Zusammenfassung
- Definition:Nicht beabsichtigtes Absinken der Körperkerntemperatur auf ≤ 35 °C.
- Häufigkeit:Tritt besonders in Verbindung mit akuter Intoxikation auf. Weitere Ursachen sind u. a. Ertrinkungs- und Lawinenunfälle.
- Symptome:Kältezittern, Bewusstseinsstörung.
- Befunde:Kältezittern, das bei zunehmender Hypothermie sistiert. Abhängig vom Schweregrad Tachy- bis Bradypnoe, Tachy- bis Bradykardie, tachykarde und bradykarde Rhythmusstörungen. Zunehmende Bewusstseinsstörung bis zur Bewusstlosigkeit. Bei schwerster Hypothermie keine Vitalzeichen mehr.
- Diagnostik:Klinische Einteilung mit Swiss Staging System in 4 Schwergerade. Definitive Messung der Körperkerntemperatur mit speziellen Thermometern/Sonden.
- Therapie:Passive und aktive Erwärmung. Bei schwerer Hypothermie möglichst Behandlung in einem Zentrum mit Möglichkeit zur Erwärmung durch extrakorporale Zirkulation (ECLS).
Allgemeine Informationen
Definition
- Eine akzidentelle Hypothermie liegt bei nicht beabsichtigtem Absinken der Körperkerntemperatur auf ≤ 35oC vor.1
- Sie ist abzugrenzen von induzierter Hypothermie (bei herzchirurgischen Eingriffen) oder therapeutischer Hypothermie (als Teil der Postreanimationsbehandlung).2
Häufigkeit
- Akzidentelle Hypothermien treten vor allem auf nach:
- Intoxikationen (typisch z. B. Alkoholintoxikation und Einschlafen im Freien)
- Ertrinkungsunfällen
- Unfällen im Winter (einschl. Lawinenunfällen)
- Männer sind häufiger betroffen als Frauen.3
- Erhöhtes Risiko bei älteren und sozial benachteiligten Personen4
- Als Todesursache selten, Studien in Irland und Schottland berichteten ca. 20 Todesfälle/1.000.000 Einw.5-6
Ätiologie und Pathogenese
- Die menschliche Körpertemperatur (Körperkerntemperatur) beträgt normalerweise 36,0–37,5 °C.
- Fünf Mechanismen führen zu Wärmeverlusten und Absinken der Körpertemperatur:3,7
- Abstrahlung
- wichtigster Mechanismus unter kalten und trockenen Bedingungen
- Wärmeleitung
- Übertragung durch direkten Kontakt, wichtiger Mechanismus bei Ertrinkungsunfällen
- Konvektion
- verursacht z. B. durch starken Wind
- Verdunstung
- Atmung
- Abstrahlung
Pathogenese8-9
- Thermoregulation über Thermorezeptoren in Haut und Hypothalamus
- Absinkende Körperkerntemperaturen führen zu einer progredienten Verminderung von Metabolismus, Organfunktionen und Vigilanz.9
- Bei milder Hypothermie (32–35 °C)
- Vasokonstriktion mit geringerem Wärmeverlust über die Oberfläche
- Kältezittern mit Steigerung der Wärmeproduktion um das bis zu 6-Fache
- Erhöhung der Körperkerntemperatur um bis zu 4 °C
- Hyperventilation mit respiratorischer Alkalose
- Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck
- abnehmende ADH-Ausschüttung, Kältediurese mit Ausscheidung hypotonen Urins und sekundärer Hypovolämie
- Bei mittelschwerer Hypothermie (28–32 °C)
- zunehmende geistige und motorische Verlangsamung
- Bradypnoe mit respiratorischer Azidose
- Bradykardie, QRS-Verbreiterung, QT-Verlängerung, sog. J- oder Osborne-Welle (am Übergang zwischen QRS-Komplex und ST-Segment)
- unterhalb Körperkerntemperatur von 28 °C eintretende Bewusstlosigkeit
- Erhöhte Blutungsneigung durch Störung von Thrombozytenaggregation und plasmatischer Gerinnung (verstärkte Blutung bei Trauma-Patient*innen), aber auch Fälle mit Gerinnungsneigung und Thrombosen sind beschrieben.
- Bei schwerer Hypothermie (24–28 °C)
- alle Arten von Rhythmusstörungen
- Blutdruckabfall
- Schock, metabolische Azidose
- Bei schwerster Hypothermie (< 24 °C) schließlich:
- Kammerflimmern oder Asystolie mit Herz-Kreislauf-Stillstand
- Sistieren der elektrischen Hirnaktivität (unter 20 °C in der Regel isoelektrisches EEG)
- Patient*innen erscheinen klinisch tot.
- Aufgrund des verlangsamten Metabolismus aber erheblich verlängerte Ischämietoleranz der verschiedenen Organe, insbesondere des Gehirns
- Abnahme des Sauerstoffbedarfs um ca. 6 %/1 °C
- Niedrigste gemessene Körpertemperatur, die nicht zum Tod führte:
Prädisponierende Faktoren
- Höheres Alter
- Niedriger sozialer Status mit ungünstigen Lebensbedingungen
- Substanzmissbrauch
ICD-10
- T68 Hypothermie
- T88 Sonstige Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen und medizinischer Behandlung, anderenorts nicht klassifiziert
- T88.5 Sonstige Komplikationen infolge Anästhesie (Hypothermie nach Anästhesie)
- P80 Hypothermie beim Neugeborenen
- P80.0 Kältesyndrom beim Neugeborenen
- P80.8 Sonstige Hypothermie beim Neugeborenen
- P80.9 Hypothermie beim Neugeborenen, nicht näher bezeichnet
- R68 Sonstige Allgemeinsymptome
- R60.0 Hypothermie, nicht in Verbindung mit niedriger Umgebungstemperatur
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Auslösende Situation: längerdauernde Exposition gegenüber kalten Lufttemperaturen (evtl. in Kombination mit Intoxikation), Ertrinkungsunfall, Lawinenunfall
- Klinische Beurteilung der Körperkerntemperatur (z. B. Swiss Staging System)12-13
- Exakte Messung der Körperkerntemperatur
- Viele übliche Fieberthermometer messen nur bis zu 34 °C.
- prähospital im Rettungsdienst mit speziellem epitympanalem Thermometer
- normale Infrarot-Ohrthermometer nicht geeignet
- rektal, in der Harnblase, im Ösophagus,
Beurteilung des Schweregrades nach dem Swiss Staging System
- Hypothermie kann klinisch mit dem Swiss Staging System eingeteilt werden.12-13
- Es besteht dabei eine gute Korrelation der klinischen Schweregrade mit gemessenen Körperkerntemperaturen.14
Hypothermie Grad I (leicht)
- Wach, Kältezittern
- Körpertemperatur 32–35 °C
Hypothermie Grad II (mittelschwer)
- Eingeschränktes Bewusstsein, kein Zittern mehr
- Körpertemperatur 28–32 °C
Hypothermie Grad III (schwer)
- Bewusstlosigkeit, Vitalzeichen noch vorhanden
- Körpertemperatur 24–28 °C
Hypothermie Grad IV
- Bewusstlos, keine Vitalzeichen mehr
- Körpertemperatur < 24 °C
Differenzialdiagnosen
- Intoxikationen
- Endokrinologische Notfälle
- Schock unterschiedlicher Ätiologie
Anamnese
- Ursache der Hypothermie, z. B.:
- Intoxikation
- Obdachlosigkeit
- Orientierungsverlust im Gelände
- Ertrinkungsunfall
- Lawinenunfall
- sonstiges Trauma mit Immobilisation.
- Äußere Umstände
- Außentemperatur
- Regen, Nässe, Schnee
- Windstärke
- Alter
- Bekannte Erkrankungen
Klinische Untersuchung
- Rasche Beurteilung des Hypothermiegrades mit Parametern des Swiss Staging Systems möglich (Kältezittern, Bewusstsein, Atmung, Kreislauf)
- Motorische Aktivität
- Kältezittern? Koordinierte Bewegungen?
- Bewusstseinsgrad
- Wach? Apathisch? Verwaschene Sprache?
- Atmung
- Tachypnoe? Bradypnoe? Apnoe?
- Kreislauf
- Pulse palpabel? Frequenz, Arrhythmie?
- Blutdruck messbar?
- Hautstatus
- Blass, kalt?
- Diurese
- Eingenässt?
- Neurologie
- Pupillen reagibel? Reflexe auslösbar?
- Verhaltensauffälligkeiten
- Paradoxes Entkleiden?
Erweiterte Diagnostik, ggf. auf dem Transport oder in der Klinik
EKG
- EKG-Monitoring: Frequenz, Rhythmusstörungen, QRS-Verbreiterung, J- oder Osborne-Welle (am Übergang zwischen QRS-Komplex und ST-Segment), QT-Zeit-Verlängerung
Labor
- Blutbild
- Elektrolyte, Glukose, Harnstoff, Kreatinin, GOT (ASAT), GPT (ALAT)
- Gerinnung
- Blutgasanalyse
- Toxikologisches Screening
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
- Hypotherme Patient*innen sollten stationär eingewiesen und abhängig vom Schweregrad unterschiedlich lang überwacht oder intensivmedizinisch behandelt werden.
Therapie
Therapieziele
- Wiederherstellung der normalen Körpertemperatur
- Vermeidung von Komplikationen während der Wiedererwärmung
- Bei Bedarf kardiopulmonale Reanimation
Allgemeines zur Therapie
- Es gilt der Grundsatz: „Nobody is dead, until warm and dead!"
- Unterkühlte Patient*innen müssen mit großer Vorsicht behandelt werden, da Manipulationen (z. B. Umlagern, Katheteranlage) zu Herzrhythmusstörungen mit Kreislaufstillstand führen können („Bergungstod").
- Bei schwerer Hypothermie sollte eine Wiedererwärmung durch extrakorporale Zirkulation (ECLS) angestrebt werden.15
Präklinische Maßnahmen
Hypothermie Grad I
- Aktive Bewegung bei bewusstseinsklaren Patient*innen mit geringer Hypothermie (schnellere Erwärmung als durch Kältezittern)
- Warme Getränke
- Wechseln nasser Kleidung
- Kopfschutz (starker Wärmeverlust über unbedeckte Kopfhaut)
Hypothermie Grad II–III
- Möglichst geringe Bewegung der Patient*innen
- Horizontale Lagerung und Rettung
- Passiver Kälteschutz mit Decken, Schutzfolien etc.
- Aktive Erwärmung mit Wärmepads (Applikation stammnah), Wärmedecken etc.
- Eine aktive Erwärmung mit warmen Infusionen unter prähospitalen Bedingungen eher unrealistisch, zumal die Anlage eines i. v. Zugangs schwierig sein kann.
- Sauerstoffgabe
- Atemwegssicherung, ggf. Intubation und Beatmung
Hypothermie Grad IV
- Kardiopulmonale Reamination (siehe auch Basic Life Support, Advanced Life Support)
- Thoraxkompression und Beatmung wie bei normothermen Patient*innen
- unterhalb 30 °C keine Medikamente und max. 3 Defibrillationsversuche, weitere Versuche erst bei Kerntemperatur über 30 °C
- unter 30 °C kein ausreichender Effekt von Antiarrhythmika und Katecholaminen
Afterdrop
- Afterdrop bezeichnet ein manchmal auftretendes weiteres Absinken der Körperkerntemperatur während und nach der Erstversorgung.
- Es beruht auf einem Temperaturausgleich zwischen dem wärmeren Körperkern und der kälteren Außenschicht.
- Dadurch weiterbestehende Gefahr eines Herzstillstands auch nach Beendigung der Kälteexposition
Spezielle Therapie
- Hochrisikopatient*innen sollten möglichst in ein Zentrum mit Möglichkeit zur extrakorporalen Zirkulation (ECLS) transportiert werden.
- Kerntemperatur < 30 °C
- ventrikuläre Arrhythmie
- systolischer Blutdruck < 90 mmHg
- Kreislaufstillstand
- Apparativ-technisch gehören zu ECLS:
- Herz-Lungen-Maschine (HLM)
- extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO)
- extrakorporale Lungenassistenz (ECLA).
- Im Einzelfall kann bei Verfügbarkeit alternativ die Anwendung eines intravasalen Katheters zum Temperaturmanagement erwogen werden.
- Traditionelle Methoden zur Wiedererwärmung wie Dialyse oder Spülung von Körperhöhlen sind heute von nachgeordneter Bedeutung.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Lokale Erfrierungen
- Aspirationspneumonie
- Ventrikuläre Tachykardien, Kammerflimmern
- Schock
- DIC
Verlauf und Prognose
- Morbidität und Mortalität hängen vom Ausmaß der Hypothermie und Vorliegen von Grunderkrankungen ab.3
- Bei schwerer Hypothermie, insbesondere in Kombination mit Grunderkrankungen, Mortalität > 50 %3
- Günstigere Prognose, wenn der Herzkreislaufstillstand als Folge der Hypothermie eintritt, als im umgekehrten Fall.
- Lange Reanimationszeiten (> 60 min) schließen ein Überleben mit gutem Outcome nicht aus.
- Absinken des Grundumsatzes um ca. 6 % pro Grad-Abnahme der Körperkerntempertur
- Das Gehirn toleriert einen Kreislaufstillstand bei 18 °C ca. 10-mal länger.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
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Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medzin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.