Primäre Immundefekte (Primary Immunodeficiencies, PID) sind angeborene Erkrankungen des Immunsystems, die zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten, Autoimmunerkrankungen und malignen Erkrankungen führen.1
Sekundäre, also erworbene Immundefekte können im Zusammenhang mit Erkrankungen wie etwa Malignomen oder HIV, aber auch unter einer Therapie mit Immunsuppressiva auftreten.
Einteilung
Das Immunsystem kann grob in drei Stufen eingeteilt werden:
anatomische und physiologische Barrieren (Haut, Magensäure, Zilien in der Lunge, Lysosomen in der Tränenflüssigkeit und dem Speichel)
Sämtliche PID-Formen sind selten. Die Gesamtinzidenz liegt bei etwa 1:2.000.2
Am häufigsten sind variable Immundefekte (CVID, Common Variable Immunodeficiency) und bestimmte Neutropenien wie z. B. die Autoimmunneutropenie.
Schwere kombinierte Immundefekte (SCID) sind selten. Die Inzidenz liegt bei etwa 1:60.000.
Diagnostische Überlegungen
Primäre Immundefekte sind durch eine pathologische Infektanfälligkeit gekennzeichnet.
Diese ist charakterisiert durch (Merwort ELVIS):
Erreger
Infektionen mit Erregern, die bei Immunkompetenten nur sehr selten schwere Erkrankungen auslösen, z. B. Pneumocystis jirovecii-Pneumonie, CMV-Pneumonie, Candida-Sepsis.
Lokalisation
Befall mehrerer Organgebiete
ungewöhnliche Lokalisationen z. B. Hirn- oder Leberabszesse
D80 Immundefekt mit vorherrschendem Antikörpermangel
D81 Kombinierte Immundefekte
D82 Immundefekt in Verbindung mit anderen schweren Defekten
D83 Variabler Immundefekt
D84 Sonstige Immundefekte
Differenzialdiagnosen
Mittlerweile sind über 430 angeborene Immundefekte bekannt, mit 65 identifizierten Gendefekten.3
Die folgenden Auflistungen geben also lediglich einen groben Überblick.
B-Zelldefekte (Mangel an Antikörpern)
Humorale Immundefekte
Die Hypogammaglobulinämie gehört zu den häufigsten Formen und macht mehr als die Hälfte aller PID aus.
Weitere PID-Ursachen sind die X-chromosomale Agammaglobulinämie (XLA) und der schwere kombinierte Immundefekt (Severe Combined Immunodeficiency, SCID).
Variabler Immundefekt (CVID)
schwerer Antikörpermangel: häufigste Form bei Kindern über 8 Jahren und Erwachsenen, häufig Komplikationen im Teenageralter
Vorübergehende Hypogammaglobulinämie bei Kleinkindern
Ausschlussdiagnose
Selbstlimitierende Störung: Immunglobulinspiegel steigt später als üblich (nach dem 2.–4. Lebensjahr häufig normal).
In der Regel keine Symptome, kann bei Kindern über 7 Jahren und Erwachsenen jedoch zu häufigen Atemwegsinfektionen und chronischen Lungenschäden führen.
Selektiver IgA-Mangel
Inzidenz von 1:700, in der Regel keine Symptome
evtl. Progression zu CVID
T-Zelldefekte
Deletionssyndrom 22q11 (DiGeorge-Syndrom oder velokardiofaziales Syndrom)
Inzidenz von 1:4.000
Einzelne Patient*innen (< 1 %) weisen einen schweren kombinierten Immundefekt (SCID) auf.
Eine isolierte Neutropenie tritt am häufigsten kurzzeitig im Zusammenhang mit Virusinfektionen auf. Eine chronische Neutropenie dagegen kann durch genetische Faktoren oder bestimmte Medikamente bedingt sein. PID sind selten Ursache der isolierten Neutropenie.
Autoimmunneutropenie
Granulozytopenie ab dem 1. Lebensjahr
Nachweis von Granulozyten-Antikörper
häufig spontane Besserung im Laufe der Kindheit
Chronische Granulomatose (CGD)
schwerere X-chromosomal und leichtere autosomal-rezessiv vererbte Form
Bei Verdacht auf oder Anhaltspunkten für einen angeborenen Immundefekt Überweisung an ein spezialisiertes Zentrum
Bei folgenden medizinischen Notfällen sofortige Einweisung, möglichst in Uniklinik oder spezialisiertes Zentrum:
Erythrodermie in den ersten Lebenswochen (Verdacht auf schweren kombinierten Immundefekt)
schwere Lymphopenie im 1. Lebensjahr (Verdacht auf schweren kombinierten Immundefekt)
persistierendes Fieber und Zytopenie (Verdacht auf primäres Hämophagozytosesyndrom)
schwere Neutropenie im Kindesalter (< 500/µl, Verdacht auf schwere kongenitale Neutropenie)
schwere Hypogammaglobulinämie (Verdacht auf schweren kombinierten Immundefekt oder Agammaglobulinämie)
Therapie
Verschiedene Therapiemöglichkeiten je nach Diagnose und Schwere der Erkrankung
Frühzeitige Behandlung bei Verdacht auf eine bakterielle Infektion
in schweren Fällen (SCID) prophylaktische Behandlung mit Antibiotika, Virustatika und Antimykotika6
Verabreichung von Immunglobulinen
Zytokine, z. B. G-CSF
Allogene Knochenmarktransplantation
Analysen belegen eine sehr gute Überlebensrate (> 80 %)7 bei Kindern mit SCID, bei denen frühzeitig im 1. Lebensjahr eine allogene Knochenmarktransplantation durchgeführt wird. Die besten Ergebnisse werden mit Geschwistern als Spender*innen erzielt.8
Jyothi S, Lissauer S, Welch S, Hackett S. Immune deficiencies in children: an overview. Postgrad Med J 2013; 89: 698-708. PubMed
Boyle JM, Buckley RH. Population prevalence of diagnosed primary immunodeficiency diseases in the United States. J Clin Immunol 2007; 27: 497-502. PubMed
Castagnoli R, Notarangelo LD. Updates on new monogenic inborn errors of immunity. Pediatr Allergy Immunol. 2020 Nov;31 Suppl 26(Suppl 26):57-59. www.ncbi.nlm.nih.gov
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Pai S-Y, Logan BR, Griffith LM, et al. Transplantation outcomes for severe combined immunodeficiency, 2000-2009. N Engl J Med 2014; 371: 434-46. doi:10.1056/NEJMoa1401177 DOI
Autor*innen
Kristin Haavisto, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Hämato-/Onkologie, Münster