Allgemeines zum Typ-2-Diabetes
- Als Diabetes mellitus Typ 2 (DMT2) wird die Form des Diabetes bezeichnet, die durch Insulinresistenz in Verbindung mit eher relativem als absolutem Insulinmangel gekennzeichnet ist.
- Aus hausärztlicher Sicht stellt sich neben Therapieoptionen vor allem auch die Frage nach möglicher Prävention des Diabetes sowie seiner makro- und mikrovaskulären Folgeerkrankungen.
- Frühzeitig diagnostizierter Typ-2-Diabetes kann mit konsequent durchgeführten Lebensstilinterventionen, wie vermehrter Bewegung und Ernährungsumstellung, in langfristige Remission gebracht werden.
- Siehe hierzu auch Primärprävention von Herz- und Gefäßerkrankungen.
Häufigkeit
- Inzidenz
- Jährlich erkranken in Europa etwa 600 von 100.000 Personen neu an DMT2.
- Prävalenz
- Ca. 7-10 %
- Bei Altersgruppen bis 40 Jahren tritt DMT2 nur marginal auf.
- Ab ungefähr 50 Jahren nimmt die Prävalenz stark zu, um dann im Alter von 75–85 Jahren die stärkste Ausprägung zu erlangen.
- Entwicklungstendenz1-2
- In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Prävalenz vervielfacht.
- Gründe sind vermutlich, dass die Bevölkerung immer stärker altert, körperlich weniger aktiv ist und häufiger an Übergewicht leidet.
- Weitere Gründe liegen zumindest teilweise auch an geänderten Referenzwerten seit 1997.
- Der Grenzwert für die Diagnose vom Nüchternglukosespiegel wurde von 140 mg/dl (7,8 mmol/l) auf 126 mg/dl (7,0 mmol/l) herabgesetzt.
- In letzter Zeit sieht es so aus, dass die Prävalenz zurückgehen könnte.3
- Weltweit litten im Jahr 1980 etwa 108 Mio. Menschen, 2014 bereits etwa 422 Mio. Erwachsene an Typ-2-Diabetes.4
- Sozialer Gradient
- In höheren sozialen Schichten tritt die Erkrankung seltener auf.
Datenlage
Interventionsstudien zu Lebensstilveränderungen
- Die entscheidende Frage, welchen Nutzen nicht nur die Erkennung von Frühformen eines Diabetes, sondern auch Aktivtäten zur Prävention haben, wurde in mehreren, immer noch gültigen Studien vor 20 Jahren untersucht:
- Eine 2001 publizierte finnische Arbeit zeigte, dass die Diabetes-Inzidenz in einer Risikogruppe durch einen intensiven Eingriff in den Lebensstil über 4 Jahre hinweg um 58 % reduziert werden konnte.5
- Bei übergewichtigen Personen mittleren Alters mit gestörter Glukosetoleranz führten Anweisungen für eine intensive Lebensstiländerung dazu, dass die kumulative Diabetes-Inzidenz nach 4 Jahren von 23 % (Kontrollgruppe) auf 11 % (Interventionsgruppe) sank.
- Diese Erkenntnisse wurden durch eine US-amerikanische Studie (Diabetes Prevention Program) gestützt.6
- Darin wurden intensive Anleitungen zum Lebensstil mit präventiv eingesetztem Metformin (2 x 850 mg) verglichen.
- Nach 2,8 Jahren gab es relativ 58 % weniger Diabetesfälle unter Lebensstiländerung im Vergleich zu Placebo.
- Metforminbehandlung senkte auch die Diabetesinzidenz, jedoch mit geringerer Wirkung.
- Eine 2001 publizierte finnische Arbeit zeigte, dass die Diabetes-Inzidenz in einer Risikogruppe durch einen intensiven Eingriff in den Lebensstil über 4 Jahre hinweg um 58 % reduziert werden konnte.5
Auswirkung auf die diabetischen Folgeerkrankungen
- Die vorgenannten Studien zeigen, dass in erster Linie ein Aufschub des Diabetes erreicht werden kann.
- Die Look-AHEAD-Studie untersuchte den Nutzen von Gewichtsabnahme und vermehrter körperlicher Bewegung – auch bei erfolgreicher Gewichtsabnahme besserten sich nur die Stoffwechselparameter.7
- Die Studie wurde nach 9,6 Jahren abgebrochen, weil sich an der Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse nichts geändert hatte. Allerdings benötigten in der Interventionsgruppe weniger Patient*innen glukosesenkende Medikamente.
- Es konnte bislang nicht nachgewiesen werden, dass Veränderungen des Lebensstils Folgeerkrankungen eines Diabetes vermindern können.
- Sie werden dennoch empfohlen, weil mit ihrer Hilfe Diabetes-Medikamente eingespart oder vermieden werden können.
Präventionsmaßnahmen
Allgemeines
- Die WHO nennt folgende Lebensstilinterventionen als erfolgreich zur Prävention bzw. Verzögerung des Auftretens von DMT2:4
- Erreichen und Erhalten des empfohlenen Körpergewichts
- körperliche Aktivität: mindestens 30 min moderate körperliche Aktivität an der Mehrzahl der Tage
- mehr körperliche Aktivität, wenn eine Gewichtsabnahme angestrebt wird
- gesunde Ernährung mit Vermeidung von Zucker und gesättigten Fettsäuren
- z. B. Verzicht auf Softdrinks
- Verzicht auf Rauchen
Empfehlungen für Patient*innen
- Für eine erfolgreiche Diabetes-Therapie ist entscheidend, dass die Patient*innen selbst eine aktive Rolle in der Behandlung übernehmen.
- Durch Ernährungsempfehlungen in Kombination mit körperlicher Aktivität scheinen bessere Ergebnisse erzielt werden zu können als nur mit Ernährungsempfehlungen.8
- Abnehmen und körperliche Aktivität verbessern die Lebensqualität und senken den Medikamentenbedarf bei Menschen mit DMT2.7
Bedeutung der Ernährung
- Ernährungsempfehlungen, die allgemein für die Bevölkerung gelten, sind auch bei Patient*innen mit Typ-2-Diabetes anwendbar.
- Nutzenbelege einer Ernährungsintervention hinsichtlich diabetesbezogener Endpunkte existieren allerdings nicht.
- Eine spezielle Diät für Menschen, die an Diabetes leiden, ist nicht notwendig.
- Kalorienbilanz
- Übergewichtige Personen (BMI > 25) sollten die Energieaufnahme reduzieren und den Energieverbrauch steigern, sodass sich ihr BMI auf den empfohlenen Bereich (BMI für Erwachsene: 18,5–24,9 kg/m2) zubewegt.
- Eine Beratung zur Reduktion energiedichter Lebensmittel, besonders solcher, die viel gesättigte Fette und freie Zucker enthalten, unterstützt gewöhnlich die Gewichtsabnahme, ohne dass eine genaue Energieverordnung erforderlich wird.
- Fette
- Gesättigte und transungesättigte Fettsäuren sollen zusammen unter 10 % der Gesamttagesenergie liegen.
- Öle, die reich an einfach ungesättigten Fettsäuren sind, sind günstige Fettlieferanten.
- Proteine
- Patient*innen ohne Anzeichen einer Nephropathie können 10–20 % der Gesamtenergie in Form von Protein aufnehmen.
- Für Personen mit DMT2 mit manifester oder beginnender Nephropathie liegt nicht genügend Evidenz vor, um eine klare Empfehlung zur Proteinbegrenzung auszusprechen.
- Kohlenhydrate
- Empfohlen werden Nahrungsmittel, die reich an Ballaststoffen sind und einen niedrigen glykämischen Index (GI) haben.
- GI ist das Maß für Blutglukosewirksamkeit nach einer Zufuhr von 50 g verwertbaren Kohlenhydraten mit einem Testlebensmittel.
- Die Angabe erfolgt in Prozent bezogen auf die Fläche unter Blutglukosekurve einer Referenzsubstanz, die der Zufuhr von ebenfalls 50 g Kohlenhydraten in Form von Glukose oder Weißbrot entspricht.
- Empfohlen werden Nahrungsmittel, die reich an Ballaststoffen sind und einen niedrigen glykämischen Index (GI) haben.
- Salz
- Personen mit Typ-2-Diabetes – und auch in der Allgemeinbevölkerung – sollte angeraten werden, die Salzaufnahme auf unter 6 g/d zu begrenzen.
- Alkohol
- Moderate Alkoholaufnahme (bis zu 10 g/d bei Frauen und bis zu 20 g/d bei Männern) ist für Patient*innen, die Alkohol trinken möchten, akzeptabel.
- Wenn Alkohol von Insulinbehandelten konsumiert wird, sollte die Aufnahme wegen des potenziellen Risikos einer tiefen und langandauernden Hypoglykämie zusammen mit einer kohlenhydrathaltigen Mahlzeit erfolgen.
- Ballaststoffe
Rauchstopp
- Rauchenden Patient*innen Empfehlungen zur Änderung ihrer Rauchgewohnheiten an die Hand geben, sie bei Umsetzung unterstützen und den Prozess regelmäßig kontrollieren.
- Cave: Der HbA1c-Wert steigt unabhängig von einer etwaigen Gewichtszunahme im ersten Jahr nach Einstellung des Tabakkonsums um durchschnittlich 0,21 % und normalisiert sich im Laufe von 3 Jahren.10
- Weitere Informationen siehe Artikel Raucherentwöhnung.
Bedeutung von körperlicher Aktivität
- Bewegungsempfehlungen, die allgemein für die Bevölkerung gelten, sind auch bei Patient*innen mit Typ-2-Diabetes anwendbar.11
- Die o. a. Studien zeigen, dass Bewegung besser die Entwicklung eines Diabetes verhindern kann als blutglukosesenkende Medikamente.
- Steigerung der alltäglichen Aktivität
- zu Fuß einkaufen gehen
- grundsätzlich die Treppe nehmen
- zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit bewegen
- Steigerung sportlicher Aktivitäten
- zügiges Gehen
- Fahrradtouren
- Schwimmen, Wassergymnastik
- Gymnastik, Dehnübungen
- Krafttraining
- Häufigkeit und Intensität
- Es werden täglich mindestens 30 min Aktivität empfohlen. Die Aktivität kann jedoch auch in Blöcke mit einer Dauer von mindestens 10 min aufgeteilt werden.
- Häufigkeit und Dauer der Aktivitäten sind wichtiger als die Intensität.
- Auswirkungen der körperlichen Aktivität11
- Durch die körperliche Aktivität erhöht sich die Aufnahme von Glukose in Zellen des Körpers, insbesondere Muskelzellen, und zwar unabhängig von Insulin und Gewichtsreduktion.
- Die Wirkung nimmt mit dem Ausmaß der körperlichen Aktivität zu.
- Am größten ist die Wirkung bei Patient*innen, die zuvor körperlich kaum aktiv waren.
- Durch vermehrte körperliche Aktivität kann der HbA1c-Spiegel gesenkt werden. Ausdauer- und Krafttraining scheinen dabei vergleichbaren Effekt zu haben.
- Ein Nutzen der körperlichen Aktivität zur Senkung der Häufigkeit von Diabetes-Folgen ist nicht nachgewiesen.12
- Durch körperliche Aktivität kann nur der Bedarf an Diabetes-Medikamenten gesenkt werden.
- Durch die körperliche Aktivität erhöht sich die Aufnahme von Glukose in Zellen des Körpers, insbesondere Muskelzellen, und zwar unabhängig von Insulin und Gewichtsreduktion.
Vorsichtsmaßnahmen bei körperlicher Aktivität und Diabetes
- Hypoglykämie
- Durch körperliche Aktivität verbessert sich die Insulinempfindlichkeit. Dieser Effekt kann nach der Aktivität über viele Stunden anhalten.
- Werden blutzuckersenkende Medikamente angewendet, kann es vor, während oder nach dem Training nötig sein, schnell resorbierbare Kohlenhydrate aufzunehmen.
- Daher sollten bei sportlicher Aktivität stets schnell verfügbare Kohlenhydrate, z. B. in Form von Traubenzucker, mitgeführt werden.
Kardiovaskuläre Primärprävention beim Diabetes
- In der Primärprävention soll das globale, absolute kardiovaskuläre Risiko als vorrangige Entscheidungsgrundlage dienen.
- Zur Kalkulation des kardiovaskulären Risikos soll ein evaluierter Risiko-Algorithmus verwandt werden.
Empfehlungen zum Diabetes
- Ein generelles Screening auf Diabetes sollte nicht erfolgen.
- Wenn dennoch auf das Vorliegen eines Diabetes untersucht werden soll, kann ein Intervall von 2 Jahren ab dem 35. Lebensjahr genutzt werden.
- Ein OGTT soll nicht routinemäßig in der Hausarztpraxis erfolgen.
- Bei Menschen mit Diabetes soll das kardiovaskuläre Risiko kalkuliert werden.
- Ein Diabetes gilt nicht automatisch als Risikoäquivalent.
- Das durchschnittliche HbA1c der letzten Jahre sollte in die Kalkulation mit einbezogen werden.
- Ein Mikroalbumin-Screening sollte bei Patient*innen mit Typ-2-Diabetes aufgrund schlechter Evidenzlage nicht erfolgen.
- Bei Typ-1-Diabetes soll jährlich das Mikroalbumin bestimmt werden.
- Bei Typ-1-Diabetes und Mikroalbuminurie kann das für eine gleiche Person ohne Diabetes kalkulierte Risiko in dreifacher Höhe veranschlagt werden.
Nichtmedikamentöse Behandlung
- Eine Beratung soll ggf. zu Bewegung, Ernährung und Rauchstopp erfolgen.
- Soziale und psychische Faktoren sowie der sozioökonomische Status sollten berücksichtigt werden.
- Alle Personen sollten zu regelmäßiger körperlicher Aktivität ermutigt werden (ab täglich 15 min oder 90 min/Woche moderat intensiver Bewegung sind Effekte zu erwarten).
- Es soll empfohlen werden, das Rauchen vollständig einzustellen.
- Die Ernährung sollte abwechslungsreich sein und sich an den Empfehlungen der mediterranen Kost orientieren. Der Anteil gesättigter Fette sollte möglichst gering sein. Der Kochsalzkonsum sollte unter 6 g/d liegen. Der Alkoholkonsum sollte eingeschränkt werden.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
- Körperliche Aktivität
- Gewichtsreduktion
- Vollwertige Ernährung
- Warum sollten Sie das Rauchen aufgeben, und wie gelingt es?
Quellen
Literatur
- NCD Risk factor collaboration. Worldwide trends in diabetes since 1980: a pooled analysis of 751 population-based studies with 4.4 million participants. Lancet 2016;387:1513-30 thelancet.com
- Moebus S, Hanisch JU, Aidelsburger P, Bramlage P,Wasem J, JöckelK-H: Impact of four different definitions used for assessment of theprevalence of metabolic syndrome in a primary health care setting. The German Metabolic and Cardiovascular Risk Project (GEMCAS). Cardiovasc Diabetol 2007; 6: 22. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Paprott R, Mensink G, Schulze M et al. Temporal changes in predicted risk of type 2 diabetes in Germany: findings from the German Health Interview and Examination Surveys 1997–1999 and 2008–2011. BMJ Open 2017;7:e013058. bmjopen.bmj.com
- WHO. Diabetes - Key facts. Stand 04/2021. Letzter Zugriff 11.07.2021. www.who.int
- 13. Tuomilehto J, Lindström J, Eriksson J, Valle T, Hämäläinen H, Ilanne-Parikka P et al. Prevention of type 2 diabetes mellitus by changes in lifestyle among subjects with impaired glucose tolerance. N Engl J Med 2001; 344: 1343 - 50. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Diabetes Prevention Program (DPP) Research Group. The Diabetes Prevention Program (DPP): description of lifestyle intervention. Diabetes Care. 2002 Dec;25(12):2165-71. doi: 10.2337/diacare.25.12.2165. PMID: 12453955. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Look AHEAD Research Group, Wing RR. Long-term effects of a lifestyle intervention on weight and cardiovascular risk factors in individuals with type 2 diabetes mellitus: four-year results of the Look AHEAD trial. Arch Intern Med 2010; 170: 1566-1575 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Nield L, Moore H, Hooper L, Cruickshank K, Vyas A, Whittaker V, Summerbell CD. Dietary advice for treatment of type 2 diabetes mellitus in adults. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007, Issue 3. Art. No.: CD004097. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Reynolds AN, Akerman AP, Mann J. Dietary fibre and whole grains in diabetes management: Systematic review and meta-analyses. PLoS Med. 2020 Mar 6;17(3):e1003053. PMID: 32142510 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Lycett D, Nichols L, Ryan R, et al. The association between smoking cessation and glycaemic control in patients with type 2 diabetes: a THIN database cohort study. Lancet Diabetes Endocrinol 2015; 6: 423-30. doi:10.1016/S2213-8587(15)00082-0 DOI
- Avery L, Flynn D, van Wersch A, et al. Changing Physical Activity Behavior in Type 2 Diabetes: A systematic review and meta-analysis of behavioral interventions. Diabetes Care 2012; 35: 2681-9. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- The Look AHEAD Research Group. Cardiovascular Effects of Intensive Lifestyle Intervention in Type 2 Diabetes N Engl J Med 2013. DOI: 10.1056/NEJMoa1212914. www.nejm.org
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Allgemeinmedizin, Frankfurt
- Günther Egidi, Dr. med., Arzt für Allgemeinmedizin, Bremen (Review)
- Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München