Übergewicht

Allgemeine Informationen

Definition

  • Übergewicht und Adipositas sind definiert als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts.
  • Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation ist der Körpermasseindex, der sog. Body-Mass-Index (BMI). Der BMI ist der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m2).
  • Übergewicht ist definiert als BMI 25–29,9 kg/m2, Adipositas als BMI ≥ 30 kg/m2.

Häufigkeit

  • Prävalenz
    • in Europa Prävalenz von Übergewicht inkl. Adipositas (BMI > 25 kg/m2) ca. 50 %
    • Zunahme der Prävalenz in den vergangenen Jahren
  • Geschlecht
    • Fast 50 % der Frauen und ca. 60 % der Männer sind übergewichtig oder adipös.
  • Alter
    • mit zunehmendem Alter Anstieg der Prävalenz sowohl bei Frauen als auch bei Männern

Medizinische Bedeutung von Übergewicht

Ist Übergewicht eine Krankheit?

  • Die Frage, ob Übergewicht bereits eine Krankheit darstellt, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen.
  • Eine Beurteilung als pathologischer Zustand ergibt sich erst im Kontext mit Begleiterkrankungen, Alter und weiteren Faktoren.
    • Bei der Gesamtbewertung sind nicht zuletzt auch psychosoziale Faktoren (individuelle Besorgnis/Beeinträchtigung, Schuldzuweisungen/Stigmatisierung) zu berücksichtigen.
  • Z. T. wird aber auch die These vertreten, dass man nicht gleichzeitig übergewichtig und gesund sein könne.1

Übergewicht als Risikofaktor

  • In unzähligen Studien konnte die Bedeutung von Übergewicht für die Entstehung vieler Erkrankungen gezeigt werden.2-5
  • Die Assoziation ist unterschiedlich stark ausgeprägt und hängt auch vom Ausmaß des Übergewichts ab, allgemein anerkannte Komorbiditäten sind:
  • Übergewicht kann zu einem ungünstigeren Krankheitsverlauf beitragen, z.B. bei Tumorpatient*innen.
  • Zudem scheint Übergewicht teilweise auch die Wirkung von medikamentösen Therapien zu beeinträchtigen.6
  • Dennoch ist der Einfluss von Übergewicht auf die Mortalität insgesamt nicht so eindeutig wie auf die Morbidität.7
    • Das sog. „Obesity-Paradox“ beschreibt eine scheinbare bessere Prognose übergewichtiger, kardial erkrankter Patient*innen, wobei aber möglicherweise statistische Verzerrungen eine Rolle spielen.

 Hausärztliche Rolle

  • Die Zahl der Beratungsanlässe in der hausärztlichen Praxis nimmt zu.
  • Allgemeinärzt*innen haben eine zentrale Rolle bei der kontinuierlichen Begleitung.
  • Befragte Patient*innen bevorzugen Hausärzt*innen für Fragen der Prävention, Risikoberatung und Behandlung.
  • Hausärzt*innen sollten in der Betreuung auch ihre eigene Einstellung gegenüber Übergewichtigen reflektieren, da neben überwiegend starkem Engagement auch skeptische bis ablehnende Haltungen festgestellt wurden.   

Diagnostik

Diagnostische Überlegungen

  • Formal wird Übergewicht (und Adipositas) durch Bestimmung des BMI festgestellt.
  • Abgesehen von der formalen Klassifizierung ist die Feststellung von Übergewicht nicht eindeutig.
    • Die Bewertung ist auch vor dem Hintergrund aktueller Schönheitsideale und möglicher Stigmatisierung/Diskriminierung zu sehen.
    • Eine Abweichung von Normwerten ist für eine Therapieempfehlung nicht ausreichend.

Differenzialdiagnosen

  • Hormonelle oder medikamentöse Ursachen für eine Adipositas sind selten (< 1 %).
  • Hypothyreose
  • Cushing-Syndrom
  • Medikamente (z. B. Kortikosteroide, Antidepressiva, Antikonvulsiva, Antidiabetika)

ICD-10

  • E66.9 Adipositas, nicht näher bezeichnet
  • R63 Symptome, die die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme betreffen
    • R63.5 Abnorme Gewichtszunahme
    • R63.8 Sonstige Symptome, die die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme betreffen

Anamnese

  • Gewicht
    • Beginn des Übergewichts
    • Entwicklung im Verlauf
    • Versuche der Gewichtsabnahme
  • Folgen
    • allgemeine Leistungsfähigkeit
    • Leidensdruck
    • soziale Folgen
    • berufliche Folgen
  • Ursachen einer Adipositas
    • familiäre Disposition, genetische Ursachen
    • Lebensstil (z. B. Bewegungsmangel, Fehlernährung)
    • ständige Verfügbarkeit von Nahrung
    • Schlafmangel
    • Stress
    • depressive Erkrankungen
    • niedriger Sozialstatus
    • Essstörungen (z. B. Binge Eating Disorder, Night Eating Disorder)
    • endokrine Erkrankungen (z. B. Hypothyreose, Cushing-Syndrom)
    • Medikamente (z. B. Antidepressiva, Neuroleptika, Glukokortikoide)
    • andere Ursachen (z. B. Immobilisierung, Schwangerschaft, Nikotinverzicht)
  • Begleit- und Vorerkrankungen

Klinische Untersuchung

  • Gewicht und Körpergröße zur Ermittlung des BMI
  • Evtl. Taillenumfang
    • Eine generelle Messung des Taillenumfangs in der Primärversorgung wird von der DEGAM nicht befürwortet, Bestimmung nur unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangssituation
  • Blutdruck (siehe auch Artikel Blutdruckmessung)
  • Pulsstatus
  • Auskultation des Herzens (siehe auch Artikel Herzgeräusche bei Erwachsenen)
  • Halte- und Bewegungsapparat
  • Im Einzelfall klinische Zeichen von Cushing-Syndrom oder Hypothyreose

Ergänzende Diagnostik in der hausärztlichen Praxis

  • Eine umfangreiche Diagnostik ohne vorherige Differenzierung nach Komorbidität und Risikoprofil ist nicht sinnvoll, u. a. wegen:
    • fehlender Evidenz eines Nutzens für viele der Untersuchungen
    • fehlendem Effekt auf den weiteren Gewichtsverlauf
  • Stattdessen ist zu empfehlent:
    • Diagnostik abhängig von Beschwerden, Symptomen und bekannten Begleiterkrankungen
    • die individuelle Bestimmung endokrinologischer Stoffwechselparameter (TSH, Glukose, HbA1c)
    • die Kalkulation des kardiovaskulären Risikos

Maßnahmen und Empfehlungen

Allgemeines

  • Die Versorgung von formal Übergewichtigen kann sich an folgenden Prinzipien orientieren:
    • individuelle, gemeinsame Abwägung von potenziellem Nutzen und Schaden von Diagnostik bzw. Therapie
    • Vermeidung von überflüssigen/schädlichen medizinischen Maßnahmen.
  • Auf die Rolle des Übergewichts angesprochen werden sollten daher vor allem Patient*innen, die im Zusammenhang mit Erkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, Schlafapnoe-Syndrom, Hypertonie, Gonarthrose die hausärztliche Praxis aufsuchen.
  • Ausgangspunkt des Gesprächs mit den Patient*innen sollten nicht in erster Linie Grenzwerte sein, sondern die gesamte Lebens-, Gesundheits- und Behandlungssituation.
  • Maßnahmen und Ziele sollten schließlich im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung festgelegt werden.

Spezielle Maßnahmen und Empfehlungen

  • Zu Details therapeutischer Maßnahmen siehe Artikel Übergewicht/Adipositas.
  • Grundlage der Gewichtsbehandlung sind als Einzelkomponenten oder in Kombination:
    • Ernährungstherapie
      • Ziel der Ernährungstherapie ist die Erreichung eines Energiedefizits von ca. 500 kcal/d (das Führen eines Ernährungstagebuchs kann hilfreich sein).
      • Mögliche Ernährungsstrategien hierfür sind: Reduktion des Fettverzehrs, Reduktion des Kohlenhydratverzehrs, Reduktion des Fett- und Kohlenhydratverzehrs.
    • Bewegungstherapie
    • Verhaltenstherapie
      • Für verhaltenstherapeutische Ansätze steht ein Spektrum von Interventionen/Methoden zur Verfügung.
      • Diese sollen individuell eingesetzt und angepasst werden.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Valenzuela P, Santos-Lozano A, Barran A, et al. Joint association of physical activity and body mass index with cardiovascular risk: a nationwide population-based cross-sectional study. Eur J Prev Cardiol 2021; 14: 1620-1621. doi:10.1093/eurjpc/zwaa151 DOI
  2. French S, Lutsey P, Rosamond W, et al. Weight change over 9 years and subsequent risk of venous thromboembolism in the ARIC cohort. Int J Obes 2020; 44: 2465–2471. doi:10.1038/s41366-020-00674-5 DOI
  3. Robertson, MD, Schaufelberger M, Lindgren M, et al. Higher Body Mass Index in Adolescence Predicts Cardiomyopathy Risk in Midlife. Circulation 2019; 140: 117-125. doi:10.1161/CIRCULATIONAHA.118.039132 DOI
  4. Hamer M, Batty G. Association of body mass index and waist-to-hip ratio with brain structure: UK Biobank study. Neurology 2019; 92: e594-e600. doi:10.1212/WNL.0000000000006879 DOI
  5. Schnurr T, JaKupovic H, Carrasquilla G, et al. Obesity, unfavourable lifestyle and genetic risk of type 2 diabetes:a case-cohort study. Diabetologia 2020; 63: 1324-1332. doi:10.1007/s00125-020-05140-5 DOI
  6. Schäfer M, Meißner I, Kekow J, et al. Obesity reduces the real-world effectiveness of cytokine-targeted but not cell-targeted disease-modifying agents in rheumatoid arthritis. Rheumatology 2020; 59: 1916–1926. doi:10.1007/s12688-020-00336-4 DOI
  7. Berrigan D, Troiano R, Graubard B: BMI and mortality: the limits of epidemiological evidence. The Lancet 2016;388:734-736. www.thelancet.com

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.

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