Chronische Dysphagie

Allgemeine Informationen

Definition

  • Chronische Schluckbeschwerden verschiedener Ätiologie1
  • Störungen des Schluckmechanismus können von allen beteiligten Strukturen von den Lippen bis zum unteren Ösophagussphinkter ausgehen.

Diagnostische Überlegungen

Mögliche Folgen

  • Ein normaler Schluckmechanismus ist wichtig, weil dadurch sichergestellt wird, dass sich die Atemwege beim Schlucken schließen.
    • Sonst besteht Aspirationsgefahr mit nachfolgenden Pneumonien und Septikämien.
  • Eine Dysphagie führt bei vielen Patient*innen dazu, dass weniger Nahrung aufgenommen wird und sich der Ernährungszustand verschlechtert.

Häufigkeit

Konsultationsgrund

  • Meistens Schluckbeschwerden
  • Unerklärliche Fieberspitzen, rezidivierende Infektionen der unteren Atemwege, anhaltender Husten und ständiges Räuspern können auf eine Aspiration hindeuten.

Abwendbar gefährliche Verläufe

  • Eine Dysphagie sollte abgeklärt werden, auch wenn der normale Alterungsprozess ursächlich sein kann.

ICD-10

  • R13 Dysphagie

Differenzialdiagnosen

Gastroösophageale Refluxkrankheit

  • Siehe Artikel Gastroösophageale Refluxkrankheit.
  • Betrifft alle Altersgruppen, die Inzidenz steigt aber mit dem Alter.
  • Refluxsymptome mit Sodbrennen in Hals/Brust, saurem Aufstoßen, brennenden Schmerzen im Epigastrium, Linderung durch Antazida/PPI, manchmal verbunden mit Dysphagie und Husten
  • Die Diagnose erfolgt klinisch, kann aber ösophagoskopisch oder in der 24-Stunden-pH-Metrie bestätigt werden.
  • Die Dysphagie kann auf einer Entzündung (Ösophagitis) oder einer narbigen Striktur im Ösophagus beruhen.
  • Auch eine Hiatushernie kann den Beschwerden zugrunde liegen.
  • Es kann im Verlauf zu einer ringförmigen Verengung der unteren Ösophagusabschnitte durch hypertrophe Schleimhaut kommen (Schatzki-Ring).

Motilitätsstörungen

  • Können mit Schmerzen in mittleren Brustbereich verbunden sein.

Achalasie

  • Verminderte Peristaltik im distalen Speiseröhrenabschnitt und mit Störung der koordinierten Erschlaffung des unteren Ösophagussphinkters
  • Ursächlich ist meist eine Dysfunktion der Ganglienzellen im submukösen Plexus myentericus (Auerbach-Plexus).
  • Setzt meist im Alter zwischen 30 und 60 Jahren ein.
  • Allmählich einsetzende Dysphagie für feste und meist auch für flüssige Speisen
  • Im Röntgenbreischluck des Ösophagus zeigt sich eine Dilatation und die typische „Vogelschnabel“-Einengung des distalen Ösophagus.
  • Eine Ösophagus-Manometrie bestätigt die Diagnose.

Bei systemisch entzündlicher Erkrankung

Nach Schlaganfall oder TIA

  • Dysphagie ist eine Komplikation bei bis zu 2/3 aller Patient*innen mit Schlaganfall.
  • Bei allen Schlaganfall-Patient*innen soll ein Screening auf Dysphagie durchgeführt werden.
  • Bei Patient*innen mit Schluckbeschwerden und/oder pathologischem Screeningbefund sollte ein weiterführendes Assessment der Schluckfunktion angeboten werden .
  • Patient*innen ohne pathologischen Screeningbefund sollte ebenfalls ein weiterführendes Assessment angeboten werden, wenn andere etablierte klinische Prädiktoren für das Vorliegen einer Dysphagie oder deren Komplikationen vorhanden sind, wie:
    • schweres neurologisches Defizit
    • Dysarthrie
    • Aphasie
    • ausgeprägte Fazialisparese.
  • Patient*innen mit einer Dysphagie soll eine oropharyngeale Schluckrehabilitation angeboten werden, die sich aus restituierenden, kompensatorischen und/oder adaptiven Maßnahmen zusammensetzt.
  • Ist enterale Ernährung voraussichtlich länger erforderlich (> 28 Tage), soll, bei nichtpalliativer Intention, nach 14–28 Tagen die Anlage einer PEG-Sonde angeboten werden.

Bei neurodegenerativer Erkrankung

  • Alzheimer-Demenz
  • Zerebralparese
  • Parkinson-Syndrom
  • Motoneuron-Krankheit, z. B. amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
  • Multiple Sklerose
  • Myasthenia gravis
  • Neurogene Dysphagien lassen sich meist durch Eigen-, Fremd- und Familienanamnese sowie spezielle neurologische Untersuchungsbefunde diagnostizieren.
  • Bei Unklarheit bezüglich des Vorliegens einer Dysphagie bzw. von Aspirationen soll zunächst ein standardisiertes Screeningverfahren, danach eine ausführliche klinische Schluckuntersuchung erfolgen.
  • Unter den apparativen Diagnoseverfahren ergänzen sich Videofluoroskopie und Endoskopie des Schluckens in ihrer Aussagekraft.

Bei Muskelerkrankungen und -funktionsstörungen

Kopf-Hals-Tumoren

  • Sind häufig durch Schmerzen, Schluckbeschwerden und Ohrenschmerzen gekennzeichnet.

Maligne Tumoren

Benigne Tumoren des Ösophagus

  • Leiomyome
  • Lipome
  • Polypen

Ösophagusdivertikel

  • Siehe Artikel Ösophagusdivertikel.
  • Divertikel sind Ausbuchtungen der Schleimhaut, die durch die muskuläre Schicht des Ösophagus dringen.
  • Am häufigsten bei Patient*innen mittleren und höheren Alters (Zenker-Divertikel)
  • Die Symptome entwickeln sich schleichend in Form von Dysphagie und Husten während der Mahlzeiten und Beschwerden im Rachenraum.
  • Die Diagnose lässt sich am einfachsten durch einen Röntgenbreischluck des Ösophagus stellen.

Lokale Entzündung

Ösophagitis

  • Eosinophile Ösophagitis
    • Betrifft vor allem jüngere Patient*innen.
    • gekennzeichnet durch chronische Dysphagie seit Kindes- oder Jugendalter
    • Typische Symptome sind neben der Dysphagie das Gefühl, dass die Nahrung stecken bleibt, sowie Brennen im Brustbereich.
    • Die Diagnose basiert auf den endoskopischen und histologischen Befunden. Es sind Biopsien entlang des gesamten Ösophagus erforderlich.
  • Ösophageale Candida-Infektion

Pharyngitis

Orale Mukositis

Seltenere Erkrankungen

Verletzungen

  • Nach Kopfverletzungen
  • Nach dem Schlucken ätzender Substanzen
  • Durch Medikamente, z. B. Doxycyclin, Chinidin, NSAR, Eisenpräparate, Alendronsäure
    • Symptome
      • Gefühl, als ob Tablette im Hals stecken würde.
      • Thoraxschmerz
      • Schmerzen beim Schlucken (Odynophagie)
      • Das Schlucken fester Nahrung ist zunehmend gestört.

Psychische Störungen

  • Schluckstörungen können als Symptom psychischer Störungen auftreten.
  • Häufig mit Globusgefühl („Kloß im Hals“)
  • Siehe auch Artikel Somatoforme Körperbeschwerden.

Presbyphagie

  • Zunehmende Schluckbeschwerden infolge normaler Alterungsprozesse
  • Kommt bei vielen pflegebedürftigen älteren Menschen vor.

Stimmbandlähmung

  • Beispielsweise Rekurrensparese nach Struma-OP oder OP an HWS, Lunge oder Schädelbasis
  • Heiserkeit, Aspirationsneigung, geschwächte Hustfunktion

Seltenere Ursachen

Anamnese

Lokalisierung?

  • Können die Patient*innen die Stelle beschreiben, an der das Hindernis sitzt?
  • Häufig können die Patient*innen gut lokalisieren, wo die Beschwerden auftreten.

Verlauf

  • Verlauf über die Zeit? Progredienz?
  • Was verursacht die Beschwerden? Feste Speisen? Alle Speisen? Flüssigkeiten?
  • Gewichtsverlauf?

Häufige Symptome

  • Schluckbeschwerden
  • Sodbrennen: Kann auf Reflux hinweisen.
  • Husten und Räuspern vor, während und nach dem Schluckvorgang kann auf einen neurologischen Defekt mit Aspiration hinweisen.
  • Globusgefühl
    • Mechanisches Hindernis, z. B. Fremdkörper, unvollständig geschluckte Nahrung oder Raumforderung?
    • Kann auch auf einer psychosomatischen Erkrankung beruhen.
  • Aufstoßen von unverdautem Essen kann auf Divertikel hinweisen.
  • Gefühl eines kompletten Verschlusses: Verdacht auf eine Krebserkrankung oder Achalasie
  • Gewichtsabnahme: Verdacht auf eine Krebserkrankung

Weniger deutliche Symptome

  • Das Essverhalten ist möglicherweise verändert.
  • Patient*innen essen z. B. langsamer und vermeiden gesellschaftliche Zusammenkünfte.
  • Sie müssen sich häufig räuspern und den Hals befreien.
  • Mahlzeiten werden vermieden.
  • Mahlzeiten werden in die Länge gezogen.
  • Es treten rezidivierende Infektionen der unteren Atemwege auf.
  • Das Atemmuster nach dem Schlucken ist verändert.
  • Es treten atypische Brustschmerzen auf.

Risikofaktoren

Klinische Untersuchung

Allgemeines

  • Allgemein- und Ernährungszustand?
  • Kognitive Funktionen?
  • Anzeichen für andere Erkrankungen?

Spezielle Aspekte

  • Stomatitis oder Glossitis? Mundwinkelrhaghaden?
  • Orale oder oropharyngeale Ulzeration oder Schwellung?
    • Verdacht auf lokale Krebserkrankung
  • Schwellungen und Knoten am Hals?
  • Unerklärliche Fieberspitzen, „feuchte“ und heisere Stimme? Kann auf Aspiration hindeuten.
  • Die Patient*innen sollen unter Beobachtung essen und trinken.
  • Stimmbandlähmung?
    • Als Folge einer zervikalen oder thorakalen Neoplasie?
  • Zungenfaszikulationen?

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

Bei Spezialist*innen

Aspirationsscreening

  • Wasser-Schluck-Tests
  • Mehr-Konsistenzen-Tests

Dysphagie-Assessment

  • Klinische Schluckuntersuchung
    • Untersuchung zur Beurteilung, ob eine funktionelle oder eine strukturelle Ursache vorliegt.
    • Kann von Logopäd*innen durchgeführt werden.
  • Flexible endoskopische Evaluation des Schluckakts (FEES)
  • Videofluoroskopische Evaluation des Schluckakts (VFSS)

Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD)

  • Ermöglicht eine gleichzeitige Biopsie.2
  • Gleichzeitig können Hypopharynx und Larynx inspiziert werden.

Ösophagus-Manometrie

  • Ist die empfohlene Untersuchung bei Verdacht auf ösophageale Motilitätsstörungen.
  • Ermöglicht die Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Motilitätsstörungen.
  • Hat die Ösophagus-Breischluck-Untersuchung weitgehend ersetzt.
  • Näheres siehe auch Artikel Ösophagusspasmus.

24-Stunden-pH-Metrie

Maßnahmen und Empfehlungen

Indikationen zur Überweisung

  • Die Überweisung zu verschiedenen Fachrichtungen kann sinnvoll sein:
    • Gastroenterologie/Ernährungsmedizin
    • HNO
    • Neurologie
    • Logopädie.

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Bei schwerer Dysphagie, die zu Ernährungsproblemen führt oder mit hohem Aspirationsrisiko einhergeht.

Empfehlungen/Therapie

  • Therapie je nach Grunderkrankung
  • Die Prognose und Therapiemöglichkeiten der zugrunde liegenden Erkrankung sind entscheidend für die weitere Behandlung.
  • Bei einem Teil der Patient*innen kann eine entsprechende Anpassung der Nahrungsaufnahme bzw. der Ernährungsform hilfreich sein.
    • angedickte Nahrung
    • kleine Mengen
  • Logopädische und rehabilitative Behandlung, z. B.:
    • Shaker-Übung
      • aus der liegenden Position heraus als isometrischer Übungsteil 3 Kopfhebungen für jeweils 60 sec
      • danach 60 sec Pause
      • anschließend 30 isokinetische, rasche Kopfhebungen
    • Exspiratory Muscle Strength Training (EMST)
      • Die übende Person atmet durch ein PEEP-Ventil gegen einen erhöhten Widerstand aus.
  • Bei neurogener Dysphagie evtl. zusätzlich:
    • apparative Stimulationsverfahren wie:
      • pharyngeale elektrische Stimulation (PES)
      • neuromuskuläre elektrische Stimulation (NMES)
      • transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS)
      • repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS).
    • Medikamentöse Behandlung erwägen. Dazu kommen vor allem TRPV1-Agonisten infrage. Sie stimulieren sensible Äste des N. laryngeus recurrens und des N. glossopharyngeus im Pharynx und im Larynx.
      • Capsaicinoide
      • Piperine (aus schwarzem Pfeffer).

Pharmakotherapie

  • Vor Einleitung einer Pharmakotherapie bei Patient*innen mit neurogener Dysphagie sollte das Störungsmuster so präzise wie möglich bestimmt werden.
  • Pharmakologische Therapien einer neurogenen Dysphagie können als Ergänzung einer logopädischen/ sprachtherapeutischen Schlucktherapie insbesondere bei Patient*innen mit dem Leitsymptom eines verzögerten Schluckreflexes in Betracht gezogen werden.
  • Aufgrund der begrenzten Evidenz für pharmakologische Therapieansätze sollten diese Therapien auf Einzelfallbasis erwogen und einer Risiko-Nutzen-Analyse unterzogen werden.

Mundhygiene

  • Bei Patient*innen mit neurogener Dysphagie sollte zur Reduktion des Pneumonierisikos eine gute Mundgesundheit etabliert und ggf. eine konsequente Mundhygiene durchgeführt werden.

Diätetische Interventionen

  • Texturmodifzierte Kost, angedickte Flüssigkeiten und/oder systematische Veränderungen der Bolusgröße sollten nur nach entsprechenden Befunden einer individuellen Schluckuntersuchung verordnet werden.
  • Das Andicken von Flüssigkeiten kann bei Patient*innen mit neurogener Dysphagie eingesetzt werden, die Aspirationen bei Flüssigkeiten zeigen.
  • Um die Patientencompliance zu verbessern, sollten unterschiedliche Andickungsmittel angeboten und getestet werden.
  • Texturmodifzierte Kost kann bei Patient*innen mit chronischer Dysphagie eingesetzt werden, um den Ernährungszustand zu verbessern.
  • Trotz des Einsatzes von texturmodifzierter Kost und angedickter Flüssigkeit weisen Patient*innen mit neurogener Dysphagie ein erhöhtes Risiko für Malnutrition, Dehydratation und Aspirationspneumonien auf und sollten daher im Hinblick auf diese Komplikationen überwacht werden.

Logopädische/sprachtherapeutische Dysphagietherapie

  • Vor Einleitung einer Dysphagietherapie sollten die Ätiologie und das Störungsmuster der Dysphagie ermittelt werden.
  • Eine systematische, regelmäßige und individualisierte logopädische/sprachtherapeutische Schlucktherapie sollte bei Patient*innen mit neurogener Dysphagie, insbesondere bei Personen mit Dysphagie nach Schlaganfall, frühzeitig eingesetzt werden.

Therapie der Hypersalivation

  • Bei Patient*innen mit neurogener Dysphagie und beeinträchtigender Hypersalivation kann eine Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin oder eine Therapie mit Anticholinergika erfolgen.
  • Gelingt unter einer medikamentösen Therapie keine ausreichende Symptomkontrolle oder verhindern Nebenwirkungen eine Fortführung dieser Behandlung, kann eine Radiotherapie der Speicheldrüsen erwogen werden.

Chronische Öffnungsstörungen des oberen Ösophagussphikters (OÖS)

  • Zur Behandlung von chronischen Öffnungsstörungen des OÖS kommen in Betracht:
    • krikopharyngeale Myotomie, offen oder endoskopisch
    • Dilatation mittels Ballon oder Bougie
    • Botulinumtoxin-Injektion, transkutan oder endoskopisch
  • Die Indikation soll nur in einem interdisziplinären Spezialistenteam gestellt werden.

Therapierefraktäre Glottisschlussinsuffizienz

  • Ggf. minimalinvasive operative Verfahren zur Medialisierung der Stimmlippen, die den Glottisschluss verbessern und so einen effektiveren Hustenstoß ermöglichen sowie das Aspirationsrisiko reduzieren.

Quellen

Literatur

  1. World Gastroenterology Organisation Global Guidelines. Dysphagia. Global Guidelines and Cascades. 2014. Milwaukee, WGO www.worldgastroenterology.org
  2. ASGE Standards of Practice Committee; Pasha SF, Acosta RD, Chandrasekhara V, et al. The role of endoscopy in the evaluation and management of dysphagia. Gastrointest Endosc 2014; 79: 191-201. PubMed

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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