Zusammenfassung
- Definition:Anhaltende Ängste, eine oder mehrere schwere und fortschreitende körperliche Krankheiten zu haben.
- Häufigkeit:1-Jahres-Prävalenz je nach Kriterien und untersuchter Population: 1–10 %, in der Hausarztpraxis 3–6 %.
- Symptome:Die häufigste Angst bei hypochondrischen Störungen ist die, an einer Krebserkrankung zu leiden, des Weiteren auch an einer Herzerkrankung, einer potenziell beeinträchtigenden neurologischen Erkrankung (z. B. multiple Sklerose) oder einer Infektionskrankheit (zumeist AIDS).
- Befunde:Unauffällige somatische Befunde. Häufig psychische Begleitsymptome wie Angst, Depressivität oder Schlafstörungen.
- Diagnostik:Somatische und psychosoziale Diagnostik sollten parallel laufen. Somatische Überdiagnostik ist zu vermeiden, weil sie krankheitserhaltend wirken kann.
- Therapie:Kognitive Verhaltenstherapie mit hohen Erfolgsraten.
Allgemeine Informationen
Definition
- ICD-10: F45.2 „hypochondrische Störung“ als Subkategorie der somatoformen Störungen (F45.-)
- Voraussichtliche Klassifikation in ICD-11: „Hypochondriasis“ als Subkategorie der „Obsessive-complusive and Related Disorders (Zwangsstörungen und assoziierte Störungen)“
- DSM 5: „Krankheitsangststörung“ (Disease Anxiety Disorder)
- Näheres siehe die Abschnitte Diagnostische Kriterien nach ICD-10 und Diagnostische Kriterien nach DSM-5.
Häufigkeit
- Prävalenz
- 1-Jahres-Prävalenz je nach Kriterien und untersuchter Population: 1–10 %
- Prävalenz in der Hausarztpraxis 3–6 %
- Frauen und Männer sind etwa gleich häufig betroffen.
- Kann auch Kinder betreffen.1
Ätiologie und Pathogenese
- Es gibt kein einheitliches Erklärungsmodell für somatoforme Störungen. Das trifft auch auf die hypochondrische Störung zu.
- Nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Dabei spielen werden u. a. diskutiert:
- genetische und epigenetische Faktoren (familiäre Häufung als Indiz)
- gestörte Stressverarbeitung (chronische Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse)
- Persönlichkeitsstruktur
- psychosoziale Belastungen, Verlusterfahrungen und Traumata
- Körperbewusstsein und daraus resultierende somatische Symptome und Erkrankungen
- frühkindliche Stresserlebnisse und unsichere Bindungserfahrungen
- Näheres siehe Artikel Somatoforme Körperbeschwerden.
Prädisponierende Faktoren
- Elternverhalten
- In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass übermäßige Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Symptomen und starke Gesundheitsangst bei den Eltern die Entwicklung einer Hypochondrie bei Kindern prädisponieren können.
- Persönlichkeitsmerkmale
- Auch können typische Persönlichkeitsmerkmale nachgewiesen werden, z. B. eine intensive Beschäftigung mit Gesundheit und Körper und ein Gefühl von erhöhter Krankheitsanfälligkeit.2
- Sexueller Missbrauch und Misshandlung
- Im Vergleich zu Kontrollpersonen wurde von Personen mit Hypochondrie häufiger von sexuellen Übergriffen und körperlichem Missbrauch in der Kindheit berichtet.
- Wichtige Lebensereignisse
- Hypochondrische Vorstellungen können ausgelöst werden durch eine schwere Erkrankung im engen Familienkreis, einen Todesfall oder eine neue Lebenssituation mit neuer Verantwortung, z. B. Elternschaft.
- Die erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper und dessen Kontrolle kann die Symptome und die Angst aufrechterhalten.
ICPC-2
- P75 Somatisierungsstörung
ICD-10
- F45.- Somatoforme Störungen
- F45.2 Hypochondrische Störung
Diagnostik
Diagnostische Kriterien nach ICD-10
Somatoforme Störungen (F45.-)
- Gekennzeichnet durch wiederholtes Aufweisen von somatischen Symptomen ohne nachweisbare somatische Grundlage
- Vor allem bei Hypochondrie bitten die Patient*innen häufig, dass eine ärztliche Untersuchung erfolgt, trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherungen der Ärzt*innen, dass die Symptome keine somatische Grundlage haben.
- Ggf. vorliegende somatische Befunde und Erkrankungen erklären die Art oder das Ausmaß der Symptome nicht ausreichend; das Leiden und die innerliche Beteiligung der Patient*innen stehen in keinem plausiblen Verhältnis zu den somatischen Befunden.
Hypochondrische Störung (F45.2)
- Gekennzeichnet durch anhaltende Beschäftigung und Ängste, eine oder mehrere schwere und fortschreitende körperliche Krankheiten zu haben.
- Die Patient*innen klagen anhaltend über körperliche Beschwerden, bei denen „normale“ Befindlichkeiten als Ausdruck einer (schweren) Krankheit wahrgenommen werden.
- Die Aufmerksamkeit ist oft nur auf ein oder zwei Organe oder Organsystem fokussiert.
- Häufig begleitet von Depression und Angst
- Dazu zählen u. a. auch:
- Dysmorphophobie (nicht wahnhaft)
- körperdysmorphophobe Störung.
- Ältere, weniger gebräuchliche Bezeichnungen:
- Hypochondrie
- hypochondrische Neurose
- Nosophobie.
Diagnostische Kriterien nach DSM-5
Krankheitsangststörung
- Mindestens 6 Monate anhaltende übermäßige Beschäftigung mit der Sorge, eine ernsthafte Krankheit zu haben oder zu bekommen
- Zusätzlich
- keine oder nur geringe körperliche Symptome oder bei vorhandener Krankheit deutlich übersteigerte Beschäftigung mit Krankheitssorgen
- starke Ängste im Hinblick auf die Gesundheit
- Person ist hinsichtlich ihrer Gesundheit leicht zu beunruhigen.
- übertriebene gesundheitsbezogene Verhaltensweisen wie:
- beobachtendes Kontrollieren des eigenen Körpers
- übermäßig häufige Arztbesuche (hilfesuchender Typ) – oder –
- Vermeidung von Arztbesuchen (hilfemeidender Typ).
Differenzialdiagnosen
- Die häufigsten Differenzialdiagnosen oder Begleiterkrankungen sind:
- Weitere Differenzialdiagnosen
- somatische Krankheiten
- Erkrankungen, bei denen sowohl organische Ursachen vorliegen als auch psychosoziale Faktoren den Verlauf der Krankheit beeinflussen.
- dissoziative Syndrome mit Störungen des Gedächtnisses, der Sensorik oder Motorik
- postttraumatische Belastungsstörung
- Simulation (das Motiv ist bewusst), Münchhausen-Syndrom oder Artefakte
- Aggravation
- Schizophrenie
Anamnese
Subjektives Erleben der betroffenen Person
- Die häufigste Angst von Hypochondrie-Betroffenen ist die, an einer Krebserkrankung zu leiden, des Weiteren auch an einer Herzerkrankung, einer schweren neurologischen Erkrankung (z. B. multiple Sklerose) oder einer Infektionskrankheit (zumeist AIDS).
- Einige haben Angst, eine schwere psychische Erkrankung zu entwickeln.
- Angst vor baldigem Tod
- Es kommt vor, dass die Betroffenen glauben, dass sie bald sterben, sich von ihrer Familie verabschieden und sich kaum trauen, sich schlafen zu legen, aus Angst vor dem, was in der Nacht geschehen könnte.
- Die betroffene Person kann es als erhebliche zusätzliche Belastung empfinden, nicht einmal zu wissen, woran sie sterben wird, nach verzweifeltem und letztlich immer erfolglosem Bemühen um die „richtige“ Diagnose und um die lebensrettende Therapie.
- Das Leiden und die Einsamkeit können von der betroffenen Person genauso stark erlebt werden, als ob sie tatsächlich an einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung leiden würde.
Konsultationsgründe
- Die meisten von einer Krankheitsangststörung Betroffenen gehen häufig zu Ärzt*innen. Auch Symptome ohne organmedizinischen Klärungsbedarf können Anlass für einen Arztbesuch sein.
- Sie konsultieren auch mehrere Ärzt*innen, weil sie z. B. mit einem Arzt oder einer Ärztin über die Diagnose uneinig sind oder darüber, was mit den Symptomen zu tun ist, oder sich nicht von den wiederholten Versicherungen beruhigen lassen, dass nichts Ernsthaftes gefunden wurde.
Differenzialdiagnostische Einschätzung Depression
- Häufigste Begleiterkrankung
- Depressionen gehen häufig mit funktionellen Körperbeschwerden einher.
- Eine Krankheitsangststörung und die damit einhergehende Erschöpfung oder Verzweiflung können eine Depression nach sich ziehen.
Differenzialdiagnostische Einschätzung Angst und Panikattacken
- Eine hypochondrische Störung geht definitionsgemäß mit (Krankheits-)Angst einher (siehe Diagnostische Kriterien nach ICD-10 und Diagnostische Kriterien nach DSM-5).
- Treten die Krankheitsängste nur im Verlauf von Panikattacken auf, wird dies als Panikstörung und nicht als Krankheitsangststörung (hypochondrische Störung) diagnostiziert und behandelt.
- Treten die Krankheitsängste bei Personen mit Panikstörung auch außerhalb der Panikattacken auf, dann kann eine begleitende Krankheitsangststörung vorliegen.
Differenzialdiagnostische Einschätzung Zwangsstörungen
- Die Überzeugung, an einer bedrohlichen Erkrankung zu leiden, kann bei manchen Menschen mit Krankheitsangststörung den Charakter von Zwangsgedanken annehmen und Teil einer Zwangsstörung sein.
- Von einer Krankheitsangststörung Betroffene haben ein starkes Bedürfnis, sich anderen Menschen bezüglich ihres Leidens mitzuteilen, während Menschen mit Zwangsstörung dazu neigen, ihre Beschwerden und Symptome vor anderen Menschen zu verbergen.
- Krankheitsbefürchtungen beziehen sich bei der Zwangsstörung eher auf die Gefahr, sich in Zukunft eine Krankheit zuzuziehen. Die stark ritualisierten Handlungen einer Zwangsstörung können sich zwar auf die Vermeidung von Krankheiten beziehen (z. B. ritualisiertes Waschen oder Desinfizieren der Hände), kommen aber bei der Hypochondrie nicht vor.
Differenzialdiagnostische Einschätzung somatische Wahnsymptome
- Wahnhafte Störung, somatischer Typ
- Die Vorstellungen sind dann eher bizarr, z. B. Parasiten auf oder unter der Haut zu haben oder einen unerträglichen Körpergeruch abzugeben.
- Diese Gedanken sind unerschütterlich und auch durch Auseinandersetzung damit nicht zu beeinflussen.
- ungünstige Prognose
- Schizophrenie
- gelegentlich somatische Wahnsymptome und Halluzinationen
- Meist im Kontext bizarrer Wahnvorstellungen, z. B. „Außerirdische haben einen Sender unter die Haut verpflanzt und an dieser Stelle schmerzt es nun.“
- Diffuse somatische Beschwerden sind manchmal Erstsymptome der Schizophrenie.
Differenzialdiagnostische Einschätzung Somatisierungsstörung
- Gemeinsamkeiten
- Körperliche Symptome, die nicht durch eine somatische Erkrankung erklärt werden können.
- Dennoch sind die Betroffenen überzeugt davon, dass eine organische Ursache zugrunde liegt.
- Spricht eher für eine Somatisierungsstörung:
- seit dem Jugendalter eine Vielzahl diffuser körperlicher Symptome
- Die Betroffenen wünschen sich an erster Stelle Linderung für ihre Leiden und sind dazu sogar bereit, aus medizinischer Sicht nicht gerechtfertigte invasive Eingriffe über sich ergehen zu lassen.
- Spricht eher für eine Krankheitsangststörung:
- katastrophisierende Gedanken (Krebs, AIDS etc.)
- Die Betroffenen wünschen sich an erster Stelle, für ihre Symptome, die sie als Anzeichen für eine schwere Krankheit ansehen, die „richtige“ Diagnose zugewiesen zu bekommen.
Klinische Untersuchung
- Körperliche Untersuchung zum Ausschluss somatischer Differenzialdiagnosen
- Psychische Exploration
Indikationen zur Überweisung
- Hinweise auf eine somatische Erkrankung, die der Abklärung bei Spezialist*innen bedarf.
- Cave: Wiederholte Überweisungen zu somatischen Spezialist*innen können beitragen, die Symptome aufrechtzuerhalten und das Bedürfnis der Patient*innen nach einer rein somatischen Erklärung zu verstärken.
- Ggf. weitere Psychodiagnostik zur Abgrenzung anderer psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen
- Eine Untersuchung durch eine Fachärztin/einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist nach der somatischen Untersuchung angebracht, wenn die Patient*innen nach 3 Monaten keine Besserung zeigen.
- Allen von einer Krankheitsangststörung Betroffenen soll eine psychotherapeutische Behandlung angeboten werden.
Therapie
Therapieziele
- Therapieziele sollen gemeinsam mit der erkrankten Person vereinbart werden, damit sie sich ernst genommen fühlt.
- Eine unerlässliche Voraussetzung dafür ist es, im Gespräch mit der Person ein Erklärungsmodell zu erarbeiten, das diese akzeptieren kann.
- Erlernen von Techniken, die das Selbstmanagement und die Lebensqualität verbessern.
- Eine Therapie sollte dazu führen, dass die Betroffenen mit oder trotz der Beschwerden ein „gutes“ Leben führen können (Verbesserung der Lebensqualität).
- Beschwerden lindern (nicht Beschwerdefreiheit ist das Ziel!).
- Eine Chronifizierung sollte möglichst vermieden werden.
Psychotherapie
- Kognitive Verhaltenstherapie3-4
- bei Krankheitsangststörung nachweislich wirksam, auch in der internetbasierten Form
- Die Therapieprotokolle ähneln denen, die bei Angststörungen etabliert sind.
- deutlich höhere Effektstärken als bei anderen somatoformen Störungen oder chronischen Schmerzsyndromen
- bis zu 5 Jahre über das Therapieende hinaus nachgewiesene Wirkung
- auch in der Variante der Mindfulness-basierten kognitiven Therapie (MBCT) wirksam5
Medikamentöse Therapie
- Bei Krankheitsangststörung mangels Wirksamkeitsnachweisen nicht indiziert
- Ggf. bei begleitenden psychischen Störungen wie Depression oder wahnhafter Störung (siehe dort)
Behandlung in der Praxis
- Für eine ausführlichere Darstellung siehe Artikel Somatoforme Körperbeschwerden.
- Erklären und benennen.
- Die betroffene Person darauf hinweisen, dass Beschwerden auch ohne körperliche Erkrankungen häufig sind, sie also mit ihren Erfahrungen nicht allein ist.
- Psychophysiologische Zusammenhänge erklären, z. B. mithilfe von „Teufelskreismodellen“ („Je mehr Schmerzen, desto weniger Bewegung – je weniger Bewegung, desto mehr Schmerzen“), anatomischen Abbildungen und modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen („Früher erlebter Schmerz hinterlässt Spuren im Gehirn und macht Sie empfindlicher für heutigen Schmerz und Stress.“)
- An Erwartungen und Zielen arbeiten.
- Vorbestehende Annahmen und Erwartungen der betroffenen Person (teils auch von Angehörigen) bestimmen das Beschwerdeerleben, ihren Verlauf, das Krankheitsverhalten und den Therapieerfolg.
- Deshalb ist es ratsam, über bestehende Annahmen und Erwartungen aber auch über Zweifel und Widersprüche zu sprechen und die betroffene Person zu ermuntern, sie zu überprüfen und neue Erfahrungen zu machen.
- Unrealistische Erwartungen relativieren.
- Erklären, dass man auch mit Beschwerden ein gutes Leben haben kann.
- Das Finden einer eindeutigen „Ursache“, ein schnelles „Wegmachen“ oder „Loswerden“ der Beschwerden oder andere Heilsversprechen sind nicht zielführend.
- Gemeinsam mehrere konkrete, möglichst kleinschrittige Zwischenziele erarbeiten, im Hinblick auf:
- mehr Selbstwirksamkeit
- verbessertes Körpererleben
- körperliche und soziale Aktivierung
- Regeneration und Entspannung.
- Dabei berücksichtigen:
- Patientenpräferenzen
- mögliche widersprüchliche Ziele (z. B. zwischen Gesundungs- und Rentenwunsch)
- innere Behandlungshindernisse (z. B. Ängste, Konfliktvermeidung)
- äußere Behandlungshindernisse (z. B. Dagegenarbeiten der Partner*in, laufende Schmerzensgeldverhandlungen).
- Beschwerden und Symptome lindern.
- Den in der Regel vorübergehenden und begleitenden Charakter von passiven, beschwerdelindernden Maßnahmen (z. B. passive physikalische und physiotherapeutische Anwendungen) im Vergleich zu nachhaltigeren aktiven Selbstwirksamkeitsstrategien erklären.
- Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit stärken.
- Aktive, nachhaltige Bewältigungsstrategien vermitteln.
- Zur (Wieder-)Aufnahme sozialer und körperlicher Aktivitäten und zur (Re-)Exposition bezüglich aktuell vermiedener Aktivitäten raten.
- Schonung und Vermeidung können zwar kurzfristig die Ängste der Betroffenen mindern und die therapeutische Beziehung stabilisieren, sollten allerdings – entsprechend begründet – auch nur kurzfristig unterstützt werden.
- Zur körperlichen Aktivität ermutigen.
- Körperliche Aktivierung ist eine zentrale Therapiemaßnahme bei funktionellen Körperbeschwerden.
- Aktivierung kann in Form kleiner Verhaltensveränderungen beginnen, die individuell angepasst sein sollten.
- eigeninitiative, genussvolle Bewegung, egal in welchem Rahmen, mit welcher Methode oder Sportart
- Phasen der Bewegung und körperlichen Anstrengung mit Phasen der (ebenso genussvollen) Entspannung abwechseln.
- soziale Aktivierung als unterstützende Teilkomponente
- Teamsportarten oder andere Bewegungsaktivitäten in der Gruppe
- ggf. zeitlich begrenzte aktivierende Physio- und Ergotherapie
- Möglichst auf längerfristige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verzichten.
- Die Bescheinigung einer klar befristeten Arbeitsunfähigkeit kann aber sorgfältig erwogen werden, um eine spontane Beschwerdebesserung zu unterstützen und um die therapeutische Beziehung bzw. die Behandlungsadhärenz zu fördern.
- Körperliche Aktivierung ist eine zentrale Therapiemaßnahme bei funktionellen Körperbeschwerden.
- Zusammenarbeiten und Rat einholen.
- Nach parallel verlaufenden Behandlungen und Konsultationen sowie nach deren Wirkung fragen.
- Austausch mit den Kolleg*innen der anderen Fachrichtungen nach Schweigepflichtentbindung anstreben.
- Vor allem bei besonders hartnäckigen Beschwerden und hoher Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen an mögliche aufrechterhaltende dysfunktionale Faktoren denken, z. B.:
- signifikante Vorteile durch die Krankenrolle
- Medikamentenmissbrauch
- gravierende Lebensereignisse
- bisher unerkannte, evtl. seltene körperliche/psychische Differenzialdiagnosen.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
- Für eine ausführlichere Darstellung siehe Artikel Somatoforme Körperbeschwerden.
Schutzfaktoren für einen günstigen Verlauf (Green Flags)
- Funktionale Gedanken und Einstellungen, z. B. positive Lebenseinstellung, Humor, Selbstbewusstsein
- Aktive Bewältigungsstrategien, z. B. sportliche Betätigung, aber auch Genuss- und Entspannungsfähigkeit
- Individuelle Ressourcen, z. B. Hobbys, soziales Engagement, berufliche Pläne
- Keine oder geringe psychosoziale Belastung, z. B. stabile Bindungen, gute soziale Unterstützung, gute Lebens- und Arbeitsbedingungen
- Keine psychische Komorbidität
- Weitgehend erhaltene Funktionsfähigkeit, z. B. Berufstätigkeit oder Sozialkontakte
- Tragfähige therapeutische Beziehung
- Biopsychosozialer Behandlungsansatz mit Vermittlung von Zuversicht und positiven Bewältigungsstrategien, unter Vermeidung unnötiger Diagnostik und Therapie
Indikatoren/Risikofaktoren für einen schweren Verlauf (Yellow Flags)
- Mehrere Beschwerden (polysymptomatischer Verlauf)
- Häufige bzw. anhaltende Beschwerden (ohne oder nur mit seltenen beschwerdefreien Intervallen)
- Dysfunktionale Gedanken und Einstellungen, z. B. Katastrophisieren, Hilf-/Hoffnungslosigkeit, Angst-Vermeidungs- Überzeugungen, hohe gesundheitsbezogene Angst
- Passives, überaktives oder suppressives Verhalten, z. B. ausgeprägtes Schon- und Vermeidungsverhalten, beharrliche Arbeitsamkeit/Durchhalteverhalten, hohes Inanspruchnahmeverhalten
- Mäßige bis hohe psychosoziale Belastung, z. B. Distress (negativer Stress, vor allem berufs-/arbeitsplatzbezogen), Niedergeschlagenheit, Zukunftsängste, Einsamkeit
- Psychische Komorbidität (besonders Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, Traumafolgestörungen)
- Deutlich reduzierte Funktionsfähigkeit, z. B. Arbeitsunfähigkeit, sozialer Rückzug, körperliche Dekonditionierung
- Beziehung zwischen behandelnder und behandelter Person wird von beiden Seiten als „schwierig“ erlebt.
- „Iatrogene Somatisierung“ bzw. „Chronifizierung“ durch Nocebo-Botschaften, Förderung einer passiven Haltung der erkrankten Person, unnötige Diagnostik und Therapie
Warnsignale (Red Flags)
- Selbstgefährdung bis hin zu Suizidalität (z. B. massive Mangelernährung/Untergewicht, schwere körperliche Folgeschäden von Schonung wie Kontrakturen, Suizidgedanken und -pläne)
- Gefährdung durch andere, z. B. durch Ärzt*innen, meist durch fehlende oder ungeeignete Behandlungen (z. B. Vorenthaltung notwendiger Therapien körperlicher Begleiterkrankungen, Mangelsyndrome durch Ausleittherapien, hochriskante invasive Therapien wie nicht indizierte Operationen)
- Besonders schwere psychische Komorbidität (z. B. völliger Rückzug bei Angsterkrankungen oder Depressionen)
- Warnsignale bekannter körperlicher Erkrankungen (z. B. Blut im Stuhl bei Magen-Darm-Beschwerden, B-Symptomatik bei Erschöpfung, Probleme mit Stuhlgang oder Wasserlassen bei Rückenschmerzen)
Verlauf
- Es gibt Warnsignale für schwere Verläufe (Red Flags), die eine sofortige Veranlassung geeigneter Intervention nötig machen (s. o.).
- Der Verlauf ist unterschiedlich, und eine Spontanremission ist selten, wenn die Beschwerden länger als 12 Monate angedauert haben.
- Die Erkrankung kann lebenslang persistieren, und die Patient*innen unterziehen sich oft ohne Erfolg zahlreichen Untersuchungen und Behandlungsversuchen.
Prognose
- Remissionsrate 30–50 %
- Die initiale Schwere der Erkrankung beeinflusst die Prognose
- Hohe Erfolgsrate der kognitiven Verhaltenstherapie
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Rask C, Munkholm A, Clemmesen L, et al. Health Anxiety in Preadolescence - Associated Health Problems, Healthcare Expenditure, and Continuity in Childhood. Journal of Abnormal Child Psychology 2015. PMID: 26311618. PubMed
- Fallon BA, Harper KM, Landa A et al. Personality disorders in hypochondriasis: prevalence and comparison with two anxiety disorders. Psychosomatics 2012; 53: 566-74. PMID: 22658329 PubMed
- Tyrer P, Salkovskis P, Tyrer H, et al. Cognitive-behaviour therapy for health anxiety in medical patients (CHAMP): a randomised controlled trial with outcomes to 5 years. Health Technol Assess 2017 Sep; 21(50): 1-58. pmid:28877841 PubMed
- Weck F, Neng JM, Richtberg S, Stangier U. Dysfunctional beliefs about symptoms and illness in patients with hypochondriasis. Psychosomatics. 2012 Mar-Apr. 53(2):148-54. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- McManus F, Surawy C, Muse K, Vazquez-Montes M, Williams JM. A randomized clinical trial of mindfulness-based cognitive therapy versus unrestricted services for health anxiety (hypochondriasis). J Consult Clin Psychol. 2012 Oct. 80(5):817-28. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg