Allgemeine Informationen
Definition
- Definition nach DSM-V, 2013
- Intellectual Disability (Intellectual Developmental Disorder) ersetzt den Begriff „Mental Retardation“ aus dem DSM-IV.
- Die Diagnose umfasst Beeinträchtigungen allgemeiner psychischer Fähigkeiten, die wiederum das adaptive Funktionsniveau in 3 Bereichen einschränken:
- konzeptionell: Sprache, Lesen, Schreiben, Mathematik, Urteilen, Denken, Wissen und Gedächtnis
- sozial: Empathie, soziales Urteilsvermögen, interpersonelle Kommunikationsfähigkeiten, Fähigkeiten zur Beziehungsaufnahme
- praktisch: Selbstmanagement, Hygiene, berufliche Verantwortlichkeit, Umgehen mit Geld, Freizeitverhalten, Schulbesuch und weitere Arbeitsaufgaben.
- Kriterien laut ICD-10
- Signifikant unterdurchschnittliche Intelligenz, entspricht einem IQ von 70 oder weniger.
- Beginn vor dem vollendeten 18. Lebensjahr
- signifikante Abweichungen bei adaptiven Fähigkeiten in alltäglichen Funktionen
- Siehe Tabelle Intelligenzminderung bei Erwachsenen – Einstufung.
Häufigkeit
- Verschiedene Bevölkerungsstudien ergaben bei Erwachsenen eine Häufigkeit von ca. 1–2 %.
- Die Diagnostik ist komplex, weshalb schwankende Häufigkeitsangaben möglich sein können.
Klassifikation
- Leichte Intelligenzminderung (F70)
- IQ-Bereich von 50–69 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 9 bis unter 12 Jahren)
- Lernschwierigkeiten in der Schule
- Viele Erwachsene können arbeiten, gute soziale Beziehungen unterhalten und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten.
- Mittelgradige Intelligenzminderung (F71)
- IQ-Bereich von 35–49 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 6 bis unter 9 Jahren)
- deutliche Entwicklungsverzögerung in der Kindheit
- Die meisten Betroffenen können aber ein gewisses Maß an Unabhängigkeit erreichen und eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit und Ausbildung erwerben.
- Erwachsene brauchen in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung im täglichen Leben und bei der Arbeit.
- Schwere Intelligenzminderung (F72)
- IQ-Bereich von 20–34 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 3 bis unter 6 Jahren)
- Andauernde Unterstützung ist notwendig.
- Schwerste Intelligenzminderung (F73)
- IQ unter 20 (bei Erwachsenen Intelligenzalter unter 3 Jahren)
- Die eigene Versorgung, Kontinenz, Kommunikation und Beweglichkeit sind hochgradig beeinträchtigt.
Ursachen der Intelligenzminderung
- Pränatale Ursachen
- genetische Ursachen (chromosomale Störungen, syndromale Einzelgenerkrankungen, nicht-syndromale Einzelgenerkrankungen metabolische Erkrankungen)
- erworbene Ursachen (fetales Alkoholsyndrom, anderer maternaler Substanzabusus, Ernährung, Infektionen, Stroke)
- unbekannte Ursachen (klinische Syndrome ohne bekannte genetische Ursache, multiple kongenitale Anomalien mit mentaler Retardierung)
- Perinatale Ursachen
- Asphyxie bei der Geburt
- Infektionen (Herpes-simplex-Enzephalitis, B-Streptokokken-Meningitis)
- Stroke (embolisch oder hämorrhagisch)
- Very Low Birthweight, extreme Frühgeburtlichkeit
- metabolisch (Hypoglykämie, Hyperbilirubinämie)
- Toxine (z. B. Blei)
- Postnatale Ursachen
- Infektionen (Hämophilus-influenza-b-Meningitis, Arbovirus-Enzephalitis)
- Stroke
- Trauma
- Ernährungsmangel
- Armut
- Unbekannte Ursachen
- familiär
- nicht-familiär
Komorbidität
- Bei Menschen mit Intelligenzminderung besteht eine erhöhte Inzidenz einer Vielzahl von somatischen und psychiatrischen Erkrankungen.
- Ursächlich sind biologische Risikofaktoren wie genetische Anomalien und Hirnschäden sowie psychische Risikofaktoren wie Stigmatisierung und unzureichende soziale Integration.
- Häufig übersehene gesundheitliche Beschwerden betreffen die Sexualität, sexuell übertragbare Krankheiten sowie Fragen am Ende des Lebens.
- Anzahl und Umfang der Komorbiditäten nehmen mit erhöhtem Grad der Intelligenzminderung zu.
- Häufige Komorbiditäten sind Sprachschwierigkeiten, Epilepsie und motorische Schwierigkeiten, Sinnesstörungen wie Blindheit und Taubheit sowie Verhaltensstörungen und autistische Züge.1
ICPC
- P85 mentale Retardierung
ICD-10
- F70.- Leichte Intelligenzminderung
- F71.- Mittelgradige Intelligenzminderung
- F72.- Schwere Intelligenzminderung
- F73.- Schwerste Intelligenzminderung
- F74.- Dissoziierte Intelligenzminderung
- F78.- Andere Intelligenzminderung
- F79.- Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung
Besonderheiten bei Arztbesuchen
- Es ist sinnvoll, dass Patient*innen mit Intelligenzminderung mit einer Begleitperson zu Arztbesuchen erscheinen.
- Das ärztliche Personal sollte sich entsprechend auf die Termine mit Menschen mit Intelligenzminderung vorbereiten (inhaltlich, didaktisch, emotional).
- Ein besonderes Augenmerk sollte auf der Vermeidung körperlich und emotional belastender Erlebnisse liegen.
- Vorsicht bei Gabe von Benzodiazepinen wegen möglicher paradoxer Reaktionen mit erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität!
- Eine gründliche und genaue Dokumentation verbessert die Behandlungsqualität.
- Internationale Leitlinien empfehlen insbesondere bei Menschen mit Intelligenzminderung regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen.2
- Der Allgemeinzustand ist häufig im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung reduziert, und somatische Erkrankungen sind häufiger.
- Häufig unentdeckt und somit unbehandelt bleiben Übergewicht, unausgewogene Ernährung, Bewegungsmangel und weitere Zivilisationskrankheiten.3
- Eine genetische Untersuchung kann bei Verdacht auf nicht diagnostizierte Syndrome oder Erkrankungen indiziert sein.
Diagnostik
Anamnese
- Die Informationen über Entwicklungsstand, Entwicklungs- inklusive Bildungsgeschichte, Krankheitsgeschichte nebst Komorbiditäten und störungsrelevanter Rahmenbedingungen sollten durch Befragung von mehreren zuverlässigen, unabhängigen Quellen erhoben werden.
- Die betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbezogen werden.
- Evaluation von:
- Risiken während der Schwangerschaft
- Geburt und Neugeborenenperiode
- Meilensteinen der Entwicklung (inklusive motorische Entwicklung, Sprachentwicklung und Sauberkeitsentwicklung)
- Beginn, Intensität (Gesamtentwicklung, Teilbereiche) und der Verlauf der Entwicklung (Stillstand, Abbau, auch Beeinflussung durch Belastungen)
- Entwicklungsstörungen und Behinderungen in der Familie
- sozialer Kompetenz und Integration in die Familie bzw. Gesellschaft
- belastenden Bedingungen versus Ressourcen in der Familie
- Förderungskonzepten und -möglichkeiten der Eltern bzw. Institutionen, Entwicklungs- und Bildungsverlauf
- der Krankheitsanamnese (inklusive somatischer und psychischer Auffälligkeiten, Vordiagnostik und Vorbehandlungen).
- Hinsichtlich psychosozialer Bedingungen und familiärer Ressourcen
- spezifische Bewältigungsstrategien
- Erziehungsverhalten
- emotionales Klima in der Familie
- Erfahrungen mit Einstellungen und dem Verhalten der Umwelt
- Informationsstand über den Grad der Behinderung
- Hypothesen über die Entstehung der Behinderung
- Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit mit den betreuenden und schulischen Einrichtungen
- Erleben der familiären Belastungen
- Familienanamnese: Krankheiten und Syndrome (z. B. Chromosomenaberrationen, Stoffwechselerkrankungen, Sinnesbehinderungen, Zerebralparese, Fehlbildungen, Epilepsie)
Körperliche Untersuchung
- Der klinische Eindruck sollte im unmittelbaren Kontakt mit den Patient*innen gewonnen werden, wobei sich die Untersuchenden in der Art der Kontaktaufnahme auf die Patient*innen einstellen sollten.
- Möglichst umfassendes Bild von den Beeinträchtigungen und Kompetenzen der Patient*innen erlangen.
- Allgemeine körperliche Untersuchung
- Neurologische Untersuchung
- Ggf. Erhebung eines psychischen Befundes
Diagnosestellung durch Spezialist*innen
- Mögliche Testverfahren sind nicht regelhaft durch Allgemeinmediziner*innen, sondern durch erfahrene (Kinder- und Jugend-)Psychiater*innen durchzuführen.
- Die Diagnostik beruht nach ICD-10 auf dem klinischen Eindruck, Testintelligenz IQ < 70 und deutlichen Rückständen im adaptiven Verhalten.
- Differenzialdiagnostische Überlegungen sollten miteinbezogen werden.
- Ist wegen komorbider Störungen oder erheblicher Verhaltensprobleme keine valide Einschätzung möglich, kann eine „Sonstige Intelligenzminderung“ (F78) diagnostiziert werden, wenn die vorliegenden Informationen eine Intelligenzminderung nahelegen.
- Komorbide psychische Störungen sollen separat kodiert werden, wenn sie eine eigene Entität darstellen.
Weitere Diagnostik bei Spezialist*innen
- Genetische Untersuchung
- Sofern sich aus Anamnese und körperlicher Untersuchung kein spezifischer V. a. eine Ätiologie der Intelligenzminderung ergibt, soll eine genetische Stufendiagnostik empfohlen werden.
- Die genetische Stufendiagnostik soll Verfahren des „Next Generation Sequencing“ beinhalten (z. B. Panel Diagnostik).
- Das „Whole Exome Sequencing“ soll bei Patient*innen durchgeführt werden, bei denen die Ätiologie mit anderen genetischen Verfahren nicht geklärt werden konnte.
- Bei spezifischem Verdacht soll eine ausführliche Stoffwechseldiagnostik zum frühestmöglichen Zeitpunkt durchgeführt werden.
- Eine EEG-Untersuchung kann sowohl bei Patient*innen mit V. a. Anfallsereignisse als auch bei Personen ohne Anfallsereignisse sinnvoll sein.
- Es sollte eine Abklärung des Hör- und Sehvermögens erfolgen.
Besondere medizinische Aspekte
Mundhygiene
- Die Mundhygiene kann u. U. von Menschen mit Intelligenzminderung vernachlässigt werden.
- Parodontale Erkrankungen sind häufig.
- Ein Krankenhausaufenthalt kann notwendig werden, um eine adäquate Zahnpflege zu ermöglichen.
- Allgemeinmediziner*innen sollten die Notwendigkeit regelmäßiger Zahnarztbesuche für die Patient*innen mitbedenken.
Hautpflege
- Bei Patient*innen mit eingeschränkter Mobilität oder Inkontinenz besteht ein erhöhtes Risiko für Hautschäden.
- Im Rahmen der allgemeinmedizinischen Kontakte ist es empfehlenswert, einen groben Überblick über den Hautstatus zu erlangen und ggf. Pflegemaßnahmen zu empfehlen.
Sehen und Gehör
- Sehstörungen sind bei Menschen mit Intelligenzminderung deutlich häufiger als bei der Allgemeinbevölkerung.4
- Mögliche Sehstörungen umfassen Schielen, Sehfehler, Astigmatismus, begrenzte Okulomotorik, kortikale Sehstörungen und Katarakte.
- Schwerhörigkeit ist ebenfalls eine häufige Komorbidität.4
- Es besteht eine erhöhte Neigung zu Infekten, wiederkehrenden Ohrinfektionen und Flüssigkeitsansammlungen im Mittelohr.
Erkrankungen der Atemwege
- Menschen mit Intelligenzminderung leiden nicht selten unter obstruktiver Schlafapnoe.
- Eine CPAP-Therapie wird durch diese Patient*innen oftmals nicht gut toleriert.
- Für behandlungsbedürftige Patient*innen können chirurgische Eingriffe wie die Uvulopalatopharyngoplastik oder genioglossale Verschiebung eine Option darstellen.
Gastrointestinale Beschwerden
- Schluckbeschwerden
- Nicht selten entwickeln Patient*innen mit Intelligenzminderung Schluckbeschwerden, die zu Aspiration, Unterernährung und schlechter Flüssigkeitszufuhr führen können.
- Eine mit dem Füttern verbundene Hypoxämie kann mithilfe einer Pulsoxymetrie identifiziert werden.
- Die Verwendung einer Ernährungssonde zur Umgehung der Aspiration ist umstritten, eine Unterernährung kann allerdings eine künstliche Nahrungszufuhr erforderlich machen.
- Gastroösophagealer Reflux
- Bei Gefahr einer Aspiration von Reflux kann eine Fundoplikatio hilfreich sein.
- Ist häufig bei Menschen mit Down-Syndrom anzutreffen und kann Beschwerden wie Halsschmerzen, Aspirationstendenzen, Husten oder Verhaltensänderungen erklären.
- Obstipation
- Obstipation ist bei Menschen mit Intelligenzminderung häufig und kann zu unerklärlichen Verhaltensänderungen führen.
- Ursächlich können angeborene Fehlbildungen, psychosomatische Ursachen oder Nebenwirkungen von Medikamenten sein.
- Prophylaktische Maßnahmen zur Darmregulierung sind empfehlenswert.
Gynäkologische Beschwerden
- Menstruationsbeschwerden können zu einer großen Vielfalt an psychischen Auffälligkeiten führen.
- Medikamentöse Kontrazeption setzt stets die Sicherstellung einer Aufklärung und Zustimmung von Mädchen und Frauen mit Intelligenzminderung voraus.
- Falls eine gesetzliche Vertretung die Entscheidung für die Patientinnen trifft, ist sie verpflichtet, sich dabei am Wohl der Patientinnen zu orientieren.
- Die Kupfer- oder Hormonspirale stellen eine Option dar bei:
- Mehrfachbehinderung
- Complianceproblemen
- Kontraindikation von Östrogen
- schwerer Intelligenzminderung.
- Einsatz medikamentöser Kontrazeption zur Erleichterung der Menstruationshygiene oder zur Linderung von Menstruationsbeschwerden sind kritisch zu hinterfragen.
- Zuvor weitere Maßnahmen (Beratung, Anleitung, nichtmedikamentöse Hilfen) zur Menstruationshygiene ausschöpfen.
- Wahl der Applikation (Injektion statt oraler Gabe) sollte primär am Wohl der betroffenen Frau und nicht an der Reduktion des Betreuungs- bzw. Pflegeaufwandes orientiert sein.
- Medikamentennebenwirkungen und Wechselwirkungen sind mit dem Nutzen einer kontrazeptiven Behandlung abzuwägen.
- Bei Patient*innen mit Intelligenzminderung besteht ein erhebliches Defizit hinsichtlich der Aufklärung über den Schutz vor sexuell übertragbaren Erkrankungen.
Sexualität
- Menschen mit Intelligenzminderung sollten zu den Themenkomplexen Reproduktion und sexuell übertragbare Krankheiten aufgeklärt werden.
- Chirurgische oder medizinische Eingriffe, die die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen, sollten erst nach einer sorgfältigen Prüfung der Rechtsvorschriften umgesetzt werden. Die Sterilisation minderjähriger geistig behinderter Menschen ist unzulässig und nicht durch Einwilligung zu rechtfertigen. Die Sterilisation geschäftsunfähiger geistig behinderter volljähriger Menschen bedarf der Einwilligung der Patient*innen, ungeachtet der Frage der rechtlichen Betreuung.
Neurologische Störungen
- Epileptische Anfälle oder unwillkürliche Krämpfe können bei intelligenzgeminderten Patient*innen häufiger auftreten und schwerer kontrollierbar sein als in der Allgemeinbevölkerung.
- Patient*innen, die Neuroleptika einnehmen, können extrapyramidale Zeichen und tardive Dyskinesien entwickeln, die leicht falsch interpretiert werden können.
- Schmerzempfindung und Reaktion auf äußere Reize können sich atypisch äußern.
- Neu aufgetretene Schmerzen sollten sorgfältig untersucht werden.
Zerebralparese
- Ein Teil (17–60 %) der Menschen mit Zerebralparese leidet zudem unter einer Intelligenzminderung.
- Die Zerebralparese wird in eine spastische, ataktische und dyskinetische Form unterteilt.
- Die spastische Zerebralparese ist am häufigsten, 3 Formen werden unterschieden:
- Spastische Hemiplegie: Spastik der rechten oder linken Körperhälfte, wobei die Arme meist stärker betroffen sind als die Beine.
- Spastische Diplegie: Beide Arme und Beine sind betroffen, die Beine jedoch deutlich stärker als die Arme. In dieser Gruppe sind Intelligenzminderungen am seltensten.
- Spastische Quadriplegie/Tetraplegie: Spastik aller Gliedmaßen, Gesichts- und Mundmotorik ist häufig mitbetroffen.
- Die Prävalenz von Epilepsie ist bei Menschen mit Zerebralparese hoch.5
- Der Schweregrad der Epilepsie steigt mit dem Grad der Hirnschäden.
Muskel- und Skeletterkrankungen
- Neuromuskuläre Skoliose
- Tritt bei Menschen mit Intelligenzminderung häufiger als in der Allgemeinbevölkerung auf.
- Eine Therapie mittels Korsett ist bei dieser Entität nicht regelhaft zur Stabilisierung empfehlenswert.
- Eine orthopädische Vorstellung zur Klärung der Frage einer operativen Versorgung kann sinnvoll sein, um eine Progression der Erkrankung zu verhindern.
- Respiratorische Komplikationen und chronische Schmerzen sind häufig.
- Kontrakturen
- Gehäuft insbesondere bei Patient*innen, die die unteren Gliedmaßen nicht verwenden können aufgrund von Lähmungen.
- Zur symptomatischen Behandlung können chirurgische Eingriffe wie eine Sehnenverlängerung, Sehnenfreisetzung oder Osteotomie infrage kommen.
- Spastik
- häufige Komorbidität bei Menschen mit Intelligenzminderung
- Peroral verabreichte Muskelrelaxanzien können zwar Linderung bringen, sind jedoch häufig mit der unerwünschten Nebenwirkung einer Sedierung verbunden.
- Physikalische Therapie, Physiotherapie, Dehnübungen, Entlastung und Fixierung mittels spezieller orthopädischer Hilfsmittel können die Beschwerden lindern.
- Als Ultima Ratio stehen invasive Eingriffe wie lokale Injektionen mit Botulinumtoxin oder die Verwendung einer Baclofen-Pumpe zur Verfügung.
- Osteoporose
- Etwa 50 % aller Erwachsenen mit Intelligenzminderung leiden unter Osteoporose oder Osteopenie.
- Ein erhöhtes Risiko für Osteoporose besteht insbesondere bei Zerebralparese, Down-Syndrom, der Einnahme von Antiepileptika, speziellen Diäten (z. B. ketogener Diät zur Kontrolle von Krämpfen) und Hypogonadismus.
Psychische Aspekte
- Plötzlich auftretende Verhaltensänderungen können bei Menschen mit Intelligenzminderung häufig ein erstes Anzeichen für eine Veränderung des Allgemeinzustandes sein.
- Vor der Verdachtsdiagnose einer psychiatrischen Erkrankung sollten bei Menschen mit Intelligenzminderung auch somatische Ursachen sowie Veränderungen im sozialen Umfeld als Ursache für Verhaltensänderungen in Betracht gezogen werden.
- Neuropsychiatrische Erkrankungen wie Zwangsstörungen, ADHS und Stimmungsschwankungen können bei Menschen mit Intelligenzminderung ebenfalls gehäuft auftreten und unbehandelt zu einer besonderen Belastung werden.
- Die Therapieprinzipien bei psychiatrischen Erkrankungen sind im Wesentlichen die gleichen wie in der Allgemeinbevölkerung.
- Eine Ausnahme stellt die Therapie mit Benzodiazepinen dar, die bei 10–15 % der Patient*innen mit Intelligenzminderung paradoxe Reaktionen mit erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität auslösen kann.
- Ziel der Therapie (Verhaltenstherapie, Psychotherapie, pharmakologische Therapie) ist neben der Vermeidung physischer und emotionaler Traumata die Beschwerdelinderung und gleichzeitig eine verbesserte Integration in die Gesellschaft.
- Menschen mit Intelligenzminderung erhalten häufiger psychopharmakologische Medikamente als der Durchschnitt der Allgemeinbevölkerung.6
- Häufig werden Verhaltensänderungen fälschlicherweise der Intelligenzminderung zugeschrieben, sodass die Therapie einer psychiatrischen Grunderkrankung unterbleibt.
- Ein weiteres Dilemma besteht darin, dass nicht selten statt einer etablierten Verhaltensintervention psychotrope Medikamente verordnet werden.
- Psychotherapie sollte bei Patient*innen mit leichter bis mäßiger Intelligenzminderung und entsprechender Indikation prinzipiell immer in Betracht gezogen werden.
- Medikamente sollten nach Möglichkeit nur kurzzeitig bei Eigen- oder Fremdgefährdung und nicht generell zur Verhaltenskontrolle eingesetzt werden.
- Eine gründliche Aufklärung und Beratung in Bezug auf den übermäßigen Genuss von Alkohol und anderen Drogen ist bei Menschen mit Intelligenzminderung besonders wichtig.
- Patient*innen und Pflegende sollten zu den Themen Sexualität, sexueller Missbrauch, Verhütung und Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten sensibel und gründlich informiert werden.
Rechtliche Fragen
Einwilligungsfähigkeit
- Die Beurteilung der Fähigkeit, bewusst einzuwilligen oder sich an medizinischen Entscheidungen zu beteiligen, kann deutlich erschwert sein.
- Es darf nicht angenommen werden, dass alle Erwachsenen mit Intelligenzminderung außer Stande sind, medizinische Entscheidungen zu treffen.
- Bei Unklarheiten hierzu sollte eine formale Beurteilung der Kompetenzen der Patient*innen erwogen werden.
- In Rücksprache mit den Angehörigen und erfahrenen Psychiater*innen sollten folgende Aspekte diskutiert werden:
- Notwendigkeit einer rechtlichen Betreuung?
- Pflegegrad?
- Schwerbehindertenausweis?
- Festlegung des Grades der Behinderung?
Behandlungsziele
- Aufgrund der vielen behandelbaren Ursachen sollte eine ätiologische Abklärung bei Patient*innen mit Intelligenzminderung immer und zwar zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen.
- Bei der Betreuung und Begleitung von Patient*innen mit einer Intelligenzminderung soll unabhängig von deren Alter der Blick vom Anfang an auf der Teilhabe liegen. Folgende Bereiche sind relevant:
- Lernen und Wissensanwendung
- allgemeine Aufgaben
- Kommunikation
- Mobilität
- Selbstversorgung
- häusliches Leben
- interpersonelle Beziehungen
- bedeutende Lebensbereiche
- Gemeinschaftsleben
- soziale und staatsbürgerliche Teilhabe.
- Maßgeblich sind die Ziele und Bedarfe der Betroffenen und ihres Umfeldes, deren Verwirklichung eine interdisziplinäre Aufgabe sein kann.
Quellen
Literatur
- Emerson E, Baines S. Health Inequalities & People with Learning Disabilities in the UK: 2010. strathprints.strath.ac.uk
- Robertson J, Roberts h, Emerson E, Turner S, Grieg R. The impact of health checks for people with intellectual disabilities: a systematic review of evidence. Journal of Intellectual Disability Research 2011; 55: 1009-19. PubMed
- Haveman M, et al. Ageing and health status in adults with intellectual disabilities: results of the European POMONA II study. J Intellect Dev Disabil 2011; 36: 49-60. PubMed
- Prasher VP, Madhavan GP. Epidemiology of intellectual disability and comorbid conditions. University of Hertfordshire 2011. www.intellectualdisability.info
- Knezević-Pogancev M. Cerebral palsy and epilepsy. Med Pregl 2010; 63: 527-30. PubMed
- Ulzen TP, Powers RE. A review of empirical evidence of somatic treatment options for the MI/DD population. Psychiatr Q 2008; 79: 265-73. PubMed
Autor*innen
- Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster