Allgemeine Informationen
Definition
- Es gibt keine genauen Daten darüber, welche Anzahl, welche Art und welcher Verlauf von Infektionskrankheiten in welchem Lebensalter als normal zu bezeichnen sind.
- Folgende Definitionen beziehen sich auf Kinder.
- Physiologische Infektanfälligkeit = max. 8 unkomplizierte Minor-Infektionen (z. B. akute obere Atemwegsinfekte) pro Jahr, die akut und spontan limitierend verlaufen.
- Pathologische Infektanfälligkeit = Auftreten von mehr als 8 Infektionserkrankungen pro Jahr bzw. die Entwicklung von chronischen, über mehrere Wochen nicht ausheilenden Infektionen
- Legt den Verdacht auf eine Störung des Immunsystems nahe.
- primärer und sekundärer Immundefekt möglich
- Legt den Verdacht auf eine Störung des Immunsystems nahe.
- Primärer Immundefekt = angeborene Immunschwäche
- Sekundärer Immundefekt = erworbene Immunschwäche, z. B. durch Chemotherapie oder andere immunsupprimierende Behandlung
Häufigkeit
- Häufig berichten Patient*innen in der Praxis von ihrer Infektanfälligkeit, die jedoch nur sehr selten auf einen primären Immundefekt zurückzuführen ist.
- Prävalenz primärer Immundefekte: ca. 3–4 pro 100.000 Personen
- Eine sekundäre Immunschwäche tritt deutlich häufiger auf als eine primäre.
Ätiologie und Pathogenese
Physiologische Infektanfälligkeit
- Durch intensive körperliche Belastung oder Stress
- Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin können das Immunsystem
dämpfen, was insbesondere die Lymphozyten in ihrer antiviralen Funktion beeinflussen kann. - Natürliche Killerzellen verlieren an Zytotoxizität und die Granulozyten sind in ihrer Phagozytoseleistung und bakteriziden Wirkung reduziert.
- Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin können das Immunsystem
- Simultanes Auftreten verschiedener Viren
- Wenn diverse Viren (z. B. SARS-CoV-2, Influenza, Rhinovirus, Adenovirus, RSV) simultan kursieren, können mehrere Infekte durch verschiedene Erreger schnell hintereinander auftreten.
Primäre Immunschwäche
- Zu den pathologischen, primären Immundefekten zählen mehr als 340 seltene Erkrankungen mit genetischer Ursache, bei denen ein Teil des körpereigenen Immunsystems fehlt oder eine Fehlfunktion aufweist.
- Die Defekte zeigen sich häufig schon im Säuglings- oder Kindesalter durch das wiederholte Auftreten schwerer fiebriger Infekte.
- Einige primäre Immundefekte erhöhen das Risiko einer malignen Erkrankung, insbesondere für Lymphome.
Sekundäre (erworbene) Immunschwäche
- Sekundäre Immunschwächen können als Folge vieler Erkrankungen oder auch Therapien auftreten.
- HIV-Infektion
- sekundärer Antikörpermangel durch chronischen enteralen oder renalen Verlust, Medikamenteneinnahme (z. B. manche Antiepileptika, Anti-Malaria-Medikamente, Immunsuppressiva oder Chemotherapien) oder maligne Erkrankungen, insbesondere Lymphome
- andere chronische Erkrankungen, wie z. B. Diabetes mellitus oder Herzerkrankungen, Adipositas, chronische Rauchexposition oder Asthma bronchiale, Leberzirrhose oder das nephrotische Syndrom
- Asplenie (angeboren oder erworben) führt häufiger zu fulminanten Infektionen durch bekapselte Erreger.
- Autoimmunerkrankungen
- Nebenwirkung von Bestrahlungen
- Arzneimittel-induzierte Defekte, wie z. B. Agranulozytose und Neutropenie
ICD-10
- D84.9: Immundefekt, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Überlegungen
- Ziele der Diagnostik in der Hausarztpraxis
- Differenzierung zwischen physiologischer und pathologischer Infektanfälligkeit
- Identifikation der Patient*innen mit Hinweisen auf Immundefekt, um eine weitere Abklärung bei Spezialist*innen zu initiieren.
- Die klinisch-diagnostischen Warnzeichen für das Vorliegen einer pathologischen Infektanfälligkeit bei Kindern sind unter den Akronymen ELVIS und GARFIELD zusammengefasst und sollen eine rasche Abklärung nach sich ziehen.
- ELVIS
- Erreger: Infektionen durch ungewöhnliche oder opportunistische Erreger
- Lokalisation: ungewöhnliche Lokalisation der Infektion, z. B. Viszeralabszesse
- Verlauf: protrahierte Verlauf von Infektionen, unzureichendes Ansprechen auf antibiotische Therapie, Infektionskomplikationen nach Lebendimpfungen, Rezidive
- Intensität: Major-Infektionen wie Sepsis oder Meningitis
- Summe: hohe Anzahl der Infektionen (> 8 pro Jahr)
- GARFIELD
- Granulome
- Autoimmunität
- Rezidivierendes Fieber
- ungewöhnliche Ekzeme
- Lymphoproliferation
- chronische Darmentzündung
- Warnzeichen für einen primären Immundefekt bei Erwachsenen
- ≥ 4 Atemwegsinfektionen mit der Notwendigkeit einer antibiotischen Therapie innerhalb eines Jahres über 2–3 Jahre
- z. B. Otitis, Sinusitis, Bronchitis oder Pneumonie
- schlechter oder ausbleibender Effekt einer antibiotischen Behandlung oder wiederholte Rezidive
- ≥ 2 schwere bakterielle Infektionen
- z. B. Osteomyelitis, Meningitis, Sepsis oder Weichteilinfektionen
- ≥ 2 röntgenologisch verifizierte Sinusitiden oder Pneumonien über einen Zeitraum von 3 Jahren
- Infektionen mit ungewöhnlicher Lokalisation und/oder durch ungewöhnliche Erreger verursacht
- bekannter primärer Immundefekt in der Familie
- ≥ 4 Atemwegsinfektionen mit der Notwendigkeit einer antibiotischen Therapie innerhalb eines Jahres über 2–3 Jahre
Anamnese
- Überprüfung nach ELVIS und GARFIELD
- Bei Erwachsenen Abfragen der o. g. Warnzeichen
- Familienanamnese
- Immundefekt, pathologische Infektionsanfälligkeit, unklare Todesfälle
- Medikamenteneinnahme
- Vorerkrankungen
Klinische Untersuchung
- Inspektion der vollständig entkleideten Patient*innen mit besonderem Augenmerk auf die Haut und Wunden.
- Bei schweren Neutropenien kann ein Leitsymptom das Fehlen von Eiter sein.
- Weitere Leitsymptome für primäre Immundefekte
- maligne Erkrankungen, insbesondere Lymphome
- ektope EBV-assoziierte Weichteiltumoren oder das HHV-8-assoziierte Kaposi-Sarkom
- syndromale Aspekte wie Dysmorphien, Albinismus, Mikrozephalie, Kleinwuchs oder Dysplasien
- neurologische Auffälligkeiten
- rezidivierende allergische oder autoimmune Symptome
- Klinische Warnzeichen bei Kindern
- persistierende Dermatitis, insbesondere vor dem 2. Lebensmonat
- verspäteter Abfall der Nabelschnur
- Gedeihstörung
Weitere Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Labor
- Blutbild mit Differenzierung sowie die Bestimmung der Immunglobuline (IgG, IgA, IgM, IgE)
- Hinweise auf primären Immundefekt
- Lymphopenie < 1.500/µl
- Neutropenie < 500/µl
- Immunglobuline vermindert
- Cave: trotz normaler Basisdiagnostik primärer Immundefekt möglich!
- HIV-Status – abhängig von der Infektionswahrscheinlichkeit
Bildgebung
- Ultraschall Abdomen zum Nachweis einer Asplenie
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Spezielle Laboruntersuchungen abhängig von Verdachtsdiagnose, z. B.:
- Lymphozytentypisierung
- Beurteilung Komplementsystem.
- Molekulargenetische Diagnosesicherung
- Kann bei primären Immundefekten für die Behandlung und Beratung von Patient*innen und deren Angehörigen notwendig sein und sollte von Spezialist*innen unter Einbeziehung einer genetischen Beratung erfolgen.
- Ggfs. Bildgebung
- Darstellung lymphatischer Organe wie Thymus oder Milz
Indikationen zur Überweisung
- Bei Verdacht auf oder nachgewiesener Immundefizienz/Immunschwäche sollte frühzeitig zu Spezialist*innen überwiesen werden.
- Bei folgenden immunologischen Notfällen soll eine sofortige Kontaktaufnahme mit einer in der Immundefektdiagnostik und -behandlung erfahrenen Klinik erfolgen:
- Erythrodermie in den ersten Lebenswochen
- schwere Lymphopenie im 1. Lebensjahr
- persistierendes Fieber und Zytopenie
- schwere Neutropenie im Kindesalter (< 500/µl)
- schwere Hypogammaglobulinämie
Therapie
Allgemeines zur Therapie
- Falls vorhanden:
- Behandlung der die Immunschwäche auslösenden Grunderkrankung
- Behebung reversibler Ursachen, z. B. Absetzen von immunsupprimierenden Medikamenten, sobald möglich
- Bei schweren Leukopenien besteht ein erhöhtes Risiko für bakterielle und mykotische Infektionen. Hier sind prophylaktische Antibiotika hilfreich.
- Bei Pilzinfektionen ist oft eine Langzeittherapie mit Antimykotika erforderlich.
- Bei Antikörpermangel eignet sich die Immunglobulingabe als Infektionsprophylaxe.
- Immunglobulinersatz erfolgt intravenös (alle 3–4 Wochen) oder subkutan, ggf. lebenslang.
- Bei vielen kombinierten Immundefekten ist eine kurative Therapie nur mit einer hämatologischer Stammzelltransplantation möglich.
- Die Gentherapie befindet sich im Moment noch in der experimentellen Phase.
Prävention
- Sport führt im Vergleich zu fehlender Bewegung zu einem geringeren Infektionsrisiko, wenn ein moderates Maß gewählt wird, z. B. 5 Trainingseinheiten à 45 min pro Woche.
- cave: die Phase bis 72 h nach einem Wettkampf geht mit erhöhter Anfälligkeit für Atemwegsinfektionen einher
Impfungen
- Bei Asplenie sollte gegen Pneumokokken, Haemophilus influenzae Typ B und Meningokokken sowie jährlich gegen Grippe geimpft werden.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Allgemeinmedizin, Frankfurt