Neuralrohrdefekte

Beim Neuralrohr handelt es sich um die frühe Anlage des Zentralnervensystems beim Embryo. Das Neuralrohr schließt sich ungefähr in der 6. Woche der Schwangerschaft. In manchen Fällen schließt es sich nicht so, wie es sollte, was zu einer Reihe schwerer Entwicklungsstörungen führen kann.

Was sind Neuralrohrdefekte?

Das Neuralrohr schließt sich in der 6. Schwangerschaftswoche, also erst zwei Wochen nach der ausgebliebenen Menstruation und dem ersten möglichen Zeitpunkt für einen positiven Schwangerschaftstest. Bei Neuralrohrdefekten handelt es sich um eine Gruppe angeborener Erkrankungen, die auf das ungenügende Schließen der Strukturen um das Rückenmark zurückzuführen sind. Die Fehlbildung erfolgt zu einem frühen Zeitpunkt der Embryonalentwicklung, normalerweise in der dritten oder vierten Schwangerschaftswoche. Beim fertig entwickelten Fötus kann diese Fehlbildung in einer Fehlentwicklung des Rückenmarks und des Zentralnervensystems resultieren, es können Teile an einem oder mehreren Rückenwirbeln fehlen, und außerdem kann das Rückenmark mehr oder weniger offen liegen und ungeschützt sein.

Es gibt mehrere Varianten von Neuralrohrdefekten. Am häufigsten ist die sogenannte Spina bifida occulta, die möglicherweise bei bis zu jedem dritten Menschen auftritt. Die Spina bifida occulta ist normalerweise ungefährlich und verursacht keine oder nur sehr geringe Beschwerden. Der schwerste Neuralrohrdefekt ist die sogenannte Anenzephalie, bei der das Großhirn gänzlich fehlt. Zwischen diesen Extremen liegt ein Erkrankungsbild, das verhältnismäßig häufig auftritt, die sogenannte Myelomeningozele.

Häufigkeit

Die Häufigkeit der Neuralrohrdefekten liegt bei 1-5/1000 Lebendgeburten. Die Häufigkeit nimmt immer mehr ab, hauptsächlich aufgrund des stärkeren Bewusstseins um den Nutzen von Folsäure, aufgrund der immer besseren und umfangreicheren Pränataldiagnostik und aufgrund von mehr Schwangerschaftsabbrüchen. Der häufigste Neuralrohrdefekt, der ein Überleben ermöglicht, ist die Myelomeningozele mit 0,7–0,8 Fällen auf 1000 Lebendgeburten pro Jahr.

Ursachen

Neuralrohrdefekte können unterschiedliche Ursachen haben. Bei einem Teil liegen genetisch bedingte Erkrankungen zugrunde, z. B. das Down-Syndrom (Trisomie 21). Es kann auch zu einer familiären Häufung kommen, ohne dass diesem Phänomen besondere Syndrome zugrunde lägen. Es sind einige äußere Faktoren bekannt, die das Risiko eines Neuralrohrdefekts erhöhen. Wichtige Beispiele dafür sind bestimmte Medikamente gegen Epilepsie, unter anderem die Wirkstoffe Valproat und Carbamazepin. Medikamente, die Vitamin-A-Säure enthalten, erhöhen ebenfalls das Risiko. Derartige Medikamente werden bei der Therapie bestimmter Hauterkrankungen eingesetzt.

In den letzten Jahren wurde immer stärkeres Augenmerk darauf gelegt, dass ein Mangel des Vitamins Folsäure das Risiko für Neuralrohrdefekte erheblich erhöht. Daher sollten alle Frauen, die schwanger werden möchten, zusätzlich Folsäure zu sich nehmen (siehe Patienteninformation Folsäure in der Schwangerschaft). Folsäure ist in Tablettenform in Apotheken erhältlich: Folsäure-Tabletten mit der Tagesdosis 0,4 mg: 1 Tablette täglich ab dem Zeitpunkt mit dem Entschluss zur Schwangerschaft und bis zur 12. Schwangerschaftswoche. Bei einer ungeplanten Schwangerschaft beginnt die zusätzliche Gabe von Folsäure, sobald die Schwangerschaft bekannt wird, und wird bis zur Woche 12 fortgesetzt. Bei Frauen, die bereits Schwangerschaften oder Geburten mit Neuralrohrdefekt hatten, wird Folsäure 4 mg täglich empfohlen, d. h. die zehnfache Dosis. Dies gilt auch für Frauen, die während der Schwangerschaft Medikamente gegen Epilepsie einnehmen müssen.

Symptome

Die Symptome variieren je nachdem, um welchen Typ von Neuralrohrdefekt es sich handelt. Bei einer Spina bifida occulta zeigen sich normalerweise keine Symptome. Bei einzelnen Betroffenen ist möglicherweise ein zusätzliches Haarbüschel oder eine Fettgeschwulst (Lipom) über dem fehlenden Dornfortsatz am Rückenwirbel zu sehen.

Bei der sogenannten Meningozele kommt es zu einer Ausstülpung allein der Rückenmarkshäute (Meningen) durch den Defekt in den Rückenwirbeln nach außen. Bei der sogenannten Myelomeningozele enthält diese Ausstülpung nicht nur die Rückenmarkshäute, sondern auch Nervengewebe mit Teilen des eigentlichen Rückenmarks (Myelon). Der entsprechende Defekt ist bereits bei der Geburt deutlich sichtbar. Zusätzlich zur sichtbaren Fehlbildung sind auch die Nervenbahnen im Rückenmark in unterschiedlichem Ausmaß geschädigt. Dies kann unter anderem zu Lähmungserscheinungen, zu Gefühllosigkeit in den Beinen, zu einer mangelnde Kontrolle der Harnblase (Inkontinenz) und zu Fehlbildungen an Hüfte, Knöcheln und Füßen führen. Mit Myelomeningozele geborene Kinder bekommen zusätzlich häufig einen Hydrozephalus („Wasserkopf“), wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden.

Diagnostik

Bei schweren Neuralrohrdefekten wie der Myeloemeningozele oder der Anenzephalie wird die Diagnose häufig bei der zweiten Schwangerschafts-Ultraschalluntersuchung zwischen Woche 19 und 22 festgestellt. Bei der Geburt ist der Defekt in den allermeisten Fällen offensichtlich.

Mit herkömmlichen Röntgenaufnahmen und einem CT der Wirbelsäule kann der Umfang der knöchernen Defekte festgestellt werden. Zum Nachweis der Weichteildefekte und des Umfangs der Auswirkungen aufs Rückenmark sollte eine MRT-Untersuchung erfolgen. Bei einer Myelomeningozele sollten die Nieren und Harnwege regelmäßig mit Ultraschall, gegebenenfalls mit anderen bildgebenden Verfahren, kontrolliert werden.

Behandlung

Die Spina bifida occulta muss nicht behandelt werden, weil sie ungefährlich ist und keine Probleme verursacht. Bei einer Myelomeningozele ist eine sofortige Behandlung dagegen extrem wichtig. Der Defekt an der Haut muss so abgedeckt werden, dass Nerven und Rückenmark nicht mehr offen liegen, sonst kann es zu einer lebensbedrohlichen Hirnhautentzündung kommen. Die Operation wird in der Regel in den ersten Lebenstagen durchgeführt. Üblicherweise wird gleichzeitig eine Ventrikeldrainage zur Ableitung von Hirnwasser gelegt, um die Bildung eines Hydrozephalus zu verhindern.

In der Zeit nach der ersten Operation sind weitere Maßnahmen erforderlich, zum Beispiel um Fehlstellungen des Rückens, der Hüften, Knöchel und Füße zu behandeln. Es ist außerdem wichtig, die Blase und die Harnwege gründlich zu untersuchen.

Kinder mit Myelomeningozele benötigen beim Aufwachsen in der Regel eine umfassende Begleitung und Behandlung durch ein fachübergreifendes Team. Hausärzte, Kinderärzte, Neurochirurgen, Orthopäden, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Sozialarbeiter sind wichtige Pfeiler eines funktionierenden Unterstützungssystems. Außerdem muss die Schul- und Ausbildungssituation meist individuell angepasst werden.

Prognose

Personen mit Spina bifida occulta bemerken in aller Regel die Fehlbildung nicht und können ein vollständig normales Leben führen.

Die Myelomeningozele ist eine schwerwiegende Erkrankung, und die meisten Betroffenen haben in ihrer Kindheit und Jugend und auch im späteren Erwachsenenleben erhebliche Probleme. Dabei geht es unter anderem um Probleme im Zusammenhang mit Infektionen, mit Harnwegs- und Nierenerkrankungen, Lähmungserscheinungen und Hydrozephalus. Bei vielen Betroffenen kommt es auch zu erheblichen sozialen Schwierigkeiten. Darüber hinaus treten überdurchschnittlich häufig geistige Behinderungen und psychiatrische Probleme auf. In den schwersten Fällen sind die Schädigungen so umfangreich, dass die betroffenen Kinder nicht überlebensfähig sind. Dennoch sollte unbedingt Klarheit darüber herrschen, dass viele Betroffene mit Myelomeningozele ein sehr gutes Leben führen können und hervorragend ins soziale und berufliche Leben integriert sind.

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  • Julia Trifyllis, Dr. med., Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, Münster/W

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References

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