Zusammenfassung
- Definition:Chronisch progrediente Optikusneuropathie mit offenem Kammerwinkel. Genaue Ursache unbekannt.
- Häufigkeit:Prävalenz in Europa bei Personen zwischen 40–80 Jahren etwa 2,5 %, im Alter zunehmende Häufigkeit.
- Symptome:Die Erkrankung bleibt lange asymptomatisch, mit der Zeit jedoch zunehmende Gesichtsfeldausfälle.
- Befunde:Gesichtsfeldausfälle. Bei Spezialist*in exkavierte Papille und oft, aber nicht zwingend, erhöhter Augeninnendruck.
- Diagnostik:Anamnese nach typischen Symptomen bzw. Risikofaktoren. Bei Verdacht auf Glaukom bzw. erhöhtem Glaukomrisiko weiterführende Diagnostik bei Spezialist*in.
- Therapie:Keine Heilung möglich, sondern nur Verlangsamung des Visusverlusts durch Senkung des Augeninnendrucks sowie neuroprotektive Maßnahmen, z. B. körperliche Aktivität und Vermeidung von Alkohol und Nikotin.
Allgemeine Informationen
Definition
- Gruppe chronisch progredienter Optikusneuropathien mit gonioskopisch offenem Kammerwinkel
- Unbehandelt kann dies zum Tunnelsehen und zum Verlust des zentralen Sehens führen.1-2
- Die Erkrankung wird von den Betroffenen oft erst im fortgeschrittenen Stadium bemerkt, bei dem bereits irreversible Gesichtsfelddefekte vorliegen.
Einteilung der Glaukome
- Anhand der Konfiguration des Kammerwinkels
- Offenwinkelglaukom
- Akutes/chronisches Winkelblockglaukom
Häufigkeit
- Eine der Hauptursachen für Sehbehinderung und Blindheit in den Industrieländern.
- Offenwinkelglaukom 7-mal häufiger als Winkelblockglaukom3
- Prävalenz des Offenwinkelglaukoms
Ätiologie und Pathogenese
- Die Optikusneuropathie beim primären Offenwinkelglaukom kann auch ohne erhöhten Augeninnendruck auftreten.
- Heutzutage wird es als neurodegenerative Erkrankung angesehen, bei der es zu komplexen Veränderungen im Zentralnervensystem kommt.
- Beteiligung nicht nur vom visuellen Pfad, d. h. Nervus opticus – Corpus geniculatum laterale – Tractus opticus und visueller Kortex, sondern auch vom gesamten Kortex
- Neue Therapiekonzepte befassen sich daher mit der Neuroprotektion (siehe Abschnitt Therapie).
Risikofaktoren
- Positive Familienanamnese 1. Grades: 2-fach erhöht
- Lebensalter: zunehmende Häufigkeit mit steigendem Alter
- Okuläre Hypertension (≥ 24 mmHg): Risiko von 9 %, in den nächsten 5 Jahren zu erkranken.
- Myopie ab –4 Dioptrien: 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko
- Pseudoexfoliatio lentis (systemische Erkrankung mit Eiweißablagerungen): 4- bis 6-fach erhöhtes Risiko
- Männliches Geschlecht: 1,3-fach häufiger betroffen
- Personen mit dunkler Hautfarbe: 3-fach höheres Risiko
- Längere Therapie mit Steroiden systemisch oder am Auge: > 2-fach höheres Risiko
- Bei dieser medikamenteninduzierten Form spricht man vom sekundären Offenwinkelglaukom.
ICD-10
- H40.1 Primäres Weitwinkelglaukom
Diagnostik
Allgemeines
- Wichtige Aufgaben der Hausärzt*innen ist das rechtzeitige Erkennen von Personen mit hohem Glaukomrisiko sowie von Erkrankten samt Überweisung zu Spezialist*innen.
- Die Hausärzt*innen sollten auch über Chancen und Grenzen der Glaukomfrüherkennungsuntersuchung (siehe Abschnitt Screening) an asymptomatischen Personen aufklären können.
- Die Diagnostik erfolgt bei Augenärzt*innen, da hierfür spezielle ophthalmologische Untersuchungen notwendig sind.
Diagnostische Kriterien
- Kombination verschiedener ophthalmologischer Untersuchungen, u. a.:
- Perimetrie: Nachweis von Gesichtsfeldausfällen
- Gonioskopie: Beurteilung des Kammerwinkels
- Messung Augeninnendruck
- Ophthalmoskopie: exkavierte Papille
- optische Kohärenztomografie: Darstellung und Vermessung von retinaler Ganglienzellschicht und Nervenfaserschicht.
Anamnese
Symptomatik
- Häufig a- oder oligosymptomatisch über längere Zeit
- Die Gesichtsfelddefekte beginnen häufig peripher und werden von den Patient*innen oft lange nicht wahrgenommen.
- Die Gesichtsfeldausfälle sind nicht symmetrisch, sodass das eine Auge den Defekt des anderen Auges „kompensieren“ kann.
- Das primäre Offenwinkelglaukom ist vom akuten Verlauf eines Engwinkelglaukoms (Glaukomanfall) zu unterscheiden.
- Schmerzen kommen beim primären Offenwinkelglaukom normalerweise nicht vor.
Risikofaktoren
- Abfragen der Risikofaktoren, um Patient*innen für ein Screening zu identifizieren.
Klinische Untersuchung
Gesichtsfeld
- Die orientierende Fingerperimetrie kann fortgeschrittene Glaukomerkrankungen mit ausgeprägten Gesichtsfeldstörungen detektieren, selten aber frühe Formen.6
- Das nasale Gesichtsfeld wird in der Regel zuerst geschädigt, das obere temporale Gesichtsfeld zuletzt.
- Augenärzt*innen können das Gesichtsfeld mithilfe einer computergestützten Gesichtsfelduntersuchung präziser untersuchen.
Diagnostik bei Spezialist*innen
Ophthalmoskopie
- Exkavierte Papille
- Randblutungen der Papille7
- Cup-Disc-Ratio (CDR)
- Eine (vertikale) Papillenexkavation von CDR ≥ 0,6 bei normalgroßen Papillen ist mit einem erhöhten Risiko für das Vorliegen eines Glaukoms verbunden.
- „Cup“ bezeichnet hier den zentralen weißen Teil, „Disc“ ist der Durchmesser der gesamten Papille.
Tonometrie
- Eine Augeninnendruckmessung (Tonometrie) ist bei Glaukomverdacht und bei bekannter Prädisposition zu empfehlen, reicht aber zur Diagnosestellung allein nicht aus.8-9
Spaltlampenuntersuchung und Gonioskopie
- Die Augenärzt*innen untersuchen mittels Spaltlampe den vorderen Augenabschnitt, insbesondere Cornea, Vorderkammertiefe, Iris, Pseudoexfoliation, Synechien usw.
- Beurteilung des Kammerwinkels zum Ausschluss eines Engwinkelglaukoms
Optische Kohärenztomografie
- Darstellung und Vermessung von retinaler Ganglienzellschicht und Nervenfaserschicht
- Die Glaukom-Diagnose lässt sich mehrere (bis zu 5) Jahre vor dem ersten Gesichtsfeldausfall stellen. Die Untersuchung hat eine Spezifität von 95 % und eine Sensitivität von ungefähr 50 %.11
Indikationen zur Überweisung
- Bei Verdacht auf ein erhöhtes oder bei einem erhöhten Risiko für ein primäres Offenwinkelglaukom (siehe Abschnitt Risikofaktoren) sollten die Patient*innen an eine augenärztliche Praxis überwiesen werden.
Screening
- In vielen Augenarztpraxen wird Patient*innen ab dem 40. Lebensjahr ein Screening auf Glaukom nahegelegt.
- Es besteht aus einer Kombination von Ophthalmoskopie, Messung des Augeninnendrucks und Spaltlampenuntersuchung.
- Es gibt bisher keine Studien, die den Nutzen einer allgemeinen Früherkennung des Glaukoms untersucht haben.
- Es lässt sich daher nicht beurteilen, welche Vor- und Nachteile es hat, wenn Menschen ohne Beschwerden oder besonderes Risiko eine solche Untersuchung machen lassen.
- Manchmal wird nur eine Messung des Augeninnendrucks zur Früherkennung angeboten. Davon ist aber abzuraten.
- Die Diagnose Glaukom lässt sich nur in Verbindung mit einer Untersuchung des Sehnervs, aber auch der Nervenfasern der Netzhaut und ggf. der Messung des Gesichtsfelds stellen.
- Anders ist die Situation bei Personen mit Verdacht auf Glaukom oder Risikofaktoren zu bewerten:
- dauerhafte (systemische und/oder okuläre) Steroideinnahme
- glaukomtypische Vorderkammerbefunde
- glaukomtypische Symptome (eingeschränktes Gesichtsfeld und Sehstörungen)
- diabetesbedingte Augenschäden
- Z. n. Augenverletzungen, die einen Glaukomausschluss erfordern
- vor und nach Augenoperationen, die einen Glaukomausschluss erfordern
- veränderter Augenhintergrund und/oder ein erhöhter Augeninnendruck
Therapie
Therapieziele
- Voranschreiten der Erkrankung verhindern bzw. verlangsamen.
- Eine Heilung des Offenwinkelglaukoms inklusive vollständiger Reversibilität der Gesichtsfelddefekte ist jedoch nicht möglich.
Allgemeines zur Therapie
- Um den Sehverlust aufzuhalten, kann es helfen, einen erhöhten Augeninnendruck zu senken.
- in der Regel mithilfe von Augentropfen
- Wenn die Medikamente nicht (mehr) ausreichen oder schlecht vertragen werden, kommt auch eine Operation oder ein Lasereingriff infrage.
- Neue Therapieansätze konzentrieren sich auf den neurodegenerativen Charakter vom primären Offenwinkelglaukom und legen Wert auf neuroprotektive Maßnahmen. Dazu gehören:
- Nicht rauchen und kein Alkoholkonsum, eine abwechslungsreiche Ernährung, sportliche Aktivitäten.
- Reduktion bekannter Risikofaktoren
Medikamentöse Therapie (Augentropfen)
- Zur Behandlung eines Glaukoms können folgende Medikamente als Augentropfen angewendet werden:
- Betablocker: Sie verringern die Produktion des Kammerwassers und werden häufig als 1. Mittel verschrieben.
- Beispiel: Betaxolol
- Anwendung gemäß Fachinfo: 2 x tgl., morgens und abends, einen Tropfen in das erkrankte Auge
- Cave: Systemische Aufnahme, sodass kardiovaskuläre, pulmonale und sonstige Nebenwirkungen auftreten können wie bei systemisch wirksamen Betablockern.
- Prostaglandine: Sie erhöhen den Abfluss des Kammerwassers und werden wie Betablocker häufig als 1. Mittel verschrieben.
- Beispiel: Travoprost
- Anwendung gemäß Fachinfo: 1 x tgl. 1 Tropfen in den Bindehautsack des betroffenen Auges
- Cave: Travoprost kann u. a. die Augenfarbe allmählich verändern, indem es die Anzahl der Melanosomen (Pigmentgranulae) der Melanozyten erhöht. Unilaterale Anwendung kann somit zu Heterochromie führen.
- Alpha-Agonisten: Sie verringern die Produktion des Kammerwassers und erhöhen gleichzeitig dessen Abfluss.
- Karboanhydrasehemmer: Sie verringern die Produktion des Kammerwassers.
- Cholinergika: Sie erhöhen den Abfluss des Kammerwassers.
- Betablocker: Sie verringern die Produktion des Kammerwassers und werden häufig als 1. Mittel verschrieben.
- Um die Wahrscheinlichkeit für Nebenwirkungen zu senken, wird empfohlen, die Augen nach dem Eintröpfeln für 3 Minuten zu schließen. Alternativ kann auch mit dem Finger der innere Augenwinkel leicht zugedrückt werden.
- Beides soll dafür sorgen, dass die Tropfen im Auge wirken und nicht in den Nasen-Rachen-Raum fließen, wo sie über die Schleimhaut in den Körper aufgenommen werden.
Operative Therapie
- Eine Operation kommt meist dann infrage, wenn es nicht gelingt, den Augeninnendruck durch Medikamente allein zu kontrollieren oder die Tropfen nicht gut vertragen werden.
Trabekulektomie
- Dabei wird ein kleines Stück der Lederhaut und der Iris herausgeschnitten, um den Abfluss des Kammerwassers zu verbessern und so den Druck im Auge zu verringern.
- Mögliche unerwünschte Folgen einer Operation sind anfängliche Sehstörungen, Vernarbungen und langfristig die Entwicklung eines grauen Stars.
Laserbehandlung
- Absenkung des Augeninnendrucks meist nicht so stark wie durch eine Trabekulektomie
- Bei den meisten Laserverfahren wird der Abfluss des Kammerwassers verbessert.
- Es gibt auch Laserverfahren, die dafür sorgen, dass weniger Kammerwasser produziert wird.
- Eine Laserbehandlung kann kurzfristig Rötungen, ein trockenes Auge und unscharfes Sehen zur Folge haben.
Minimalinvasive Operation
- Einsetzen kleiner Implantate (Stents) in den Abflusskanal, die das Kammerwasser ableiten.
- Die Krankenkassen zahlen minimalinvasive Eingriffe meist nicht, wenn sie ambulant durchgeführt werden.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Allmählicher und schleichender Verlauf ohne Schmerzen und lange Zeit ohne merkbare Beeinträchtigungen
Komplikationen
- Zunehmender Visusverlust bis zur Erblindung
Prognose
- Nach 2 Jahren schreitet die Erkrankung ohne Behandlung bei 49 von 100 Patient*innen fort, mit Behandlung bei 30 von 100 Patient*innen.
- Eine Heilung ist nicht möglich.
Verlaufskontrolle
- Die Glaukomkontrolle ist Aufgabe von Augenärzt*innen.
- Die Screening- bzw. Kontroll-Intervalle werden anhand der vorliegenden Risikofaktoren und des Alters der Patient*innen festgelegt.
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Lebenslange, voranschreitende Erkrankung
- Die Behandlung kann den Visusverlust nur verzögern, aber nicht heilen.
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Weinreb RN, Khaw PT. Primary open-angle glaucoma. Lancet 2004; 363: 1711-20. PubMed
- Gupta D. Glaucoma. Am Fam Physician. 2016 Apr 15;93(8):668-674 www.aafp.org
- Quigley HA, Broman AT. The number of people with glaucoma worldwide in 2010-2020. Br J Ophtalmol 2006; 90 (3): 262-7. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Tham YC et al. Global Prevalence of Glaucoma and Projections of Glaucoma Burden through 2040. Ophthalmology 2014; 121: 2081-2090. doi:10.1016/j.ophtha.2014.05.013 DOI
- National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Glaucoma – Diagnosis and management, Stand 2009. www.nice.org.uk
- Hollands H et al. Do Findings on Routine Examination Identify Patients at Risk for Primary Open-Angle Glaucoma?: The Rational Clinical Examination Systematic Review. JAMA 2013; 309(19): 2035-2042. doi:10.1001/jama.2013.5099 DOI
- American Optometric Association: Care of the Patient with Open Angle Glaucoma, Stand 2010. www.aoa.org
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- Kuang TM, Zhang C, Zangwill LM, et al. Estimating the lead time gained by optical coherence tomography in detecting glaucoma before development of visual field defects. Ophtalmology. Published Online: July 18, 2015. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.