Läsion des Plexus brachialis

Zusammenfassung

  • Definition:Traumatische Schädigungen des Plexus brachialis mit variablem Schweregrad und klinischem Erscheinungsbild.
  • Häufigkeit:Keine exakten Daten zur Inzidenz. Überwiegend junge Männer nach Zweiradunfällen, seltener nach Sportverletzungen, betroffen.
  • Symptome:Neuropathische Schmerzen in der Hals-Schulter-Region mit Ausstrahlung in die obere Extremität sowie sensible und/oder motorische Defizite. 
  • Befunde:Abhängig von Ausmaß und Lokalisation Sensibilitätsstörungen, Paresen, abgeschwächte Reflexe, positives Hoffmann-Tinel-Zeichen. Bei unterer Plexusschädigung ggf. Horner-Syndrom.
  • Diagnostik:Klinisch-neurologischer Befund inkl. Einzelkraftprüfung, bildgebende Diagnostik (insbesondere MR-Neurografie) sowie elektrophysiologische Untersuchungen.
  • Therapie:Bei inkompletter Schädigung meist konservative Therapie mit Unterstützung der spontanen Reinnervation. Im Falle ausbleibender Besserung oder bei schwerer Schädigung verschiedene operative Therapien möglich.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Traumatische Verletzung des Plexus brachialis (Armplexus) mit Schmerzen sowie motorischen und sensiblen Defiziten
  • Die Variabilität der klinischen Manifestationen ist aufgrund unterschiedlicher Verletzungsmuster groß.

Häufigkeit

  • Traumatische Nervenverletzungen insgesamt treten bei etwa 1,5–2 % aller Unfälle auf.
  • Die genaue Inzidenz von Verletzungen des Plexus brachialis ist unbekannt.1
  • Häufig bei Motorradunfällen (bis zu 80 %)1
  • Männer zwischen 15 und 25 Jahren sind am häufigsten betroffen.2

Ätiologie und Pathogenese

Anatomie des Plexus brachialis2

  • Der Plexus brachialis besteht aus Anteilen der Nervenwurzeln C5 bis Th1.
  • Im Verlauf bilden sich aus den Nervenwurzeln die Primärstränge (Trunci), die in die Sekundärstränge (Faszikel) und letztlich die Ästen der Armnerven übergehen.
  • Primärstränge (supraklavikulär)
    • Truncus superior (C5, C6)
    • Truncus medius (C7)
    • Truncus inferior (C8, Th1)
  • Sekundärstränge (infraklavikulär)
    • Fasciculus posterior (bildet N. axillaris, N. radialis)
    • Fasciculus lateralis (bildet N. musculocutaneus, N. medianus)
    • Fasciculus medialis (bildet N. medianus und N. ulnaris)

Ätiologie

  • Ursachen
    • Verkehrsunfälle1,3
    • Sportunfälle1-2
    • stumpfes Trauma
    • Stich- oder Schussverletzungen (in Deutschland selten)
    • iatrogene Läsionen
    • geburtstraumatische Läsionen (extrem selten)
  • Verletzungsmechanismus2-3
    • meist geschlossene Verletzungen durch Zugkräfte mit Zerrung/Dehnung der Plexusanteile oder Ausriss der Nervenwurzel
    • Hochrasanztrauma mit Kopfwendung von der Schulter führt eher zur Verletzung des oberen Plexus brachialis.
    • Unfall mit Abduktion des gestreckten Armes überkopf und Traktion führt eher zur Verletzung des unteren Plexus brachialis.
  • Klassifikation
    • offene Plexusläsion
      • selten
      • z. B. Schnitt- und Schussverletzungen
    • geschlossene Plexusläsion
      • deutlich häufiger
      • Einteilung der Nervenverletzung nach Schweregrad
        • Klassifikation nach Sunderland in Grad 1–5
        • Klassifikation nach Millesi Typ A–C

Klassifikation nach Lokalisation,

  • Läsionen der Primärstränge (Trunci)
    • obere Armplexusläsion (Duchenne-Erb)
      • motorisches Defizit: Abduktion und Außenrotation der Schulter, Beuger des Ellenbogens
      • sensibles Defizit: Außenseite der Schulter und radialer Unterarm
    • mittlere Armplexusläsion (kaum isoliert)
      • motorisches Defizit: M. triceps brachii, M. pectoralis
      • sensibles Defizit: mittlere Finger
    • untere Armplexusläsion (Déjerine-Klumpke)
      • motorisches Defizit: Handbeuger und lange Fingerbeuger
      • sensibles Defizit: ulnare Seite von Hand und Unterarm
      • Horner-Syndrom
  • Läsionen der Sekundärstränge (Faszikel)
    • dorsaler Faszikel
      • motorisches Defizit: M. deltoideus, M. triceps, Hand- und Fingerstrecker
      • sensibles Defizit: lateraler Oberarm, radialer Unterarm
    • lateraler Faszikel
      • motorisches Defizit: M. biceps brachii, M. pronator teres
      • sensibles Defizit: radiale Seite von Unterarm und Hand
    • medialer Faszikel
      • motorisches Defizit: Fingerflexoren, Mm. interossei, Thenar
      • sensibles Defizit: ulnare Hand

Begleitverletzungen1

Prädisponierende Faktoren

  • Motorradfahren1
  • Bestimmte Sportarten3-4
    • insbesondere Kontaktsportarten und Extremsport

ICPC-2

  • N81 Verletzung Nervensystem, andere

ICD-10

  • S14 Verletzung der Nerven und des Rückenmarkes in Halshöhe
    • S14.2 Verletzung von Nervenwurzeln der Halswirbelsäule
    • S14.3 Verletzung des Plexus brachialis

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Diagnosestellung beruht auf:2
    • der Anamnese zum Verletzungsmechanismus
    • dem klinisch-neurologischen Befund
    • den bildgebenden und elektrophysiologischen Untersuchungen.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Verletzung
    • Zeitpunkt des Traumas
    • Verletzungsmechanismus
    • Begleitverletzungen
    • Voroperationen
      • z. B. nach Polytrauma: Osteosynthesen, Gefäßversorgung
  • Schmerzen
    • Intensität
    • Schmerzqualität
    • Ausstrahlung
  • Sensibilitätsausfälle
    • z. B. Missempfindungen (Dys- oder Parästhesien) oder Taubheit (Hypästhesie)
  • Motorische Ausfälle (Paresen)
    • Koordinationsstörungen oder Kraftminderung der Hand oder des Arms

Klinische Untersuchung

Allgemeine körperliche Untersuchung

  • Inspektion und Palpation der Schulter-Arm-Region
    • Verletzungsfolgen, Asymmetrie, Narben
    • Fehlstellungen (Rotatorenmanschette)
  • Bewegungsumfang
    • aktiver und passiver Bewegungsumfang im Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenk
  • Augen
    • Ptosis (tiefstehendes Augenlid) und Miosis als Hinweise auf Horner-Syndrom (C8, Th1)
  • Muskulatur im Seitenvergleich
    • Muskelatrophien erst bei länger zurückliegender Verletzung
  • Dyspnoe
    • bei begleitender Verletzung der Lunge oder des N. phrenicus

Neurologische Untersuchung

  • Prüfung der Sensibilität
  • Prüfung der Motorik
  • Prüfung der Reflexe
    • Bizepssehnenreflex (C5, C6) und Trizepssehnenreflex (C7, C8)
    • abgeschwächte Muskeleigenreflexe im betroffenen Versorgungsgebiet
  • Tinel-Zeichen
  • Bei Auffälligkeiten der unteren Extremitäten ist der Ausschluss einer Rückenmarksverletzung erforderlich.2

Kraftprüfung

  • Untersuchung durch Einzelkraftprüfung im Seitenvergleich
  • Graduierung der Paresen nach Kraftgrad
    • 0: keine Kontraktion
    • 1: tastbare Zuckung und Spur einer Kontraktion
    • 2: aktive Bewegung möglich unter Aufhebung der Schwerkraft
    • 3: aktive Bewegung möglich gegen die Schwerkraft
    • 4: aktive Bewegung möglich gegen Widerstand 
    • 5: normale Kraft

Diagnostik bei Spezialist*innen

Bildgebende Untersuchungen

  • Röntgen und CT
    • häufige initiale Diagnostik nach Trauma
    • Untersuchung auf Begleitverletzungen (z. B. Frakturen) und Zwerchfellhochstand (Mitbeteiligung N. phrenicus)
  • MRT des Plexus brachialis
    • MR-Neurografie ist der Goldstandard in der Diagnostik.2
    • frühzeitige Durchführung, bei möglichem Nervenwurzelausriss bis 6 Wochen nach Trauma
  • Hochauflösende Nervensonografie2
    • Untersuchung der Armnerven und ggf. auch des Plexus brachialis

Elektrophysiologische Untersuchungen

  • Elektromyografie (EMG)2
    • Durchführung erst etwa 3 Wochen nach Trauma sinnvoll
    • Wiederholung ca. alle 4 Wochen zur Verlaufskontrolle der spontanen Reinnervation
    • Untersuchung der Kennmuskeln und der tiefen paraspinalen Muskulatur
  • Elektroneurografie (ENG)2
    • motorische und sensible Neurografie zum Nachweis und Ausmaß einer Schädigung der peripheren Nerven

Indikationen zur Überweisung

  • Abhängig von der Art und dem Ausmaß der Verletzung
    • Bei akuter Verletzung mit sensiblen oder motorischen Defiziten Krankenhauseinweisung erwägen.
    • bei anhaltenden Defiziten nach zurückliegendem Trauma Überweisung zu Neurolog*innen
    • Bei geringgradigem Trauma und reiner Schmerzsymptomatik ggf. Spontanverlauf abwarten.

Therapie

Therapieziele

  • Schmerzen lindern
  • Sensible oder motorische Defizite bessern
  • Funktion der betroffenen Extremität erhalten

Allgemeines zur Therapie

  • Bei inkompletten Plexusläsionen ist eine spontane Reinnervation (Nervenregeneration) zu erwarten.
  • Grundsätzliche Therapieansätze
    • konservative Therapien
    • operative Therapien

Konservative Therapie

  • Analgesie
    • Siehe auch Artikel Neuropathische Schmerzen.
    • eingesetzte Substanzen
      • Carbamazepin, Oxcarbazepin, Gabapentin, Pregabalin, trizyklische Antidepressiva, Opioide
    • transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS)
  • Physiotherapie
  • Ergotherapie
  • Elektrotherapie
    • Kann eine Muskelatrophie verzögern, bis die Nervenregeneration abgeschlossen ist.
  • Rehabilitationsmaßnahmen

Operative Therapie

  • Indikationen2
    • unzureichende Regeneration unter konservativer Therapie (nach ca. 3–6 Monaten)
    • unmögliche spontane Reinnervation
    • offene Plexusläsionen oder raumfordernde Hämatome
  • Behandlung im multidisziplinären Team an spezialisierten Zentren empfohlen
    • Die Therapie von Läsionen des Plexus brachialis ist komplexer als solche von Einzelnerven.
  • Zeitpunkt der Operation
    • abhängig von der Schwere der Plexusverletzung
    • bei erhaltener Kontinuität nach 3–6 Monaten
    • bei Nervenwurzelausrissen frühzeitig (nach 6–8 Wochen)
  • Mögliche Operationsverfahren
    • Neurolyse
    • intraplexale Nerventransfers
    • extraplexale Nerventransfers
    • autologe Nerventransplantation
    • Ersatzoperationen
      • Verlagerung der intakten Muskeln zum Funktionserhalt
  • Nach abgeschlossener Nervenregeneration (ca. 2,5–3 Jahre) ggf. weitere Ersatzoperationen (Muskel- oder Sehnentransfers)

Prävention

  • Tragen von Schutzausrüstung (z. B. bei Extremsportarten oder beim Motorradfahren)

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Abhängig vom Schweregrad der Plexusverletzung kommt es zur spontanen Nervenheilung (Reinnervation).,
  • Bei Nervenwurzelausrissen ist keine spontane Regeneration möglich.

Komplikationen

Prognose

  • Das funktionelle Ergebnis der spontanen Reinnervation ist besser als nach optimal verlaufendem operativem Eingriff.
  • Abhängigkeit von der Lokalisation
    • obere Plexusläsion: etwa 70 % gute Ergebnisse
    • untere Plexusläsion: schlechtere Prognose

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Plexus brachialis
Plexus brachialis

Quellen

Literatur

  1. Faglioni W Jr, Siqueira MG, Martins RS, Heise CO, Foroni L. The epidemiology of adult traumatic brachial plexus lesions in a large metropolis. Acta Neurochir (Wien). 2014;156(5):1025-1028. doi.org
  2. Noland SS, Bishop AT, Spinner RJ, Shin AY. Adult Traumatic Brachial Plexus Injuries. J Am Acad Orthop Surg. 2019;27(19):705-716. doi.org
  3. Chao S, Pacella MJ, Torg JS. The pathomechanics, pathophysiology and prevention of cervical spinal cord and brachial plexus injuries in athletics. Sports Med. 2010. 40(1):59-75. doi.org
  4. Starr HM Jr, Anderson B, Courson R, Seiler JG. Brachial plexus injury: a descriptive study of American football. J Surg Orthop Adv. 2014 Summer. 23(2):90-7. doi.org

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg

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