroffene motivieren, gesund zu werden
- Das Erleben von Vitalität
- Fühlen von Freude, Konzentration, Spontanität oder Energie
- Das Erleben von Autonomie
- Selbst zu entscheiden, aus eigenem Interesse wieder gesund zu werden; Fühlen der neuen Fähigkeit, Probleme bewältigen zu können; Selbstbestimmung.
- Das Erleben von Einsicht
- Gewinnung eines stärkeren Bewusstseins dafür, was man selbst benötigt, um mit seinem Leben zufrieden zu sein; Wahrnehmung neuer Nuancen im Leben; Setzen kleinerer erreichbarer Ziele; Gewinnung eines stärkeren Selbstbewusstseins.
- Das Erleben der negativen Folgen der Anorexie
- Angst, die eigene Zukunft nicht mehr planen zu können.
- Sorge um die Auswirkungen auf die eigenen Kinder
- Gefühl, krank oder untergewichtig zu sein.
- Verlust des sozialen Lebens
- körperliche Beschwerden infolge der Erkrankung
Empfehlungen für Betroffene
Ernährung
- Spezialzentren erstellen einen Ernährungsplan.
- Die Ausarbeitung eines Ernährungsplans und sämtliche Anpassungen daran sollten möglichst durch ein spezialisiertes Zentrum (z. B. Spezialambulanz oder spezialisierte pädiatrische Praxis) erfolgen.
- Die Ernährungsplanung umfasst u. a.:
- Normalisierung der Mahlzeitenstruktur und -zusammensetzung
- individuell angepasste Erhöhung der täglichen Kalorienaufnahme
- Normalgewicht als Behandlungsziel
- Kommunikation mit der erkrankten Person
- Behandelnde und Angehörige sollten nicht mit den Betroffenen über das Thema Kalorien diskutieren.
- Vielmehr sollten sie betonen, dass ausreichende Mengen an Nahrung notwendig sind und bei Anorexie eine sichere Therapie darstellen.
- Es dürfen keine zu hohen Anforderungen und Erwartungen im Hinblick auf die Befolgung des Speiseplans bestehen. Er sollte vielmehr als Ziel aufgefasst werden, auf das hingearbeitet wird.
In der Hausarztpraxis
- Therapieplanung möglichst durch ein spezialisiertes Zentrum (s. o.)
Grundelemente eines Therapieprogramms
- Selbsthilfe unter Anleitung
- Kann eine störungsspezifische Psychotherapie nicht ersetzen, möglicherweise aber als erster Schritt von Nutzen sein.
- Ernährungsplanung (s. o.)
- Tagebuch über Essattacken/Erbrechen
- Körperliche Aktivität/Sport
- ggf. Aktivitätstagebuch
- Aufmerksamkeitsfokus auf dem Hier und Jetzt, auf der Funktion des gestörten Essverhaltens und auf der Gestaltung von Beziehungen
- Somatische Verlaufskontrolle
- klare Vereinbarungen in Bezug auf das Gewicht und das Wiegen
- Das Gleiche gilt auch für Blutuntersuchungen.
Arbeit mit der Familie
- In allen Altersstufen ist es wichtig, mit der Familie der Betroffenen zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig soll den individuellen Bedürfnissen der Patient*innen Rechnung getragen werden.
- In der Familie kommt es häufig zu Schuld- und Schamgefühlen. Dies gilt sowohl für die Eltern/Sorgeberechtigten als auch für die Kinder von Patient*innen mit Essstörungen.
- Die Gespräche mit der Familie sollten darauf abzielen, diese Gefühle abzubauen und ein Klima innerhalb der Familie zu schaffen, in dem die Eltern/Sorgeberechtigten und andere Beteiligte die Patient*innen optimal dabei unterstützen können, die notwendige Motivation und Stärke zu finden, um sich von der Essstörung zu befreien.
- Alle Informationen sollten in gemeinsamen Gesprächen vermittelt werden.
- nie hinter dem Rücken der Patient*innen
Medikamentöse Therapie
Elektrolytausgleich
- Hypokaliämie
- Kalium regelmäßig kontrollieren.
- EKG mit Rhythmusstreifen
- Ausgleich durch orale Kaliumzufuhr, bis Normwerte erreicht sind
- Hyponatriämie
- mögliche Ursachen: Polydipsie, SIADH (s. o.)
- bei Polydipsie: Normalisierung der Wasseraufnahme anstreben
- Therapie ansonsten wie in den Artikeln SIADH und Hyponatriämie beschrieben
Eisen und Vitamine
- Eisensubstitution nur bei niedrigem Ferritin
- Vitaminmangel primär durch ausgewogene Kost ausgleichen.
- Ggf. Substitution von Kalzium und Vitamin D zur Osteoporoseprophylaxe
- Bei klinischen Zeichen eines Vitaminmangels kann eine Vitaminsubstitution sinnvoll sein.
Hormonelle Kontrazeptiva
- Bei anhaltender Amenorrhö stellt ein Östrogen-/Progesteron-Präparat keine kausale Lösung dar.
- Bei Bedarf für eine sichere Verhütungsmethode können orale Kontrazeptiva eingesetzt werden. Sie scheinen bei Anorexie-Patientinnen den mangelernährungsbedingten Verlust der Knochendichte abzumildern.7
Prävention
Grundprinzipien
- Die Lebenskompetenzen von Jugendlichen stärken.
- Das Selbstwertgefühl fördern.
- Kritischer Umgang mit den Medien und dem darin vermittelten Schönheitsideal
- Lernen, mit Gefühlen umzugehen.
- Ein positives Körpergefühl entwickeln.
Diät und Sport mit Augenmaß
- Ist bei jungen Frauen eine Diät zur Verringerung des Gewichts notwendig, soll mit Vorsicht vorgegangen werden. Eine „normale Diät“ kann leicht außer Kontrolle geraten und zur Entwicklung einer Essstörung beitragen. Ähnliches gilt für sportliche Aktivitäten (Näheres siehe auch Artikel Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit).
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die Erkrankung kann bereits von Beginn an bulimische Züge tragen, häufiger entwickeln sich jedoch erst im Laufe der Zeit zunehmend Verhaltensweisen wie Essattacken, Erbrechen und übermäßige Ausübung von Sport.
- Der Heilungsprozess umfasst in der Regel einen Zeitraum von vielen Monaten, wenn nicht Jahren.
Faktoren, die zu einem chronischen Verlauf beitragen können
- Hunger
- Personen, die hungern, können sich nicht über längere Zeit konzentrieren, da sie unaufhörlich an Essen denken und nach Essen suchen. Diese Konzentration auf das Thema Essen schränkt das Interessengebiet ein und führt zu sozialer Isolation.
- Verdauungsbeschwerden
- Durch die verzögerte Darmentleerung/chronische Obstipation, die infolge der Fehlernährung entsteht, kommt es zu einem Völlegefühl, das den Wunsch nach einem Fortführen der Diät noch verstärkt.
- Körperschemastörung
- Dies führt dazu, dass selbst kleine Gewichtszunahmen den Betroffenen das Gefühl geben, die Kontrolle zu verlieren.
- massive Angst vor Gewichtszunahme und Veränderung des Körperbilds
- Ungelöste Familienkonflikte können zu einer Chronifizierung beitragen.
- Aus dem Umfeld kann ein sekundärer Krankheitsgewinn gezogen werden.
Komplikationen
Herz-Kreislauf-Komplikationen
- Orthostatische Hypotonie
- Herzrhythmusstörungen
- Bradykardie (ca. 40 % der Fälle)
- QT-Verlängerung
- aufgrund von Hypokaliämie oder Hypomagnesämie oder auch medikamenteninduziert (z. B. Metoclopramid)
- auch ohne Elektrolytstörungen möglich (Prädiktoren: niedriges Gewicht, BMI, schneller Gewichtsverlust)
- DD kongenitales Long-QT-Syndrom
- erhöhte QT-Dispersion (Differenz zwischen dem längsten und dem kürzesten QT-Intervall)
- verminderte Herzfrequenzvariabilität
- Linksventrikuläre Hypotrophie
- reduzierte Auswurfleistung
- Mitralklappeninsuffizienz (Prolaps in 30–50 % der Fälle)
- Perikarderguss bei Hyperproteinämie
- Refeeding-Syndrom
- Herz-Kreislauf-Versagen zu Beginn der Ernährungsphase bei Personen mit schwerer Anorexie
- Vermehrte Glukosezufuhr führt zu verstärkter Insulinausschüttung. Daraufhin kommt es zu schnellem Einstrom von Phosphat, Magnesium und Kalium in die Zelle. Der extrazelluläre Phosphatmangel führt zu einem Mangel an ATP, was zu verminderter Muskelkontraktilität und Herzauswurfleistung führt.
- Auch eine zu schnelle Flüssigkeitszufuhr kann das Myokard überfordern.
Störungen des Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalts
- Dehydratation, hypovolämischer Schock
- Pseudo Schwarz-Bartter-Syndrom
- sekundärer Hyperaldosteronismus
- durch chronische Dyhdratation
- durch Laxanzien- oder Diuretikaabusus
- gekennzeichnet durch:
- Hypovolämie
- Hypokaliämie
- metabolische Alkalose
- Cave: Nach Absetzen der diuretischen Medikation und Wasserzufuhr können sich schnell Ödeme bilden, und es kann zu einer Überlastung des Myokards kommen.
- sekundärer Hyperaldosteronismus
Neurologische Komplikationen
- Krampfanfälle aufgrund von Hypoglykämien
- Kognitive Defizite
- In Spätstadien treten Beeinträchtigungen der freien Willensbildung auf und Negierung der Bedrohlichkeit des aktuellen körperlichen Zustands.
- Eine Verhaltensumkehr ist dann ohne äußere Einflussnahme und ggf. Zwangsmaßnahmen kaum mehr möglich.
- Delir als mögliche Folge einer zu schnellen Glukose- oder Flüssigkeitszufuhr (Refeeding-Syndrom)
Osteoporose
- In ca. 1/3 der Fälle
- Bis ins höhere Alter dauerhaft erhöhtes Frakturrisiko
Leberfunktionsstörungen
- Verminderte Glukogenese
- Blutungsneigung (verminderte Produktion von Gerinnungsfaktoren)
- Leberversagen
Sonstige
- Amenorrhö bei ca. 15 % der weiblichen Betroffenen
- Als sekundäre Amenorrhö oder, bei Erkrankungsbeginn vor der Menarche, auch als primäre Amenorrhö, die auch noch lange über die Rekonstitution des Ernährungszustands hinaus bestehen kann.
- Nierenversagen
- Thoraxschmerzen, die wie ein akutes Koronarsyndrom erscheinen können.
- Anämie (normozytär) in ca. 40 % der Fälle
- Hypothermie (< 36 °C) in ca. 20 % der Fälle
- Erhöhtes Infektionsrisiko
- auch noch in der Frühphase des Ernährungsaufbaus
- Erhöhtes Risiko für Komplikationen im Fall einer Allgemeinanästhesie
Prognose
- Etwa die Hälfte der Betroffenen genesen vollständig, bei 30 % tritt eine Besserung ein, bei 20 % kommt es zu einem chronischen Verlauf.
- Mortalität von 1–8 %
- Die Prognose ist bei Erwachsenen mit Anorexie ungünstiger.
- Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate bei jungen Erwachsenen (Mortalitätsrate bis zu 20 %)
- Die Todesursache ist in der Regel eine Unterernährung mit akuten, meist kardialen Komplikationen oder Suizid.
- Bei chronischer Anorexie steigt das Sterblichkeitsrisiko, da lebenswichtige Organe infolge der chronischen Unterernährung geschädigt werden.
- Bei Krankheitsbeginn in der Pubertät ist die Prognose besser als bei Beginn im Erwachsenenalter, bei präpubertalem Beginn jedoch anscheinend etwas ungünstiger.
- Die Erkrankungsdauer korreliert mit der Mortalität.
- Die Mortalität bei AN ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das Dreifache erhöht, bei einer Erkrankungsdauer von mehr als 15 Jahren um das Siebenfache.8
- Bei vielen Betroffenen kommt es zu Rückfällen.
- Günstige prognostische Faktoren
- Krankheitsbeginn in jungem Alter (in der Pubertät, bei präpubertalem Beginn anscheinend etwas ungünstiger)
- frühzeitige Einleitung der Therapie
- Ungünstige prognostische Faktoren
- Erbrechen
- Bulimie
- starker Gewichtsverlust
- chronischer Verlauf
- Besteht die Erkrankung bereits seit Langem und sind zahlreiche stationäre Aufnahmen erfolgt, ist die Prognose ungünstig.
- Entwicklungsstörungen vor Krankheitsbeginn
Verlaufskontrolle
- Regelmäßige Verlaufskontrolle durch die behandelnden Psychotherapeut*innen über mindestens 1 Jahr
- Regelmäßige körperliche Kontrolluntersuchungen nach Empfehlungen des behandelnden Zentrums. Sie umfassen in der Regel:
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Eating Disorders Victoria. Classifying eating disorders - DSM-5. Abbotsford Vic, 25.11.2016. www.eatingdisorders.org.au
- Ernst V, Bürger A, Hammerle F. Prevalence and severity of eating disorders: A comparison of DSM-IV and DSM-5 among German adolescents. Int J Eat Disord 2017; 50: 1255-1263. PMID: 28963857 PubMed
- Hoek HW. Review of the worldwide epidemiology of eating disorders. Curr Opin Psychiatry 2016; 29(6): 336-9. PMID: 27608181 PubMed
- Zerwas S, Larsen JT, Petersen L, et al. The incidence of eating disorders in a Danish register study: Associations with suicide risk and mortality. J Psychiatr Res 2015; 65: 16-22. PMID: 25958083 PubMed
- Treasure J. A guide to the medical risk assessment for eating disorders. www.kcl.ac.uk
- Zipfel S, Wild B, Gross G, et al. Focal psychodynamic therapy, cognitive behaviour therapy, and optimised treatment as usual in outpatients with anorexia nervosa (ANTOP study): randomised controlled trial. Lancet 2013. doi:10.1016/S0140-6736(13)61746-8 DOI
- Maïmoun L, Renard E, Lefebvre P, et al. Oral contraceptives partially protect from bone loss in young women with anorexia nervosa. Fertil Steril 2019; 111: 1020-9. PMID: 30922647 PubMed
- Franko DL, Keshaviah A, Eddy KT, et al. A longitudinal investigation of mortality in anorexia nervosa and bulimia Nervosa. Am J Psychiatry 2013;170:917-925. doi:10.1176/appi.ajp.2013.12070868 DOI
Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg