Hypoglykämie bei Diabetes mellitus

Zusammenfassung

  • Definition:Milde Hypoglykämie: Kann von Patient*in selbstständig durch Kohlenhydrateinnahme therapiert werden. Schwere Hypoglykämie: Patient*in auf Fremdhilfe angewiesen.
  • Häufigkeit:Bei Typ-1-Diabetes deutlich häufiger als bei Typ-2. Inzidenz schwerer Hypoglykämien ca. 0,1–1 Fälle pro Jahr pro Patient.
  • Symptome:Initial autonome Symptome wie Unruhe, Schwitzen, Herzklopfen, Heißhunger. Im Verlauf schwere neurologische Symptome bis Koma möglich.
  • Befunde:Tachykardie, Tachypnoe, Hypothermie, Hyper- oder Hypotonie. Ggf. Bewusstseinseinschränkung, Tremor, Krampfanfälle, Lähmungen. Lebensgefahr!
  • Diagnostik:Messung des Blutzuckers.
  • Therapie:Gabe leicht resorbierbarer Kohlenhydrate, je nach Bewusstseinszustand oral oder i. v. Bei Typ-1-Diabetes ggf. Glukagon i. m. oder s. c.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Einteilung in milde und schwere Hypoglykämie nicht an Blutglukosewerten ausgerichtet, sondern ausschließlich an Fähigkeit zur Selbsttherapie
    • Milde Hypoglykämie: Hypoglykämie kann von Patient*in selbständig durch Kohlenhydrateinnahme therapiert werden.
    • Schwere Hypoglykämie: Patient*in ist bei Therapie der Hypoglykämie auf Fremdhilfe angewiesen.1
  • Definition einer Hypoglykämie anhand von bestimmten Blutglukosewerten aufgrund der individuell unterschiedlichen Reaktionen bei bestimmten Schwellenwerten problematisch.

Häufigkeit

  • Hypoglykämie ist eine häufige Nebenwirkung der Insulintherapie bei Patient*innen mit Typ-1-Diabetes mellitus.1-2
    • Inzidenz schwerer Hypoglykämien: ca. 0,1–1 Fälle pro Jahr pro Patient
    • bei medikamentös behandeltem Typ-2-Diabetes deutlich seltener
  • Leichte Hypoglykämien kommen deutlich häufiger als schwere Hypoglykämien vor.

Ätiologie und Pathogenese

  • Ursachen für Hypoglykämien bei Menschen mit Typ-1-Diabetes oder Typ-2-Diabetes:,
    • Über-/Fehldosierung (zeitlich) von Insulin im Verhältnis zur Kohlenhydratzufuhr
    • Pharmaka, die die Insulinsekretion stimulieren (Sulfonylharnstoffe, Glinide).
    • erniedrigte exogene Kohlenhydratzufuhr: vergessene oder verspätete Mahlzeiten
    • erhöhter Kohlenhydratbedarf (stärkere Muskelarbeit, z. B. nach Sport)
    • erhöhte Insulinsensitivität (während der Nacht, nach verbesserter glykämischen Kontrolle, nach verbessertem körperlichen Trainingszustand)
    • erniedrigte endogene Glukoseproduktion (z. B. nach Alkoholkonsum)
    • Einnahme von Medikamenten, die eine Hypoglykämie verstärken oder weniger bemerkbar machen (Betablocker, Psychopharmaka).
    • erniedrigte Medikamentenclearance (z. B. bei Niereninsuffizienz)
    • mangelndes Therapieverständnis, fehlende Patientenschulung.

Prädisponierende Faktoren

  • Faktoren, die mit höherem Risiko für Hypoglykämien bei Diabetes assoziiert sind:
    • Diabetesdauer
    • Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen
    • Glykämische Kontrolle: strenge Blutzuckereinstellung erhöht das Risiko.3
    • vorherige Hypoglykämien
    • Neuropathie.

ICPC-2

  • T87 Hypoglykämie

ICD-10

  • E10.0 Primär insulinabhängiger Diabetes mellitus [Typ-1-Diabetes] mit Koma
  • E11.0 Nicht primär insulinabhängiger Diabetes mellitus [Typ-1-Diabetes] mit Koma
  • E12.0 Diabetes mellitus in Verbindung mit Fehl- oder Mangelernährung [Malnutrition] mit Koma
  • E13.0 Sonstiger näher bezeichneter Diabetes mellitus mit Koma
  • E14.0 Nicht näher bezeichneter Diabetes mellitus mit Koma
  • E15 Hypoglykämisches Koma, nichtdiabetisch
  • E16.0 Arzneimittelinduzierte Hypoglykämie ohne Koma
  • E16.1 Sonstige Hypoglykämie
  • E16.2 Hypoglykämie, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Diagnose basiert auf dem gleichzeitigen Vorliegen (Whipple-Trias) von:
    • typischen Symptomen
      • autonome Symptome: Schwitzen, Zittern, Heißhunger, Herzklopfen
      • neuroglykopenische Symptome: u. a. Wortfindungsstörungen, Doppelbilder und andere Sehstörungen, Koordinationsschwierigkeiten, Bewusstseinseinschränkung bis Koma, Krämpfe
      • allgemeines Unwohlsein: Übelkeit, Kopfschmerzen.
    • niedriger Blutglukosekonzentration
    • Verbesserung der Symptomatik nach Glukosezufuhr

Differenzialdiagnosen

Symptome/Anamnese

  • Hypoglykämien sind wichtige, weil potenziell lebensbedrohliche unerwünschte Wirkungen einer Blutglukose senkenden Behandlung.
    • Auftreten von Hypoglykämien sollte immer wieder erfragt werden, weil sie nicht selten von den Patient*innen als Schwindelgefühl, Kopfschmerzen, Heißhunger, aber auch Übelkeit „übersehen“ werden können.
  • Anfängliche Symptome
    • Unruhe, Schweiß, erhöhter Puls, Herzklopfen, Stimmungsschwankungen und Durst (autonome Symptome)
  • Im Verlauf zerebrale Symptome
    • eingeschränktes Bewusstsein, Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle und Lähmungen (neuroglykopenische Symptome)
  • Cave: Abnahme der Symptomatik möglich nach langer Krankheitsdauer, Einnahme nichtselektiver Betablocker, Alkoholgenuss oder niedrigem Blutzuckerspiegel über langen Zeitraum!
    • Das Gefühl für zu niedrigen Blutzuckerspiegel kann zurückkommen, wenn der Blutzuckerspiegel über einige Wochen konstant über 90 mg/dl (5 mmol/l) gehalten wird.
  • Phasen mit nächtlicher Hypoglykämie kommen unter Insulintherapie relativ häufig vor und lassen Patient*innen nicht immer erwachen (z. T. kenntlich an reaktiven morgendlichen Hyperglykämien).

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Bei einer eindeutig auf eine durch Insulinüberdosierung ausgelösten Hypoglykämie ist es in der Regel ausreichend, den Blutzucker zu kontrollieren.
  • Weitere Abklärung bei Hypoglykämien bei Patient*innen ohne Diabetes umfasst u. a.: 
    • 72-Stunden-Fastentest bzw. bei vorwiegend postprandialen Hypoglykämien 5-Stunden-Mahlzeitentoleranztest (Insulinom)
      • falls positiv, Lokalisationsdiagnostik mittels szintigrafischer Untersuchungen
    • parallele Messung von Plasmaglukose, Insulin, C‑Peptid, Proinsulin und Ketonen
    • Messung von Insulin-Autoantikörpern (autoimmunes Insulinsyndrom)
    • Nachweis von IFG‑2 (paraneoplastische Sekretion)

Indikationen zur Krankenhauseinweisung/Überweisung

  • Einweisung
    • fehlendes Ansprechen auf Glukosegabe
    • Einnahme von Sulfonylharnstoffen (längerfristige Überwachung nötig)
  • Überweisung an Diabetolog*in
    • bei rezidivierenden Hypoglykämien zur verbesserten Therapieeinstellung
  • Überweisung an Endokrinolog*in
    • bei differenzialdiagnostischen Unklarheiten

Therapie

Therapieziele

  • Schnelle Feststellung und Behandlung der Hypoglykämie, um das Zentralnervensystem vor irreparablen Schädigungen infolge schwerer, lang anhaltender und/oder wiederholter Hypoglykämie-Episoden zu schützen.
  • Vermeidung von Hypoglykämien ist eine der größten Herausforderungen bei der Erreichung eines möglichst normnahen Blutglukosespiegels.
    • Je niedriger der anvisierte Blutglukosebereich ist, desto häufiger treten Hypoglykämien auf!

Allgemeines zur Therapie

  • Bei einer milden Hypoglykämie (typische Symptome und geringe Blutglukosekonzentration, Selbsttherapie möglich) sollen 15–20 g Kohlenhydrate vorzugsweise in Form von Glukose zugeführt werden.
    • Diese Maßnahme soll nach 15 min wiederholt werden, wenn die Blutglukosekonzentration weiter gering (50–60 mg/dl [2,8–3,3 mmol/l]) bleibt.
  • Bei einer schweren Hypoglykämie (Selbsttherapie nicht möglich), bei der die Patient*innen bei Bewusstsein sind, sollen 30 g Kohlenhydrate oral in Form von Glukose verabreicht werden. 
    • Diese Maßnahme soll nach 15 min wiederholt werden, wenn die Blutglukosekonzentration weiter gering (50–60 mg/dl [2,8–3,3 mmol/l]) bleibt.
  • Bei einer schweren Hypoglykämie (Selbsttherapie nicht möglich), bei der die Patient*innen bewusstlos sind, sollen
    • mindestens 50 ml 40-prozentige Glukose im Bolus i. v. – oder –
    • alternativ (wenn intravenöser Zugang nicht verfügbar ist) 1 mg Glukagon i. m. oder s. c. verabreicht werden.
      • Cave: Sulfonylharnstoffinduzierte Hypoglykämien dürfen nicht mit Glukagon therapiert werden, denn Glukagon führt bei noch funktionierenden Betazellen zur Freisetzung von Insulin mit der Gefahr der Verstärkung der Unterzuckerungen!
  • Für alle Hypoglykämien gilt:
    • Nach erfolgreicher Therapie Mahlzeit oder Snack einnehmen, um wiederkehrende Hypoglykämie zu vermeiden.

Besonderheiten bei Typ-2-Diabetes

  • Siehe Artikel Typ-2-Diabetes.
  • Hypoglykämien werden insbesondere bei älteren Menschen häufig nicht erkannt oder fehlinterpretiert bzw. von Betroffenen nicht erkannt (veränderte Hypoglykämiewahrnehmung infolge rezidivierender Hypoglykämien).
  • Im Fall veränderter Hypoglykämie-Wahrnehmung bzw. nach schweren Hypoglykämien sollen Plasmaglukosespiegel so gehalten werden, dass weitere Hypoglykämien mindestens für einige Wochen vollständig vermieden werden können.
    • Dadurch kann das Gefühl für Unterzuckerung zurückkommen.
  • Traubenzucker
    • In Tablettenform meist schwierig zu verabreichen, löst sich schlecht auf.
    • Günstiger sind handelsübliche Glukosegels (in verschiedenen Geschmacksrichtungen verfügbar).
    • Glukose in flüssiger Form (Fruchtsäfte, Cola) wegen der raschen Resorption wirksam, birgt aber das Risiko der Aspiration bei Bewusstseinsstörung.
  • Bei Acarbosetherapie kann oral nur Traubenzucker (kein Rohrzucker oder andere Di- oder Polysaccharide) eingesetzt werden.
  • Langwirkende Sulfonylharnstoffe (u. a. Glibenclamid, Glimepirid) können zu schweren und lang anhaltenden (bis zu 72 Stunden rezidivierend) Hypoglykämien führen, die selten auch letal verlaufen können.
    • Hierbei sind insbesondere Patient*innen mit eingeschränkter glomerulärer Filtrationsrate (eGRF < 60 ml/min) gefährdet.
    • Daher ist bei Hypoglykämie eine stationäre Aufnahme zur Überwachung empfohlen.
  • Sulfonylharnstoffinduzierte Hypoglykämien dürfen nicht mit Glukagon therapiert werden, denn Glukagon führt bei noch funktionierenden Betazellen zur Freisetzung von Insulin mit der Gefahr der Verstärkung der Unterzuckerungen.

Prävention

  • Bei Menschen mit Diabetes und schweren Hypoglykämien in den letzten Monaten sollte (vorübergehende) eine Anhebung des HbA1c erfolgen.
  • Das Risiko einer Hypoglykämie kann durch gute Aufklärung, regelmäßige Verlaufskontrollen und individualisierte Therapie reduziert werden.2
  • Menschen mit Diabetes und ihre Angehörigen oder primäre Betreuungspersonen sollten über die Anwendung von Glukagonspritze und andere Sofortmaßnahmen bei einer Hypoglykämie aufgeklärt werden.
  • Menschen mit Diabetes und einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung sollte eine spezifische strukturierte Schulung angeboten werden.

Hypoglykämie und Straßenverkehr

  • Personen mit starker Neigung zu Hypoglykämien weisen ein erhöhtes Unfallrisiko auf.
  • Bei Personen mit Diabetes mellitus ist Fahrtüchtigkeit auch bei verhältnismäßig schwacher Hypoglykämie eingeschränkt.
    • Keine Autofahrt antreten, wenn der Blutzuckerspiegel nur bei 70–90 mg/dl (4–5 mmol/l) liegt, ohne zuvor zu essen.
  • Zuckerhaltige Speisen oder Getränke leicht zugänglich bereit halten und Fahrt bei beginnenden Hypoglykämie-Symptomen unterbrechen.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei schneller Zufuhr leicht resorbierbarer Kohlenhydrate gehen leichte Hypoglykämie-Anfälle in der Regel zurück.
  • Schwere Hypoglykämie-Anfälle können dramatischeren Verlauf nehmen, wenn nicht schnell Glukose oder Glukagon zugeführt wird.

Komplikationen

  • Lang anhaltende schwere Hypoglykämie kann zu Hirnschäden, Koma und Tod führen.
  • Unfälle, Stürze und Frakturen durch Bewusstseinsstörung
  • Rezidivierende Hypoglykämien, insbesondere bei älteren Menschen, sind mit schlechterem kognitivem Outcome assoziiert.
  • Erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Myokardinfarkt, Schlaganfall) im ersten Monat nach einer schweren Hypoglykämie.4

Prognose

  • In der Regel bei milden Symptomen bzw. schneller Intervention gut, aber das  Mortalitätsrisiko liegt bei Insulintherapie-assoziierter Hypoglykämie bei 0,2 %!

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Alle Patient*innen mit Diabetes mellitus, die Insulin spritzen oder Sulfonylharnstoffpräparate einnehmen, über Hypoglykämierisiko sowie Wahrnehmung, Akutbehandlung und Prävention informieren und schulen.

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Literatur

  1. Donnelly LA, Morris AD, Frier BM, et al. Frequency and predictors of hypoglycaemia in Type 1 and insulin-treated Type 2 diabetes: a population-based study. Diabet Med 2005; 22:749. PubMed
  2. Cryer PE, Axelrod L, Grossman AB, et al. Evaluation and management of adult hypoglycemic disorders: an Endocrine Society Clinical Practice Guideline. J Clin Endocrinol Metab 2009; 94:709. PubMed
  3. Seaquist ER, Anderson J, Childs B, et al. Hypoglycemia and diabetes: a report of a workgroup of the American Diabetes Association and the Endocrine Society. J Clin Endocrinol Metab 2013; 98:1845. PubMed
  4. Lo SC, Yang YS, Kornelius E, et al. Early cardiovascular risk and all-cause mortality following an incident of severe hypoglycaemia: A population-based cohort study. Diabetes Obes Metab. 2019. PMID: 30972910. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Caroline Beier, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Hamburg

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