Münchhausen-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Vortäuschung von durch Patient*innen erfundenen Symptomen und Beschwerdebildern im Sinne einer artifiziellen Störung.
  • Häufigkeit:Seltene Erkrankung.
  • Symptome:Die Symptome und Beschwerden sind vielfältig und ändern sich typischerweise ständig, es kann zu Selbstvergiftungen und Selbstverletzungen kommen.
  • Befunde:Nahezu jede somatische oder psychische Erkrankung kann glaubhaft simuliert werden.
  • Diagnostik:Ein verantwortungsvoller Einsatz apparativer und invasiver Diagnostik ist entscheidend zum Schutz der Patient*innen.
  • Therapie:Empathisch-wertschätzender Umgang mit den Patient*innen, Symptome und Beschwerden ernst nehmen, Diagnostik mit Augenmaß je nach Situation gemäß den üblichen ärztlichen Standards.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Synonym: Chronische artifizielle Störung (engl. Chronic Factitious Disorder)
  • Patient*innen erfinden Krankheitssymptome und führen diese häufig theatralisch vor.1
  • Das Münchhausen-Syndrom dient nicht selten dem Gewinn von Aufmerksamkeit.
  • Die Patient*innen leiden häufig an einem starken Bedürfnis krank zu sein bis hin zu einem Zwang, der so stark sein kann, dass sich Patient*innen selbst verletzen oder vergiften, um den Anschein einer organischen Krankheit aufrecht zu erwecken.
  • Richard Asher benannte das Syndrom 1951 nach Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720–1797), der für seine erfundenen fantastischen und übertriebenen Geschichten über sein Leben bekannt wurde.2-3
  • Im DSM-IV wird das Münchhausen-Syndrom unter die „nicht-näher bezeichneten vorgetäuschten Störungen“ eingeordnet
  • Es werden zwei weitere Sonderformen unterschieden („for proxy“ = Symptome zum Nutzen anderer):
    • Münchhausen-by-proxy-Syndrom (Münchhausen-Stellvertretersyndrom):
      • Sonderform der artifiziellen Störung.
      • Patient*innen verursachen oder täuschen bei einem anderen Menschen (häufig dem eigenen Kind) Krankheiten vor, um anschließend eine medizinische Behandlung zu verlangen.
      • gehört wie das eigentliche Münchhausen-Syndrom zu den artifiziellen Störungen.
      • wird aus Gefahr möglicher Entlastung von Kindesmisshandlungen nicht im DSM-IV aufgeführt.
      • Münchhausen-Syndrom by Proxy wird als Kindesmissbrauch eingestuft und kann für das Kind lebensbedrohlich sein.
      • Es werden drei Phasen der artifiziellen Symptomherbeiführung unterschieden:
        • Phase 1: Schilderung nicht vorhandener Symptome wie Herz- oder Atemstillstände oder epileptische Anfälle bei den Kindern.
        • Phase 2: vorsätzliche Fälschung von Messdaten oder Körpersubstraten des Kindes.
        • Phase 3: Patient*innen erzeugen reale Symptome, indem sie beispielsweise dem Kind Medikamente oder Gifte verabreichen oder das Kind bis hin zur Bewusstlosigkeit mit einem Kissen oder der Hand ersticken.
    • Münchhausen-adult-by-proxy-Syndrom:
      • noch seltenere Form des Münchhausen-Syndroms.
      • Grundsätzlich wie Münchhausen-by-proxy-Syndrom, allerdings sind nicht Kinder, sondern Erwachsene Opfer einer anderen erwachsenen Person.
      • Sehr schwer zu diagnostizieren.
      • Beispielsweise wird die Rekonvaleszenz eines Menschen durch eine andere Person vorsätzlich verhindert, damit zweitere Person sich öffentlichkeitswirksam als aufopferungsvolle*r Pfleger*in stilisieren kann.

Häufigkeit

  • Prävalenz geschätzt auf ca. 0,2–1 % bei stationären Patienten.1
    • bei Fieber unklarer Ursache: ca. 9 %
  • Alter: häufig zwischen 20–40 Jahren.
  • Schwankende Angaben zur Geschlechterverteilung.
  • Münchhausen-by-proxy-Syndrom:
    • fast ausschließlich Frauen, zu 90% Mütter.
    • tritt statistisch relativ selten auf, jedoch gehört es wahrscheinlich zu den häufigsten nicht erkannten Leiden.

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Pathophysiologie ist nicht grundsätzlich bekannt.
  • Psychopathologische Komorbiditäten liegen bei den meisten Patient*innen mit Münchhausen-Syndrom vor.4
  • Häufig Kombination von gestörter Impulskontrolle, selbstzerstörerischem Verhalten, Borderline- oder passiv-aggressiven Persönlichkeitsmerkmalen.5
  • Nicht selten ebenfalls Depression als Grunderkrankung oder Komorbidität.4
  • Mortalität kann aufgrund von Selbstverletzungen, postoperativen Komplikationen und dem Zurückhalten wichtiger Gesundheitsinformationen erhöht sein.6
  • Häufig erschwerter psychiatrischer Zugang.
  • Risikofaktoren für die Entwicklung eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms:
    • Alleinerziehend oder getrennt lebend.
    • Häufig Affinität zu medizinischen Berufen.
    • Häufig distanzierte Beziehungen führend, nicht selten selbst destruktive Aggressionen.
    • Nicht selten selbst Opfer von Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und sozialer Deprivation.

ICPC-2

  • P80 Persönlichkeitsstörung

ICD-10

  • F68.- Andere Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
    • F68.0 Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen
    • F68.1 Artifizielle Störung: absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen, Inkl.: Münchhausen-Syndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Erschwerend ist die Tatsache, dass die anamnestischen Angaben in der Regel frei erfunden und die Symptome vorsätzlich herbeigeführt werden.
  • Patient*innen mit Münchhausen-Syndrom streben häufig aktiv nach stationären und invasiven Behandlungen als primärem Ziel.
  • Typisch ist die Konsultation vieler verschiedener Ärzt*innen und Krankenhäuser mit wechselnden, beliebigen, aber ausgeprägten Symptomen.
    • diese umfassen sämtliche denkbare Arten von Schmerzen und Beschwerden.

Differenzialdiagnosen

  • Somatoforme Störungen
    • Die Symptome werden von den Patienten nicht absichtlich erzeugt, können aber durch eine starke Fokussierung auf einen bestimmten Körperabschnitt oder eine ständige Suche nach einer physischen, organischen Erklärung verstärkt werden.

Anamnese

  • Arzt-Hopping ist sehr typisch, ebenso das dramatische Präsentieren scheinbar schwerer Krankheiten.
  • Häufig Angabe von Symptommustern, die fast zu perfekt auf die Diagnose zutreffen und wie aus dem Lehrbuch erscheinen.
  • Bei gründlicher Befragung zu Details wirken die Patient*innen nicht selten bemerkenswert vage und widersprüchlich.
  • Anzeichen und Symptome können sich laufend verändern.
  • Viele Patienten weisen eine alarmierend hohe Zahl von Selbstvergiftungen und Selbstverletzungen in der Vorgeschichte auf, stets dem Ziel dienend ein "realistisches" Krankheitsbild zu präsentieren.
  • Insbesondere bei Patientinnen kann mitunter eine Tendenz existieren vermeintlich enge therapeutische Beziehungen einzugehen mit dem Ziel der Manipulation der Ärzt*innen zur Erreichung eigener Ziele.
  • Patient*innen nutzen nicht selten das Internet und soziale Medien, um ihre Krankheitssymptome in dramatischer Weise zu demonstrieren und publizieren.
  • Beispiele für selbst verursachte Symptome und Beschwerdebilder:
    • Einnahme blutverdünnender Medikamente, von Insulin oder stoffwechselregulierenden Arzneimitteln, um sich mit den entsprechenden Folgen ärztlich vorzustellen.
    • Injektion von Fäkalien unter die Haut, um entzündete und nicht abheilende Wunden präsentieren zu können.
    • Einbringung von Fremdkörpern über diverse Körperöffnungen.
    • Bewusste Manipulation von Gelenken oder Muskeln sowie Selbstverletzungen, um einen chirurgischen Eingriff herbeizuführen. 

Klinische Untersuchung

  • Patient*innen mit Münchhausen-Syndrom können jede erdenkliche Kombination von Symptomen und Beschwerdebildern aufweisen.7
  • Eine gründliche allgemeinmedizinische körperliche Untersuchung ist in jedem Fall anzuraten.
  • Die Patient*innen sollten ernst genommen werden und bei Verdacht auf Vorliegen eines Münchhausen-Syndroms sind Verurteilungen und Wertungen von ärztlicher Seite zu vermeiden.
    • der Versuch des Aufbaus einer (möglichst) tragfähigen, respektvollen Arzt-Patienten-Beziehung ist mitunter die einzige Chance, Patient*innen vor den möglichen schweren Schäden invasiver Diagnostik und Therapien zu bewahren.
    • Die psychische Situation sollte klinisch-anamnestisch wertschätzend evaluiert werden, um eventuelle Grunderkrankungen und Komorbiditäten aufdecken zu können.

Erweiterte Diagnostik

  • Grundsatz: „So wenig wie möglich, so viel wie nötig“.
  • Überdiagnostik vermeiden, bei häufigen Konsultationen mit unterschiedlichsten Beschwerden sollte an einen psychiatrisch/psychosomatischen Hintergrund mitgedacht werden.
  • Laboruntersuchungen indikationsgeleitet nach jeweiligem Verdacht.
  • Nichtinvasive Bildgebung, z.B. Abdomensonographie, bevorzugen.
  • Fokus immer auch auf sprechende Medizin legen, bevor invasive Maßnahmen ergriffen werden.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose kann es sinnvoll sein, die Patient*innen psychiatrisch mitbeurteilen zu lassen.
  • Bei Vorliegen von red flags (z.B. Verdacht auf beginnende Sepsis, usw.) sollte selbstverständlich gemäß den ärztlichen Standards eine somatisch notfallmäßige Therapie initiiert werden.

Therapie

Therapieziel

  • Den Zustand möglichst schnell zu erkennen und Überdiagnostik sowie -therapien zu vermeiden.
  • Vorgetäuschte Erkrankungen gefährden den ärztlichen Grundsatz „nicht schaden – nil nocere", indem sie risikobehaftete Interventionen provozieren.
  • Es wird empfohlen, Patient*innen bei Vorliegen hinreichender Indizien über die Differenzialdiagnose einer Selbstbeibringung zu informieren und sie gegebenenfalls schrittweise, konstruktiv und unterstützend mit der Verdachtsdiagnose zu konfrontieren (indirekte Konfrontationsarbeit).

Allgemeines zur Therapie

  • Die initiale Therapie der Patient*innen ist abhängig vom Krankheitsbild.
  • Grundsätze der Stufendiagnostik sollten eingehalten werden, Aktionismus ist zu vermeiden.
  • Therapeutisch kann es sinnvoll sein, den Patient*innen schrittweise zu der eigenen Erkenntnis zu verhelfen, dass eine psychiatrische Mitbeurteilung das Leiden dramatisch reduzieren kann.8
  • Ein konstruktiver, im gesamten Team abgestimmter Behandlungsplan sollte nicht auf ärztliche Interventionen und Entlarvung setzen, sondern auf ein beständiges Kontaktangebot, psychosoziale Hilfen und die Übernahme von Behandlungs-verantwortung durch die Patient*innen selbst.

Medikamentöse Therapie

  • 1. Arzneimittel zur akuten Behandlung des aktuell vorliegenden (selbst herbei geführten) Krankheitsbildes: Antibiotika, Analgetika, usw.
  • 2. Psychiatrische Medikation je nach Grunderkrankung.
    • Neuroleptika haben bei Münchhausen-Syndrom keine Wirkung auf die Prognose gezeigt, können jedoch Linderung bringen.

Weitere Therapien

  • Eine Verhaltens- oder kognitive Psychotherapie kann einen günstigen Effekt haben, jedoch ist dieser nicht grundsätzlich nachgewiesen.
    • Grundsatz: Verbale vor medikamentöser Therapie!
  • Die Natur des Syndroms und dessen Seltenheit machen kontrollierte Behandlungsansätze nahezu unmöglich.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Chronische Erkrankung.

Komplikationen

  • Häufig Komplikationen je nach Schwere der Selbstverletzungen bis hin zu tödlichen Verläufen.
  • Hoher psychischer Leidensdruck.

Prognose

  • Die Prognose für Patienten mit Münchhausen-Syndrom ist in der Regel schlecht.
  • Es existiert (noch) kein grundsätzliches Verständnis für die Psychopathologie der Erkrankung.
  • Patienten mit Münchhausen-Syndrom können zu extremsten Maßnahmen greifen, um eine organische Erkrankung zu simulieren.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Elwyn TS. Factitious disorder imposed on self. Medscape, last updated Apr 03, 2019. emedicine.medscape.com
  2. Asher R. Munchausen's syndrome. Lancet 1951; 1: 339-41. PubMed
  3. Olry R. Baron Munchhausen and the syndrome which bears his name: history of an endearing personage and of a strange mental disorder. Vesalius 2002; 8: 53-7. PubMed
  4. Yates GP, Feldman MD. Factitious disorder: a systematic review of 455 cases in the professional literature. Gen Hosp Psychiatry 2016; 41: 20 – 8: 20 – 8. pmid:27302720 PubMed
  5. Feldman MD. Playing sick? Untangling the web of Munchausen syndrome, Munchausen by proxy, malingering and factitious disorder. New York: Brunner-Routledge, 2004
  6. Cruz-Portelles A, Fernández-Chelala BE, Peña-Castillo Y. 31 year old woman with Munchausen syndrome in haemodialysis. Case report and literature review. Nefrologia 2012; 32: 552 – 3: 552 – 3. pmid:22806302 PubMed
  7. Park TA, Borsch MA, Dyer AR, Peiris AN. Cardiopathia fantastica: the cardiac variant of Munchausen syndrome. South Med J 2004; 97: 48-52. PubMed
  8. Huffman JC, Stern TA, Huffman JC, Stern TA. The diagnosis and treatment of Munchausen's syndrome. Gen Hosp Psychiatry 2003; 25: 358-63. PubMed

Autoren

  • Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster/W

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