Zusammenfassung
- Definition:Verschluss eines arteriellen Gefäßes der Netzhaut mit konsekutiver Visusminderung und/oder Gesichtsfeldeinschränkung; ca. 95 % embolisch verursacht, ca. 5 % durch Riesenzellarteriitis.
- Häufigkeit:Inzidenz arterieller Verschlüsse ca. 1‒10/100.000. Mittleres Alter der Patient*innen 60–70 Jahre.
- Symptome:Visusminderung und/oder Gesichtsfeldeinschränkung; plötzliches, schmerzlosos Auftreten.
- Befunde:Nachweis der Verschlüsse durch Funduskopie, ergänzend optische Kohärenztomografie, Fluoreszenzangiografie.
- Diagnostik:Laborchemische und bildgebende Diagnostik auf kardiovaskuläre Risikofaktoren bzw. manifeste Erkrankungen sowie evtl. Riesenzellarteriits. Ergänzend Diagnostik auf Emboliequellen.
- Therapie:Vor allem Behandlung kardiovaskulärer Risikofaktoren. ASS zur Sekundärprophylaxe. Antikoagulation nur bei nachgewiesener Emboliequelle. Kortikosteroidtherapie bei Riesenzellarteriits.
Allgemeine Informationen
Definition
- Verschluss eines arteriellen Gefäßes der Netzhaut mit konsekutiver Visusminderung und/oder Gesichtsfeldeinschränkung
- Unterschiedliche Lokalisationen der Verschlüsse führen zu einem unterschiedlich ausgeprägten klinischen Bild.
Lokalisation
- Nach der Lokalisation können unterschieden werden:
- Zentralarterienverschluss (mit oder ohne zilioretinale Arterie): ca. 55 %
- Hemizentralarterienverschluss (Verschluss nach der Aufzweigung in die hemisphärenversorgenden Äste): selten
- Seitenastverschluss: ca. 40 %
- isolierter Verschluss einer zilioretinalen Arterie: ca. 5 %
Bedeutung für die hausärztliche Praxis
- Retinale Gefäßverschlüsse sind häufig Ausdruck einer zugrunde liegenden kardiovaskulären Erkrankung oder eines kardiovaskulären Risikoprofils.
- Bei ca. 90 % der Patient*innen mit arteriellem Verschluss liegt mindestens ein Risikofaktor für Atherosklerose vor.
- Daher interdisziplinäre Abklärung und Therapie/Sekundärprävention unter Einbeziehung von Hausärzt*innen, Augenärzt*innen und ggf. weiterer Fachdisziplinen (z. B. Kardiologie, Angiologie, Rheumatologie)
Häufigkeit
- Inzidenz ca. 1–10/100.0001
- Häufigkeitsgipfel zwischen 65 und 70 Jahren
- 90 % der Patient*innen > 40 Jahre alt
- Männer zu Frauen ca. 2:1
- Lokalisation: fast 60 % Zentralarterie, fast 40 % Seitenäste, selten zilioretinale Gefäße
Ätiologie und Pathogenese
- Hauptursachen sind:
- Thromboembolie: ca. 95 %
- Vaskulitis (v. a. Riesenzellarteriitis): ca. 5 %
- Häufigste Herkunft der Emboli
- ipsilaterale Plaques/Stenosen der A. carotis interna (ca. 50 %)
- Vorhofflimmern (ca. 20 %)
- Herzklappenerkrankung (ca. 15 %)
- gekreuzte Embolie durch offenes Foramen ovale (ca. 15 %)
- Typische Symptomatik ist eine akute und schmerzlose Sehminderung des betroffenen Auges.
- Je nach Lokalisation des Verschlusses unterschiedlich ausgeprägte Visusminderung und Gesichtsfelddefekte,
- Visusverlust auf unter 0,1 bei > 90 % der Patient*innen mit Zentralarterienverschluss
- bei erhaltener Makuladurchblutung durch zilioretinale Arterie erhaltene Sehschärfe trotz nahezu komplett erloschenem Gesichtsfeld
- bei Astverschluss 75 % der Patient*innen mit Visus > 0,5
- horizontale Trennung des Gesichtsfelds bei Hemizentralarterienverschluss
- Abnahme der zentralen Sehschärfe bei Beteiligung der Makula
- Visusverlust auf unter 0,1 bei > 90 % der Patient*innen mit Zentralarterienverschluss
Klassifikation in Abhängigkeit von der Persistenz
- Amaurosis fugax: funduskopisch keine Zeichen eines Verschlusses
- Transienter Verschluss: spontane und komplette Rekanalisierung in der
Fluoreszenzangiografie, funduskopisch aber mit den Zeichen eines Verschlusses - Persistierender Verschluss: mit verzögerter oder ohne Rekanalisierung
Prädisponierende Faktoren
- Höheres Alter
- Arterielle Hypertonie
- Diabetes mellitus
- Hyperlipoproteinämie
- Rauchen
- Atherosklerose
- Vaskulitis
- Thrombophilie
- Glaukom
ICD-10
- H34 Netzhautgefäßverschluss
- H34.0 Transitorischer arterieller retinaler Gefäßverschluss
- H34.1 Verschluss der A. centralis retinae
- H34.2 Sonstiger Verschluss retinaler Arterien
- H34.8 Sonstiger Netzhautgefäßverschluss
- H34.9 Netzhautgefäßverschluss, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinisch Visusminderung und Gesichtsfelddefekte
- Ophthalmologischer Nachweis des Verschlusses
Differenzialdiagnosen
- Migräne mit Aura
- Netzhautablösung (Amotio retinae)
- Glaskörperblutung
- Optikusneuritis
- Zentralvenenverschluss
Anamnese
- Symptome
- Art der Sehverschlechterung
- Visusminderung
- Gesichtsfelddefekt
- zeitlicher Verlauf
- plötzlich auftretend
- bei ca. 15 % Amaurosis fugax im Vorfeld eines Verschlusses
- Persistenz
- einmalig, intermittierend
- persistierend
- Schmerzen
- keine Schmerzen bei arteriellen Verschlüssen
- Symptome einer Riesenzellarteriitis?
- Kopfschmerzen
- Schmerzen beim Kauen
- Muskelschmerzen
- B-Symptomatik
- Art der Sehverschlechterung
- Vor- und Begleiterkrankungen
- kardiovaskuläres Risikoprofil
- St. n. Schlaganfall
- Karotisstenose
- chronisches Koronarsyndrom, St. n. Herzinfarkt
- Herzinsuffizienz
- Vorhofflimmern/-flattern
- Klappenvitien
- PAVK
- tiefe Venenthrombose (in Kombination mit offenem Foramen ovale)
- systemische Vaskulitis, insbesondere Riesenzellarteriitis (A. temporalis/Polymyalgia rheumatica)
- Thrombophilie
- kardiovaskuläres Risikoprofil
Klinische Untersuchung
- Visus
- Landolt-Tafel, Fingerzählen, Hell-/Dunkelsehen
- Gesichtsfeld
- Fingerperimetrie
- Afferenter Pupillendefekt
- verlangsamte Lichtreaktion der ipsilateralen Pupille bei arteriellem Verschluss
- Inspektion und Palpation der Temporalarterie (Riesenzellarteriitis)
- Xanthelasmen (Hyperlipidämie)
- Größe/Gewicht (BMI)
- Blutdruck/Puls (Arrhythmie)
- Peripherer Pulsstatus (PAVK)
- Gefäßauskultation (Strömungsgeräusche im Bereich von Karotiden, Aorta abdominalis, Femoralarterien bei PAVK)
- Herzauskultation (Vitien)
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Wenn keine dringliche Einweisung/Überweisung erfolgt.
EKG
- Vorhofflimmern/-flattern?
- Hinweise für Myokardschaden?
LZ-EKG
- Vorhofflimmern/-flattern?
Langzeit-RR
Labor
- Basislabor
- Evtl. erweitertes Labor auf:
- Thrombophilie,
- bei jüngeren Patient*innen < 45–50 Jahre ohne klassisches kardiovaskuläres Risikoprofil
- systemische Vaskulitiden.
- Thrombophilie,
Diagnostik bei Spezialist*innen/in der Klinik
Ophtalmologische Untersuchung
- Erstdiagnostik
- Prüfung auf afferente und efferente Pupillenstörung
- Sehschärfenprüfung
- Spaltlampenuntersuchung vordere Augenabschnitte
- Funduskopie zentraler Augenhintergrund
- Weiterführende Diagnostik
- Funduskopie gesamte Netzhaut in Mydriase
- optische Kohärenztomografie (OCT)
- Fluoreszeinangiografie (FAG)
- Perimetrie
- Augeninnendruckmessung
- Dopplersonografie der orbitalen Gefäße
- Elektrophysiologie
Duplexsonografie
- Atherosklerotische Plaques, Karotisstenose
- Riesenzellarteriitis mit Arteriitis temporalis
Echokardiografie
- Basisuntersuchung transthorakale Echokardiografie
- im Einzelfall ergänzend transösophageal bei V. a. kardiale Embolie ohne Befund in der transthorakalen Untersuchung
- Größe und Funktion vom linken Ventrikel, Größe des linken Vorhofs
- Klappenvitien
- Thromben
- Ventiloffenes Foramen ovale (PFO)
- Bei nachgewiesenem PFO sollte auch das tiefe Venensystem auf Thromben untersucht werden (Farbduplexsonografie).
Indikationen zur Überweisung
- Bei dringendem V. a. akuten arteriellen Gefäßverschluss stationäre Einweisung in ein Krankenhaus mit angebundener Stroke Unit
- Ansonsten Überweisung zur augenärztlichen Abklärung
Therapie
Therapieziele
- Bestmögliche Erhaltung von Sehschärfe und Gesichtsfeld
- Vermeidung von Befall des anderen Auges und Rezidiven
Allgemeine Therapie
- Meistens besteht ein Risikoprofil für Atherosklerose, sodass die Risikofaktoren identifiziert und behandelt werden sollten.
- Behandlung manifester atherosklerotischer Gefäßerkrankungen und/oder Erkrankungen mit erhöhtem Embolierisiko
- Karotisstenose
- chronisches Koronarsyndrom
- chronische Herzinsuffizienz mit reduzierter systolischer LV-Funktion
- PAVK
- Vorhofflimmern/-flattern
- tiefe Venenthrombose in Kombination mit ventiloffenem Foramen ovale
- Thrombophilie
Spezielle Therapie
- Es gibt keine durch Studien abgesicherte Standardtherapie arterieller retinaler Verschlüsse.2
- Kurzes Zeitfenster für einen Rekanalisationsversuch, da bereits nach wenigen Stunden irreversible Schäden auftreten können.
- Die meisten Patient*innen kommen allerdings erst später zur Erstuntersuchung.
- häufig bereits Reperfusion bei der augenärztlichen Erstuntersuchung, allerdings mit vermindertem Blutfluss
Lyse
- Keine sichere Evidenz zum Nutzen einer Lyse3-4
- Im Einzelfall kann eine intravenöse Lyse bis zu einer Verschlusszeit von 4,5 Stunden erwogen werden.
Hämodilution
- Eine Verbesserung der Perfusion durch Hämodilution kann versucht werden, allerdings bislang kein wissenschaftlicher Beleg.
Antikoagulation
- Bei Nachweis einer Emboliequelle, ansonsten soll keine Antikoagulation erfolgen.
Thrombozytenaggregationshemmer
- Ein nicht-arteriitischer Verschluss oder Amaurosis fugax soll mit einem Thrombozytenaggreagtionshemmer (z. B. ASS 100 mg/d) behandelt werden.
Augeninnendrucksenkung
- Eine Senkung des Augeninnendrucks z. B. durch Bulbusmassage kann versucht werden, allerdings keine wissenschaftliche Evidenz.
Hyperbare Sauerstofftherapie
- Kann bei einer Verschlussdauer von ≤ 4,5 Stunden versucht werden, allerdings keine wissenschaftliche Evidenz.
Laser
- Im Einzelfall kann bei frischem Astverschluss mit starker Visusminderung eine Laser-Embolektomie erwogen werden.
Behandlung einer Riesenzellarteriitis mit Arteriitis temporalis
- Bei Verdacht auf nachgewiesene oder bei nachgewiesener Arteriitis temporalis umgehend hochdosierte Kortikosteroide, zu Beginn systemisch, dann ausschleichend oral für mindestens 1 Jahr
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Neovaskularisationen
- Glaukom
- Glaskörperblutung
- Assoziation zwischen Netzhautgefäßverschlüssen und erhöhter kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität
- Das Risiko für Schlaganfall oder akutes Koronarsyndrom (ACS) z. B. ist innerhalb des Folgemonats nach arteriellem Verschluss bis zu 15-fach erhöht.
Verlauf und Prognose
- 90–95 % der Patient*innen mit Zentralarterienverschluss weisen bei Erstvorstellung eine Sehschärfe unter 0,1 auf.
- bei transienten Verschlüssen bessere Prognose, 39 % der Patient*innen mit initialer Sehschärfe unter 0,1
- Innerhalb 1 Woche nach Zentralarterienverschluss kann es zu einer Besserung des Visus kommen, nach 1 Woche ist keine Verbesserung mehr zu erwarten.
- Deutlich bessere Prognose beim Astverschluss
- initiale Sehschärfe bei 75–90 % der Betroffenen und abschließende Sehschärfe bei 90 % der Betroffenen mindestens 0,5
- bei nur transientem Astverschluss initiale Sehschärfe bei über 90 % der Betroffenen mindestens 0,5
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Leavitt JA, Larson TA, Hodge DO, Gullerud RE. The incidence of central retinal artery occlusion in Olmsted County, Minnesota. Am J Ophthalmol 2011; 152:820. PubMed
- Fraser SG, Adams W. Interventions for acute non-arteritic central retinal artery occlusion. Cochrane Database of Systematic Reviews 2009, Issue 1. Art. No.: CD001989. DOI: 10.1002/14651858.CD001989.pub2 DOI
- Hazin R, Dixon JA, Bhatti MT. Thrombolytic therapy in central retinal artery occlusion: cutting edge therapy, standard of care therapy, or impractical therapy? Curr Opin Ophthalmol 2009; 20:210. PubMed
- Nowak RJ, Amin H, Robeson K, Schindler JL. Acute Central Retinal Artery Occlusion Treated with Intravenous Recombinant Tissue Plasminogen Activator. J Stroke Cerebrovasc Dis. 2012; 21: 913. PMID: 22349707 PubMed
Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.