Anämie bei Erwachsenen

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-2
  • Siehe auch den Artikel Anämie bei Kindern.

Definition

WHO-Definition der Anämie

  • Hb unter 13,0 g/dl (8,1 mmol/l) bei erwachsenen Männern und männlichen Jugendlichen > 15 Jahre
  • Hb unter 12,0 g/dl (7,5 mmol/l) bei 12- bis 14-Jährigen, bei erwachsenen Frauen und weiblichen Jugendlichen > 15 Jahre
  • Hb unter 11,0 g/dl (6,8 mmol/l) bei Schwangeren

Normalwerte

  • Frauen im reproduktionsfähigen Alter: Hb 11,7–15,3 g/dl (7,3–9,5 mmol/l)
  • Männer und postmenopausale Frauen: Hb 13,4–17,0 g/dl (8,3–10,6 mmol/l)

Grad der Anämie

  • Hochgradige Anämie: Hb < 8 g/dl (< 5 mmol/l)
  • Mittelgradige Anämie: Hb 8–10 g/dl (5–6,2 mmol/l)
  • Geringgradige Anämie: Hb zwischen 10 g/dl (6,2 mmol/l) und dem unteren Wert des Normalbereichs

Klassifizierung nach Ätiologie

  • Mögliche Pathomechanismen
    • Blutverlust
    • verstärkter Abbau von Erythrozyten (Hämolyse)
    • gestörte Erythropoese
  • Häufig liegt eine Kombination verschiedener Pathomechanismen vor, besonders bei zugrunde liegenden Systemerkrankungen.

Anämie als Folge von Blutverlust

  • Akute posthämorrhagische Anämie
    • normozytär
    • Eine Retikulozytose kann innerhalb von 6 Stunden nach Blutungsbeginn auftreten.
    • häufige Ursachen:
      • Trauma
      • akute Gastrointestinalblutung
      • Aneurysmaruptur
      • postoperative Blutung.
  • Chronischer, langsamer Blutverlust
    • Führt zu einer Eisenmangelanämie (mikrozytär).
    • häufige Ursachen:
      • starke Menstruationsblutung
      • chronische Gastrointestinalblutung (z. B. Ulkus, Ösophagusvarizen, Tumor)
      • Hämorrhoiden
      • gerinnungshemmende Medikamente (z. B. Acetylsalicylsäure, andere Thrombozytenfunktionshemmer, Antikoagulanzien)
      • Hiatushernie
      • Divertikulose
      • onkologische Erkrankungen
      • chronisch entzündliche Darmerkrankung.

Chronische systemische Erkrankung

  • Mangel an Substraten für die Erythropoese
    • Eisenmangelanämie
    • Vitamin-B12-Mangel
    • Folsäuremangel
    • Mangelernährung oder Malabsorption: Anämie als Folge eines Proteinmangels, oft auch begleitender B12- und/oder Folsäuremangel
  • Anämie bei chronischen Erkrankungen (ACD)
    • meist milde hyperproliferative normozytische Anämie, bei gleichzeitigem Eisenmangel auch mikrozytisch
    • Entsteht durch chronische Entzündung (Zytokinkaskade und Hochregulation von Hepcidin).
    • häufige Ursachen:
      • Infektion
      • onkologische Erkrankung
      • Autoimmunreaktion
      • Zerstörung von Gewebe, z. B. durch Trauma oder große OP.
  • Anämie durch Nierenversagen
    • normo- oder mikrozytisch
  • Anämie durch chronische Lebererkrankung
    • leichte bis mittelschwere makrozytische Anämie ohne Megaloblasten
  • Anämie durch Hypothyreose
    • milde normozytische Anämie
  • Anämie bei Herzinsuffizienz
    • bei etwa 1/3 aller Herzinsuffizienzkranken
    • mögliche Ursachen:
      • ACD
      • Eisenmangelanämie
      • Hämodilution
      • Medikamente.
  • Anämie bei chronisch entzündlicher Darmerkrankung
    • meist Kombination von ACD und Eisenmangelanämie
  • Anämie bei primärem Hypogonadismus
    • Bei älteren Männern führt der Testosteronmangel zu einer Herunterregulation der Hämatopoese und der Bioverfügbarkeit von Eisen.
  • Tumorerkrankung

Knochenmarkerkrankungen

Toxin- oder Strahlenexposition

  • Medikamente
    • hämolytisch, z. B.:
      • Penicillin
      • Methyldopa
      • Levodopa
      • Chinidine
      • Cephalosporine
      • Diclofenac.
    • Interferenz mit DNA-Synthese:
      • Purinanaloga, z. B. 6-Mercaptopurin, Aciclovir
      • Pyrimidinanaloga, z. B. 5-FU, Zidovudin
      • (andere) Zytostatika.
    • Interferenz mit DNA-Synthese-Kofaktoren, z. B.:
      • Methotrexat
      • Trimethoprim
      • Phenytoin
      • Phenobarbital oder Primidon
      • Metformin
      • Colchicin
      • Neomycin (interferiert mit B12-Metabolismus).
    • toxischer Effekt auf hämatopoetische Progenitorzellen, z. B.:
      • manche Antiepileptika, z. B. Phenytoin, Carbamazepin, Valproat
      • Azathioprin
      • Chloramphenicol
      • Sulfonamide.
    • Isoniazid
      • Procainamid
    • Hemmung der Erythrozytenstimulation und Erythropoetinbildung, z. B.:
      • ACE-Hemmer
      • Angiotensin-II-Antagonisten.
  • Ionisierende Strahlung
    • Kann zu einer Panzytopenie führen.
  • Blei
  • Alkoholkonsumstörung
    • Chronischer Alkoholabusus kann über eine direkte Knochenmarksuppression – auch ohne dass ein Leberschaden oder Vitaminmangel vorliegt – zu einer Anämie führen.
    • Remission der Anämie erst nach Monaten der Abstinenz

Immunreaktion

Infektionen

  • Hämolytische Anämie, z. B. durch:
  • Isoliert aplastische Anämie (Pure Red Cell Aplasia), z. B. durch:
  • Anämie gemischter Ätiologie, z. B. bei:
    • Leishmaniose (Kombination von Hämolyse, Knochenmarksuppression und Blutverlust).

Hereditäre Erkrankungen

Vaskuläre Ursachen

Disponierende Faktoren

  • Fehlernährung und Malabsorption oft in Kombination (meist Eisenmangel)
  • Hohes Lebensalter
  • Weibliches Geschlecht
  • Laktation und Schwangerschaft

Häufigkeit

  • Etwa 2 % der in hausärztlichen Praxen Behandelten haben eine Anämie.
    • Somit ist die Anämie die häufigste hausärztlich behandelte hämatologische Störung.
  • Eisenmangelanämie ist die häufigste Form der Anämie (bis zu 80 % aller Anämiefälle).
    • Die Anämie bei chronischen Erkrankungen (ACD) ist die zweithäufigste Anämie. Bei älteren Menschen ist der Anteil der ACD besonders hoch.
  • Die Prävalenz der Anämie erhöht sich mit dem Alter.
    • 65–69 Jahre: ca. 6 %
    • > 85 Jahre: 13–14 %
  • Chronisch Kranke
    • rund 50 % aller stationär behandelten chronisch Kranken

Diagnostische Überlegungen

Aktive oder akute Blutung?

  • Ggf. sofort hämodynamische Stabilisierung!
    • Zeichen der Hypovolämie
      • Hypotonus
      • Blässe
      • kaltschweißige Haut
      • schwacher Puls
      • Tachykardie
      • Dyspnoe
      • Bewusstseinsstörungen

Langsamer Progress?

  • Anämien entwickeln sich in der Regel bei Älteren langsam und manifestieren sich oft als Kurzatmigkeit, Abgeschlagenheit und Verwirrtheit; möglicherweise zusammen mit einer fortschreitenden Herzerkrankung.

Kann eine Anämie auf anderen Erkrankungen beruhen?

Konsultationsgrund

  • Anämiekranke werden aufgrund der folgenden Beschwerden vorstellig:
    • Müdigkeit (38 %)
    • Schwindelgefühl (14 %)
    • Dyspnoe (3 %)
    • unspezifische Symptome (37 %).

ICPC-2

  • B04 Blutsymptomatik/Beschwerden

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 2022
    • D50-D53 Alimentäre Anämien
    • D55-D59 Hämolytische Anämien
    • D60-D64 Aplastische und sonstige Anämien

Differenzialdiagnosen

Anämieursachen

Differenzialdiagnostik nach Morphologie

Mikrozytäre Anämie (MCV < 80 fl)

Makrozytäre Anämie (MCV > 100 fl)

Normozytäre Anämie (MCV 80–100 fl)

Anamnese

Typische Symptome

Akuter oder chronischer Blutverlust

Lebensstilfaktoren

  • Alkohol?
  • Ernährung?

Iatrogen?

Klinische Untersuchung

Allgemeines

Hämolysezeichen?

Magen-Darm

Teleangiektasien

Ergänzende Untersuchungen

Blutuntersuchungen

Maßnahmen und Empfehlungen

Indikationen zur Überweisung

  • Unklare Anämieursache
  • Verdacht auf eine maligne Erkrankung

Checkliste zur Überweisung

Anämie

Indikationen zur Bluttransfusion

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Eisenmangelanämie: mikrozytäre, hypochrome Erythrozyten im Blutausstrich
Eisenmangelanämie: mikrozytäre, hypochrome Erythrozyten im Blutausstrich
Makrozytäre Anämie, Blutausstrich
Makrozytäre Anämie, Blutausstrich

Krankheitszeichen auf dunkler Haut

Quellen

Literatur

  1. Goddard AF, James MW, McIntyre AS, et al. Guidelines for the management of iron deficiency anaemia. Gut 2011;60:1309-1316. www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Zaiden R. Assessment of anaemia. BMJ Best Practice. Last reviewed: 9 Dec 2021; last updated: 02 Nov 2021 bestpractice.bmj.com

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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