Stiff-Person-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Chronische autoimmun­entzündliche Erkrankung des ZNS, charakterisiert durch massive rigide Steigerung des Muskeltonus und schmerzhaft einschießende Spasmen (diagnostische Kernkriterien), die in Episoden mit Ruhephasen auftreten können, aber zumeist schleichend progredient verlaufen.
  • Häufigkeit:Die Prävalenz wird auf 1–2 Personen pro 1 Mio. geschätzt. Die Inzidenz liegt bei 1 Person pro Mio. pro Jahr. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
  • Symptome:Schleichend progrediente Rigidität und Muskelspasmen, die in der Regel durch Bewegungen, Berührungen, Kälte, Lärm und Emotionen ausgelöst werden können. Die Lokalisation ist beim SPS meistens der Rumpf und rumpfnahe Extremitäten, durch Progredienz der Symptomatik können aber auch andere Bereiche betroffen sein.
  • Befunde:Die klinischen Symptome umfassen einen erhöhten Muskeltonus („brettharte“ Muskulatur), der proximal am deutlichsten ausgeprägt ist. Evtl. kommt es zu Versteifung der Extremitäten in Extensionsstellung. Im Krankheitsverlauf können eine Hyperlordose, Ankylosen und/oder ein starres breitbeiniges Gangbild imponieren. Die neurologische Untersuchung ergibt keinen eindeutigen Befund.
  • Diagnostik:Die Diagnose erfolgt auf Grundlage des klinischen Erscheinungsbildes, allerdings können im Blut und Liquor nachgewiesene Autoantikörper den Verdacht bestärken. MRT und Blutuntersuchungen sollten zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen und assoziierten Begleiterkrankungen erfolgen. Ununterdrückbare anhaltende Muskelaktivitäten in der Elektromyografie können die Diagnose erhärten, sind aber weder obligat noch pathognomisch.
  • Therapie:Verbesserung der Symptome und Vorbeugung von Komplikationen. Diazepam ist bei dieser Diagnose oft wirksam. Bei Unverträglichkeit oder fehlender Wirksamkeit kann eine Immuntherapie eingeleitet werden.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Historische Bezeichnung: „Stiff-Man-Syndrom“
  • Synonym: Moersch-Woltman-Syndrom
  • Die Krankheit wurde erstmals 1956 beschrieben.1
  • Das Stiff­-Person-­Syndrom (SPS) ist eine chronische, autoimmun­-entzündliche Erkrankung des ZNS.
  • Es können motorische, vegetative, neuropsychiatrische, endokrinologische und sekundär orthopädische Symptome im Zusammenhang mit der Erkrankung auftreten.
  • Obligate Kernsymptome von SPS sind:
    • fluktuierende Rigidität
    • schmerzhaft einschießende Spasmen
    • Die häufigste Lokalisation sind Rumpf und Beine.
  • SMS-Spektrum-Erkrankungen
    • Stiff-Person-Syndrom
    • Stiff-Limb-Syndrom (SLS, Minusvariante) mit Beschränkung der Symptomatik auf eine Extremität
    • progressive Enzephalomyelitis mit Rigidität und Myoklonien (PERM, Plusvariante) mit weiteren, manchmal flüchtigen neurologischen Symptomen 
      • Okulomotorikstörung, epileptische Anfälle, Pyramidenbahnzeichen, Ataxie, Paresen, Sensibilitätsstörungen, Dysautonomie

Einteilung in drei Kategorien

  1. Klassisches SPS
    • 70–80 % der Patient*innen2
    • generalisierte Rigidität
    • Steifheit des Stammes
    • regelmäßige Muskelspasmen
  2. Partielles SPS
    • 10–15 % der Patient*innen2
    • häufigste Form: Stiff-Limb-Syndrom mit Bewegungseinschränkung und Steifheit eines Beines
    • andere isolierte Form: schmerzhafte Spasmen der Muskulatur des Abdomens oder der Brust
  3. Paraneoplastisches SPS
    • weniger als 2 % der Patient*innen2
    • Klinisch nicht vom klassischem SPS zu unterscheiden.
    • normalerweise keine Anti-GAD65-Antikörper, aber ggf. Antikörper gegen Amphiphysin, meist Mamma- oder Bronchialkarzinom3
    • DPPX-Antikörper sind in 7 % der Fälle mit der chronisch lymphatischen Leukämie und B-Zell-Lymphomen assoziiert.
    • Ungefähr 9 % der Fälle sind mit GlyR-Antikörper assoziiert mit Tumoren.
      • Thymome, seltener Lymphome, Mamma- oder Bronchialkarzinom
    • Andere mögliche Tumoren sind: Kolon- und Pharynxkarzinom, Teratom.
  • Progressive Enzephalomyelitis mit Rigidität und Myoklonien (PERM, Plusvariante)
    • in weniger als 0,1 % der Patient*innen

Häufigkeit

  • Prävalenz: 1–2 Personen pro Mio.2
  • Inzidenz: 1 Fall pro Mio. pro Jahr2
  • Geschlecht: 2/3 Frauen2
  • Erkrankungsalter
    • 1–81 Jahre
    • Mittel: 46 Jahre
    • am häufigsten zwischen 20 und 50 Jahren2
    • Kinder sind sehr selten betroffen.2

Ätiologie und Pathogenese

  • Es liegt wahrscheinlich eine autoimmune Prädisposition vor, v. a. bei Patient*innen mit Anti-GAD65-Autoantikörpern.
  • Die Vererbung bestimmter HLA-Allele kann im Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko, an SPS zu erkranken, stehen.2
  • Komorbiditäten können bestimmte Autoimmunerkrankungen sein: Typ-1-Diabetes, atrophische Gastritis, perniziöse Anämie, Vitiligo, Thyreoiditis
  • Vorkommen neuronaler Antikörper in Serum und/oder Liquor (30 % der Patient*innen zeigen keine Antikörper)2
  • Anti-GAD-Antikörper (ca. 70 % der Patient*innen)2
    • erhöhter Serumspiegel von Antikörpern gegen GAD65
    • lokale Produktion von Anti-GAD65-Antikörpern im Zentralnervensystem4
    • GAD65 katalysiert die Umwandlung von Glutamat zu GABA im zentralen Nervensystem.5
    • Antikörper gegen GAD65 führen zu einer verminderten Bildung von GABA und zu niedrigeren GABA-Spiegeln im Gehirn.
    • Die pathogenetische Rolle von Anti-GAD-Antikörpern ist weiterhin unklar.
    • keine Korrelation zwischen Antikörpertiter und Krankheitsaktivität
  • Möglicherweise treten weitere Antikörper auf.
    • gegen Proteine inhibitorischer Synapsen
      • 10–15 % Glyzin-Rezeptor (GlyR)2
      • 2 % Amphiphysin (Cave: paraneoplastisches SPS!)2
      • < 2 % GABAAR
    • gegen ein regulatorisches Protein von Kaliumkanälen
      • < 2 % DPPX
  • Elektrophysiologisch und klinisch fällt eine Übererregbarkeit des Zentralnervensystems auf.

Komorbidität

  • Typ-1-Diabetes (DMT1)
    • ca. 80 % der Patient*innen mit DMT1 mit Anti-GAD65-Antikörpern2
    • Ca. 30 % der Patient*innen mit SPS entwickeln einen DMT1.2
    • Lediglich 0,01 % der Patient*innen mit DMT1 erkranken an SPS.2
  • Andere autoimmune Erkrankungen
  • Sonstige Erkrankungen
    • Etwa 5 % der Patient*innen mit einem paraneoplastischen Stiff-Person-Syndrom leiden an Brustkrebs oder kleinzelligem Lungenkrebs.
    • Selten treten Paraneoplasien bei GAD-Antikörpern auf.
    • 10 % der Patient*innen leiden zusätzlich an einer Epilepsie.

ICPC-2

  • L29 Muskuloskel. Sympt./Beschw. andere

ICD-10

  • G25.88 Stiff-Person-Syndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Anamnese sowie klinische Befunde können Hinweise auf die Erkrankung ergeben.
  • Ein Nachweis von neuronalen Antikörpern stärkt die Verdachtsdiagnose, kann diese aber nicht sichern.

Differenzialdiagnosen

  • Psychogene/funktionelle Bewegungsstörungen
    • fehlende Rigidität
    • ausgeprägte Bewegungsanstrengung und -verlangsamung
    • Polymorphie von Spasmen und/oder Bewegungsstörungen
    • Negierung emotionaler Beinflussbarkeit
    • keine Besserung durch geringe Unterstützung
  • Primär schmerzbedingter Muskelhartspann
    • ausgeprägtes Schmerzvermeidungsverhalten (auch bei SPS möglich)
    • keine fremdreflektorische Steigerung des Muskeltonus
    • keine Agoraphobie
    • keine Spasmen
  • Intraspinale Tumoren, Durafistel, chronische Myelitis
    • Pyramidenbahnzeichen
    • Sensibilitätsstörungen
    • motorisch und somatosensibel evozierte Potenziale
  • Paraneoplastische Myelopathie
  • Neuromyelitis optica
    • oft sehr schmerzhafte, tonische Spasmen
    • Willkürbewegungen
    • fehlende Agoraphobie
    • geringe emotionale Beinflussbarkeit
  • Multiple Sklerose
    • Siehe Neuromyelitis optica.
  • Tetanus
    • EMG: Verlust der reflektorischen Inhibition
    • bei SPS keine Gesichtskrämpfe und/oder Trismus
  • Strychnin-Intoxikation
    • Siehe Tetanus.
  • Parkinson
  • Erworbene Hyperekplexie
    • obligater Kopfretraktionsreflex
    • fehlende Rigidität
    • ängstliche Gangstörung
  • Neuromyotonie
    • Polyneuropathiesyndrom mit innervationsabhängigen Muskelkrämpfen
    • EMG: polymorphe pathologische Spontanaktivität
    • Labor: Autoantikörper gegen CASPR2
  • Spondylitis ankylosans
  • Axiale Dystonie
    • Dystonie v. a. im Stehen
    • oft Beteiligung kraniozervikaler Muskulatur mit Torsionsbewegungen
    • klinisch und elektrophysiologisch keine Reflexanomalien
    • fehlende emotionale Beinflussbarkeit
    • fehlende Agoraphobie

Anamnese

  • Obligate Kernsymptome sind eine schleichend progrediente Rigidität und regelmäßige Spasmen.
  • Rigidität
    • anhaltende Muskelkontraktionen in antagonistischen und agonistischen Muskeln
  • Spasmen
    • Streckmuster von Rumpf und Beinen, häufig myoklonischer Beginn
    • häufig sehr schmerzhaft
    • können Frakturen verursachen
  • Lokalisation
    • klassisches SPS: initial am Rumpf, rumpfnahe Anteile der Extremitäten, meist symmetrisch, gelegentlich Füße, selten Arme, Gesicht und/oder Hände
    • SLS: eine Extremität ist betroffen, Rigidität und Spasmen sind auf diese Extremität begrenzt.
  • Verlauf von Rigidität und Spasmen
    • fluktuierend
    • aktionsinduzierte Zunahme
    • Beginn häufig mit axialer Muskulatur, dann Progression auf die proximalen unteren Extremitäten
  • Auslöser von Rigidität und Spasmen
    • exterozeptive Stimulation wie Kälte, Berührung, Wärme, Lärm, plötzliche Bewegung, emotionale Aufregung
    • gesteigerte Schreckreaktion (Startle): Auslösen von Myoklonien und Spasmen durch Telefonklingeln, Berührung
  • Folgen und Komplikationen im Verlauf
    • Skelettdeformitäten durch anhaltende Kontraktion mit Hyperlordose, möglicherweise Ankylosen, Subluxationen oder Frakturen durch Spasmen
    • Gangstörung
      • bizarres, ängstliches, breitbeiniges Gangbild 
      • Verschlechterung bei erhöhter Anforderung (Treppe, Eile) bis zur vollständigen Gangblockade („Freezing“)
      • Verbesserung durch leichte Unterstützung
    • Stürze durch myoklonische Spasmen bei erhaltenem Bewusstsein ohne erfolgreiche Abfangreaktion, dadurch erhebliche Verletzungsgefahr
    • 44,2 % der Patient*innen mit Angstattacken/Agoraphobie: beim freien Stehen/Laufen, auf offenen Flächen („Task-specific Phobia“), häufig Auslöser von Spasmen und erhöhter Rigidität
    • progrediente Einschränkung der Mobilität
    • ggf. Notwendigkeit von Hilfsmitteln
    • Aktivitäten des Alltags (aus dem Bett aufstehen, Körperpflege) können stark eingeschränkt werden.
    • Bettlägerigkeit als Spätfolge möglich
    • Entwicklung einer Depression, Suizidgedanken erfragen!
  • Zusätzliche mögliche Symptome
    • autonome Dysregulation 
      • profuses Schwitzen
      • Hyperthermie
      • Tachykardie
      • Mydriasis
      • arterielle Hypertonie
      • 17 % der Patient*innen mit Dyspnoe in Ruhe und während des Schlafs
    • Harnretention/-inkontinenz und/oder basale Hirnnervenausfälle: oft bei GlyR-Autoantikörpern
    • gastrointestinale Störungen und/oder Allodynie: bei DPPX-Autoantikörpern
  • Zusätzlich beim paraneoplastischen SPS
    • Gewichtsabnahme, Fieber, nächtliches Schwitzen (B-Symptomatik)
  • PERM mit einem/mehreren der folgenden Symptome:
    • Augenbewegungsstörungen (Opsoklonus, Nystagmus)
    • Hirnstammausfall
    • Hirnnervenausfälle
    • epileptische Anfälle
    • Myoklonien
    • Sensibilitätsstörungen
    • autonome Funktionsstörungen
    • oberes und/oder unteres Motorneuron-Syndrom
    • kognitive Defizite
    • zentrale Paresen
  • Begleiterkrankungen erfragen!
  • Depression/Angst?

Konnatale Hyperekplexie (Stiff-Baby-Syndrom)

  • Die klinische Trias sind generalisierte Rigidität, nächtliche Myoklonien und eine gesteigerte Schreckreaktion.6
  • Stress und starkes Erschrecken sind häufige Ursachen für Anfälle bei Kindern.
  • Häufig treten Hypertonie und tonische Spasmen im Zusammenhang mit auditiven oder taktilen Reizen sowie während des Erwachens auf.6
  • Die Gehfähigkeit setzt in der Regel etwas später als bei gesunden Kindern ein.
  • Es ist häufiger die distale Muskulatur als beim SPS betroffen.
  • Ein Opisthotonus ist möglich.

Klinische Untersuchung

  • Eine ausführliche körperliche Untersuchung ist notwendig und sollte immer im Verlauf durchgeführt werden.
    • Progression von SLS zu SPS zu PERM möglich
    • Muskelsteifigkeit von Rumpf und v. a. proximalen unteren Extremitäten
    • „brettharte“ Muskulatur
  • Kompletter neurologischer Status
    • Hirnnervenstatus: Hirnnervenausfälle bei PERM
    • Muskeltonus: generell erhöht, proximal stärker ausgeprägt als distal
    • Reflexstatus: gesteigerte Eigenreflexe, Verlust der Bauchhautreflexe, lebhafter Kopfretraktionsreflex bei PERM
    • Sensibilität: Sensibilitätsstörung bei PERM
    • Pyramidenbahnzeichen: bei PERM
  • Die klinische neurologische Untersuchung ergibt keinen sicheren und objektiven pathologischen Befund.
  • Nach Perkussion des Muskels
    • tonische Kontraktionen mit langen Relaxationszeiten 
  • Unterbrechung der Tonuserhöhung durch:
    • Schlaf
    • periphere Nervenblockade
    • Spinalanästhesie
    • Narkose.
  • Gangbild 
    • übermäßig starre Haltung („Zinnsoldaten“)
    • steifbeinig
    • Verbesserung bei geringer Unterstützung
    • paroxysmale Stürze
    • zerebelläre Ataxie bei PERM
  • Skelettdeformitäten
    • fixierte Hyperlordose
    • Ankylosen
    • evtl. Versteifung der Extremitäten in Extensionsstellung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Blutzucker und HbA1c
  • Schilddrüsendiagnostik 
    • TSH
    • Antikörper gegen Schilddrüsen-Antigene (TPO. TRAK, MAK)
  • Vitamin-B12-Spiegel zum Ausschluss eines Vitamin-B12-Mangels
  • Muskelenzyme wie CK und Aldolase können leicht erhöht sein.
  • CRP und großes Blutbild, Retentionsparameter, Leberwerte zum Ausschluss anderer Erkrankungen

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Neuronale Autoantikörper2
  • Untersuchung auf alle der folgenden Autoantikörper sollte erfolgen, da mehrere neuronale Antikörper gleichzeitig vorkommen können.
    • 10–15 % GlyR-Antikörper
    • ca. 2 % Amphiphysin-Antikörper (Cave: paraneoplastisches Geschehen!)
    • < 2 % DPPX und GABAAR-Antikörper
    • 70 % der Patient*innen mit SLS/SPS/PERM zeigen GAD65-Antikörper im Serum.
      • keine Voraussetzung für die Diagnose, nicht spezifisch für SPS
  • Elektromyografie (EMG) 
    • nicht unterdrückbare anhaltende Aktivität von normalen motorischen Einheiten mit niedriger Frequenz, nicht pathognomisch oder obligat
    • simultane Kontraktionen in Agonisten und Antagonisten2
    • durch Elektrostimulation
      • Evozierung generalisierter Spasmen mit kurzer Latenz (50–80 ms)
      • Evozierung von initial hypersynchroner Aktivität antagonistischer Muskelpaare (myoklonischer Reflexspasmus), die in eine tonisch-klonische desynchrone Aktivität übergeht (Befund ist charakteristisch).
    • verminderte oder aufgehobene Muskelaktivität durch Schlaf, intravenöse Gabe von Diazepam und/oder lokale Anästhesie
  • MRT (Kopf und Rücken) 
  • Liquor cerebrospinalis
    • bei 60 % der Patient*innen oligoklonale Banden (10-mal höher als im Serum2) oder autochthone IgG-Synthese
    • seltener milde lymphozytäre Pleozytose
    • intrathekale Produktion von antineuronalen Autoantikörpern (ca. 25 % höhere Sensitivität als im Serum)
  • Ein erfolgreicher therapeutischer Versuch mit Diazepam kann die Diagnose erhärten.2

Indikationen zur Überweisung

  • Die Behandlung der Erkrankung sollte durch Neurolog*innen erfolgen.
  • Bei Verdacht auf die Erkrankung sollte für die weiterführende Diagnostik und Einleitung von Therapiemaßnahmen eine Überweisung erfolgen.

Therapie

Therapieziele

  • Rigidität und Spasmen reduzieren.
  • Schmerzen reduzieren.
  • Progression der Symptomatik vermeiden.
  • Komplikationen vorbeugen.
  • Mobilität und Lebensqualität steigern.

Allgemeines zur Therapie

  • Es sollte initial eine symptomatische Therapie erfolgen.2
  • Bei Einleitung einer Immuntherapie sollte auf eine symptomatische Therapie verzichtet werden oder eine bereits bestehende symptomatische Therapie nicht verändert werden, um die Wirksamkeit der Immuntherapie prüfen zu können.
  • Bei Besserung der Symptomatik durch eine immunmodulierende Therapie kann die symptomatische Therapie reduziert und dem tatsächlichen Bedarf angepasst werden.
  • Cave: Die symptomatische Therapie sollte nicht abrupt abgesetzt werden, da es zu Entzugssymptomatik mit schwersten vegetativen Entgleisungen, u. U. letal verlaufend, kommen kann!,

Medikamentöse Therapie

Symptomatische Therapie

  • Antispastische Substanzen (off label)
    • Diazepam: 5–50 mg/d (20–80 mg/d)2, auf 3–4 Dosen/d aufgeteilt, dadurch bessere Kontrolle der Symptome
      • Wirkt häufig sehr gut und kann die Diagnose SPS stützen.4
      • Möglicherweise müssen für eine gute Wirksamkeit hohe Dosen angesetzt werden, was eine Sedierung der Patient*innen zur Folge haben kann.5
    • Clonazepam: 1–6 mg/d, auf 2–4 Dosen/d aufgeteilt2
    • Lorazepam oder Oxazepam als Alternativen2
    • Baclofen: 50–100 mg/d, auch als Add-on zu Benzodiazepinen2
    • Tizanidin: 20–40 mg/d
    • Cave: einschleichende Dosierung und ausschleichende Beendigung der Therapie!
    • Nebenwirkungen: Sedierung, Ataxie, Augenbewegungsstörung, Amnesie, Depressionen, Stimmungsschwankungen
    • Dosisanpassung nach Wirkung und Nebenwirkung
    • Dosissteigerung mit der Möglichkeit der Toleranzentwicklung bei Benzodiazepinen
    • süchtiger Fehlgebrauch selten
  • Antikonvulsiva 
    • Valproat, Gabapentin, Carbamazepin, Pregabalin
  • Injektionen mit Botulinum-Toxin zur vorübergehenden Entlastung bei drohender Gelenkschädigung
  • Status spasmodicus: Empfehlung einer sofortigen intensivmedizinischen Perfusor-Behandlung mit Midazolam (1 mg/min) oder Propofol (10 µg/kg/min)
  • Ultima Ratio: intrathekale Baclofen-Applikation über ein implantiertes Pumpensystem (50–1.500 µg/d)
    • Cave: bei Unterbrechung der intrathekalen Baclofen-Applikation schwerste Entzugssymptome mit vegetativen Entgleisungen, u. U. letal!

Immuntherapie

  • Einleitung einer Immuntherapie bei unzureichender Wirksamkeit oder Unverträglichkeit der symptomatischen Therapie
  • Intravenöse Immunglobuline
    • i. v. IgG 1 g/kg Körpergewicht an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Monat
    • Der Effekt setzt schnell ein und hält für 2–3 Monate, (6 Wochen bis 1 Jahr2) an.
  • Plasmapherese, Immunabsorption, niedrig dosierte Kortikosteroide, wiederholte Kortikosteroid-Hochdosistherapie sowie Rituximab nur in Einzelfällen erfolgreich

Weitere Therapien

  • Physiotherapie: Kann bei starker Stimulus-Sensitivität zur Verstärkung der Symptome beitragen.
  • Verhaltenstherapie: zur Krankheitsbewältigung, keine adäquate Therapie der Angstattacken

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Schleichende Progression über Monate
  • Folgende Stabilität über Jahre/Jahrzehnte möglich
  • Seltene subakute Krankheitsschübe (v. a. bei PERM)
  • Im Krankheitsverlauf möglicherweise flüchtige neurologische Symptome
  • Progression zur Plusvariante (PERM) mit neuen neurologischen Symptomen möglich
  • Selten Spontanremission

Komplikationen

  • Status spasmodicus („Spasmodic Storm“): über längere Zeit anhaltende oder rasch aufeinanderfolgende generalisierende Spasmusattacken mit Irradiation in Larynx- und Thoraxmuskulatur, schwerer kardiozirkulatorischer Belastung und Gefahr der akuten Dysautonomie, kann letal verlaufen.
  • Angst und Depression sind die frühzeitigsten und häufigsten Komplikationen.
  • Dysphagien aufgrund von Spasmen der Rachenmuskulatur
  • Skelettfrakturen und Muskelrupturen durch Spasmen
  • Immobilität und ggf. Bettlägrigkeit
  • Erhöhte Sturzneigung mit Frakturen

Prognose

  • Die Prognose variiert.
  • Die Krankheit kann schleichend und weitestgehend asymptomatisch verlaufen.
  • Es können plötzliche Episoden mit zunehmender Rigidität auftreten.
  • Bei anderen Patient*innen zeigt sich ein aggressiverer Verlauf mit rascher Progredienz der Symptomatik.
  • Bei fast allen Patient*innen erfolgt eine klinische Progredienz im Verlauf.2
  • Ca. 80 % der Patient*innen werden im Verlauf der Erkrankung gehunfähig, unabhängig von der Initiierung einer medikamentösen symptomatischen Therapie.
  • Anti-GAD-Antikörper Titer im Serum und Liquor korrelieren weder mit dem Schweregrad der Erkrankung noch mit der Geschwindigkeit der Progression.2
  • Bei dem paraneoplastischem SPS ist eine Spontanremission nach Tumorentfernung möglich.
  • Die Prognose der konnatalen Hyperekplexie (Stiff-Baby-Syndrom) ist besser.
    • im Verlauf bis zur vollständigen Entwicklung des Nervensystems selbstlimitierend6

Verlaufskontrolle

  • Patient*innen mit dem Stiff-Person-Syndrom und Antikörpern gegen GAD65
  • Patient*innen mit Amphiphysin-1-Antikörpern
  • Bei positiven GlyR- oder DPPX-Antikörpern
    • Malignomassoziation in weniger als 10 % (v. a. CLL, B-Zell-Lymphom, M. Hodgkin, kleinzelliges Lungenkarzinom, Mammakarzinom)
  • Bei SPS mit kurzer Anamnese (< 5 Jahre) und bei Patient*innen mit PERM
    • Malignom-Screening (insb. Mamma- und Bronchialkarzinom) unabhängig vom Antikörperstatus,

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Moersch FP, Woltman HW. Progressive fluctuating muscular rigidity and spasm («stiff-man» syndrome): report of a case and some observations in 13 other cases. Mayo Clin Proc 1956; 31: 421-7. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Helfgott SM. Stiff-person syndrome. Targoff IN, Shefner JM, ed. UpToDate. Waltham, MA: UpToDate Inc. (letzter Zugang: 13.05.2022) www.uptodate.com
  3. Vedeler CA, Antoine JC, Giometto B et al. Management of paraneoplastic neurological syndromes: report of an EFNS task force. Eur J Neurol 2006; 13: 682-90. PubMed
  4. Peltola J, Kulmala P, Isojarvi J, et al. Autoantibodies to glutamic acid decarboxylase in patients with therapy-resistant epilepsy. Neurology. 2000 Jul 12. 55(1):46-50. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Vasconcelos OM, Dalakas MC. Stiff-person syndrome. Curr Treat Options Neurol 2003; 5: 79-90. PubMed
  6. Jankovic J. Hyperkinetic movement disorders in children. Patterson MC, Firth HV, ed. UpToDate. Waltham, MA: UpToDate Inc. (letzter Zugang: 16.05.2022) www.uptodate.com

Autor*innen

  • Katja Luther, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Berlin

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