Zusammenfassung
- Definition:Risiko einer Akkumulation von Blei bei längerer Exposition und akute Vergiftung durch Exposition zu großer Mengen.
- Häufigkeit:Selten.
- Symptome:Die Symptome sind abhängig vom Bleispiegel. Frühe Symptome sind abdominelle Koliken, neurologische Veränderungen, später Anämie, kardiovaskuläre Erkrankungen und Nierenschäden.
- Befunde:Wie bei Anämie, neurologische Auffälligkeiten (Reizbarkeit, kognitive Veränderungen, Entwicklungsverzögerungen), Appetitlosigkeit, Nierenerkrankungen, Hypertonie.
- Diagnostik:BB, Kreatinin, Messung des Bleispiegels in Blut.
- Therapie:Beendigung der Exposition, Chelat-Therapie, evtl. Eisenzufuhr.
Allgemeine Informationen
Definition
- Blei ist ein Schwermetall, das in der Umwelt überall vorkommt und über verschiedenste Wege in den menschlichen Körper aufgenommen werden kann.
- Toxische Wirkungen von Blei betreffen die Blutbildung, die Nieren, das Herz-Kreislauf-System sowie das zentrale Nervensystem.
- Blei-Intoxikationen (auch Saturnismus genannt) können entweder durch akute oder chronische Aufnahme (vor allem inhalativ und oral, bei organischen Verbindungen auch dermal) von Blei auftreten.
Häufigkeit
- Akute Bleivergiftungen sind selten, während subakute und chronische Vergiftungen etwas häufiger vorkommen.
- Häufigkeit und Schwere von Bleivergiftungen sind durch immer weiter abgesenkte Grenzwerte inzwischen seltener geworden, durch jahrzehntelange Akkumulation kommen sie dennoch vor.
Ätiologie und Pathogenese
- Blei (Pb, lat. plumbum) zählt zu den Schwermetallen. Es kann in verschiedenen Isotopen vorkommen.
Toxizität
- Elementares Blei ist in kompakter Form für den Menschen nicht giftig, gelöstes Blei und Bleiverbindungen sowie Bleistäube, die durch Verschlucken oder Einatmen in den Körper gelangen können, und Organobleiverbindungen, die über die Haut aufgenommen werden können, sind toxisch.
- Bereits kleinste Mengen an Blei können gesundheitsschädigende Wirkung haben.
- Blei hat eine lange biologische Halbwertzeit (10–30 Jahre) und reichert sich vorrangig im Knochen an, deswegen kommt es im Laufe der Jahre zu einer zunehmenden Bleibelastung des Körpers.
- Für Blei gibt es keine sichere untere Grenze im Sinne einer tolerierbaren täglichen Aufnahmemenge.
- Deswegen geht die Tendenz zu immer geringeren Grenzwerten für die zulässige Bleibelastung verschiedenster Produkte, um die Aufnahme von Blei so gering wie möglich zu halten.
Bleiquellen
- Luft
- Bleistäube entstehen v. a. durch die bleierzeugende Industrie, das Verbrennen von Kohle und Autoverkehr.
- Wasser
- In alten Häusern gibt es noch bleihaltige Wasserrohre, die die Bleibelastung deutlich erhöhen.
- Nahrungsmittel können je nach Boden- oder Wasserbelastung ebenfalls Blei enthalten.
- erhöhte Bleibelastung des Wildbrets durch üblicherweise bei der Jagd verwendete Bleimunition
- Berufsbezogene Quellen
- Batterieindustrie, Lackindustrie, chemische Industrie, Sanitär, Bau/Abbruch, PVC-Industrie, Schrotthandel, Keramik, Feuerwehr, Druckerei, Kraftstoffindustrie, Reinigungsgewerbe, Bleibergbau, Glaserei, Schmuckherstellung, Schweißen, Schmelzen, Löten, Aufbereitung verschmutzter Arbeitskleidung
- Weitere Quellen
- Blei in Spielzeug oder Modeschmuck, Kosmetik, Hobbybasteln mit Schmuck, Buntglas und Glasuren
- mit Blei gestrecktes Marihuana
Risiko für Bleivergiftung
- Blei und Bleiverbindungen werden hauptsächlich über den Magen-Darm-Trakt und die Lunge und zu einem gewissen Grad über die Haut absorbiert.
- Ein Mangel an Eisen, Kalzium und Zink erhöht die Bleiabsorption.1-2
- Kinder absorbieren Blei weitaus besser als Erwachsene.
- Momentan geht man von einem Grenzwert für die Entwicklungsneurotoxizität von 0,5 µg (SI 0,002 µmol) Bleiaufnahme pro kg Körpergewicht pro Tag aus.
- Bei beruflicher Exposition mit Blei gibt es strenge arbeitsschutztechnische Bestimmungen.
Pathophysiologie
- Die Aufnahme des Bleis kann durch Inhalation erfolgen, über den Verdauungstrakt oder über die Haut.
- Im Blut reichert sich das Blei in den roten Blutzellen an und verteilt sich im Gewebe mit einer Halbwertzeit von 30 Tagen.
- Blei reichert sich vor allem im Knochen an mit einer Halbwertszeit von 10–30 Jahren.
- Eine länger zurückliegende Bleibelastung kann z. B. in der Stillzeit, bei starkem Gewichtsverlust, bei längerer Immobilisierung oder Osteoporose durch erhöhten Knochen-Turnover zu einer Freisetzung von Blei aus dem Knochen führen, die einen Anstieg des Blutbleispiegels mit entsprechenden Symptomen bewirken könnte.
- Blei wird im menschlichen Körper nicht metabolisiert, die Ausscheidung erfolgt hauptsächlich über den Urin.
- Neuere Studien zeigen, dass Nephrotoxizität (herabgesetzte glomeruläre Filtrationsrate), Bluthochdruck und neurologische Symptome bei einer Blutkonzentrationen von < 10 µg/dl (SI: < 0,048 µmol/dl) oder sogar <5 µg/dl (SI: < 0,024 µmol/dl) vorkommen.
- Blei führt abhängig von der Konzentration zu folgenden Störungen:
- Zentrales und peripheres Nervensystem
- Verminderte Neurotransmittertätigkeit und neuronalen Zelltod können zu geistiger Retardierung und Sprachdefiziten, verminderter motorischer Leistung und Gleichgewichtsstörungen führen. Hören, Verhalten und schulische Leistungen sind eingeschränkt.
- Ein Einfluss auf den IQ ist schon bei geringerer Belastung nachweisbar.3
- psychische Veränderungen wie Ängstlichkeit und Depression
- Es kann zu einer peripherer Neuropathie durch Demyelinisierung kommen (hauptsächlich im motorischen Bereich, z. B. Fallhand durch Radialisparese), Verminderung der Reaktionszeit und des Hörvermögens, beschleunigten kognitiven Verlusten.
- Bei schweren Belastungen sind akute Enzephalopathien mit epileptischen Anfällen, Koma oder Tod möglich.
- Hämatopoese
- Blei blockiert bei der Hämsynthese verschiedene Enzyme in Vorstadien der Erythrozyten und vermindert die Lebensdauer der Erythrozyten.
- Daraus entsteht eine normo- oder mikrozytäre Anämie mit basophiler Tüpfelung der Erythrozyten.
- Nieren
- Blei führt zu einer Dysfunktion der renalen Tubuli mit interstitieller Nephritis bis zu einem chronischem Nierenversagen.
- Nephrotoxische Effekte sind ab einer Schwelle bei 300–400 µg Blei/l (SI:1, 449–1,932 µmol/dl) Blut anzunehmen.
- Kardiovaskuläres System
- Bleibelastung führt zu einer höheren Mortalität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Entwicklung einer Hypertonie und Förderung der Arteriosklerose.4
- Weitere Auswirkungen
- Bleivergiftungen führen zu eingeschränkter Fertilität.
- Blei passiert die Plazenta und kann zu Spontanaborten oder Belastung des Fetus führen.
- Blei ist wahrscheinlich auch kanzerogen, insbesondere Nierenkarzinome kommen im Tierversuch häufiger vor.
ICD-10
- T56 Toxische Wirkung von Metallen
- T56.0 Blei und dessen Verbindungen
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Die Diagnose ist schwer zu stellen, wenn es keinen Verdacht auf Bleivergiftung gibt.
- Gerade bei einer chronischen Bleivergiftung können die Symptome anfangs sehr unspezifisch sein.
Differenzialdiagnosen
- Porphyrie
- Andere Schwermetallvergiftungen
Anamnese
- Symptome und Anzeichen können innerhalb von Tagen bis Wochen auftreten:1
- Übelkeit, Erbrechen, Bauchkrämpfe und Obstipation
- Dazu kommen Reizbarkeit, Lethargie, Appetitlosigkeit.
- Eine Anämie kann Müdigkeit hervorrufen.
- Es kommt zu einer sensomotorische Polyneuropathie (typisch ist eine Fallhand durch Radialisparese )
- Bei Kindern kann es zu einer Verzögerung der neuronalen Entwicklung kommen, bei schwerer Bleibelastung kommt es zu einer schwere Enzephalopathie mit Krämpfen, möglicherweise mit Koma und folgendem Tod.
- Seltener sind verminderte Konzentration, Hörverlust, Kopfschmerzen, Arthralgien, Myalgien, Depression, vermindertes Kurzzeitgedächtnis und Libidoverlust.
- Quelle der Bleibelastung klären:
- berufliche Exposition
- Freizeitverhalten, Wohnumgebung (alte Bleileitungen in alten Häusern, Industrienähe)
- Nahrungsanamnese.
- Begleit- oder Vorerkrankungen, Medikamentenanamnese
Klinische Untersuchung
- Zeichen einer Nephropathie mit progredierendem Nierenversagen
- Generelle Anämiesymptome
- Blässe
- rasche Ermüdbarkeit
- Kopfschmerzen
- Schwindel
- Tachykardie
- Dyspnoe bei körperlicher Belastung
- Neurologische Auffälligkeiten
- Reizbarkeit, Persönlichkeitsveränderungen
- kognitive Störungen
- periphere Polyneuropathie
- Krampfanfälle
- Eventuell Bleisaum am Zahnfleisch
Diagnostik bei Spezialist*innen
Labor
- BB: normozytäre normochrome Anämie mit basophile Tüpfelung und erhöhte Werte von Protoporphyrin (freie Erythrozyten oder Zink)
- Schwellenwerte für Veränderungen der an der Hämsynthese beteiligten Enzyme
- Delta-Aminolävulinsäure in Blut oder Urin: > 300–350 µg/24 h (SI: > 2287,8 µmol/d)
- Delta-Aminolävulinsäure-Dehydratase: > 100 µg/l
- Zink-Protoporphyrin: > 200 µg/l
- Koproporphyrin: > 400 µg/l (SI: 609,6 nmol/g)
- Bleibestimmung im Vollblut: Die momentan geltenden Grenzwerte müssen deutlich nach unten korrigiert werden, man geht von gesundheitlichen Belastungen bei geringeren Werten aus.
- Neuere Studien zeigen bereits eine Erhöhung des Sterberisikos bei langfristigen Werten von 5 µg/dl (SI: < 0,024 µmol/dl).4
- Erhöhte Nierenretentionswerte
Röntgen
- Typische Bleilinien in der Epiphysenplatte beim Röntgen der langen Knochen
- Ein Röntgenbild des Abdomens kann evtl. aufgenommene Bleipartikel entdecken.
Therapie
Therapieziele
- Organschäden und Tod verhindern.
Allgemeines zur Therapie
- Der wichtigste Schritt ist das Beenden der Exposition. Dafür muss manchmal erst mühsam nach der Gefahrenquelle gefahndet werden.
- Ist Blei im Gastrointestinaltrakt vorhanden, kann mit einer Magen- und/oder Darmspülung das Blei entfernt werden, ggf. erfolgt eine operative Entfernung.5
Medikamentöse Therapie
Chelat-Therapie
- Chelatbildner binden Blei reversibel und entfernen es aus dem Organismus durch die renale Ausscheidung wasserlöslicher Komplexe, die eine relativ geringe Giftigkeit aufweisen.
- Auf ausreichende Diurese ist zu achten.
- Wegen der Umverteilung von Blei aus den Organspeichern ins Blut sind häufig mehrere Therapiezyklen notwendig.
- Kinder und Erwachsene: Dimercaptobernsteinsäure (DMSA/Succimer) 30 mg/kg/d peroral verteilt auf 3 Dosen
- Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS): oral 3 x 100 mg/d oder DMPS i. v.: 10–30 mg/kg KG
- Es wurden nur wenige und leichte Nebenwirkungen registriert, meistens schwache Magen- und Darmsymptome und Urtikaria.
- Unverträglichkeitsreaktionen sowie Transaminasenerhöhungen können auftreten.
- Kalzium-EDTA und Penicillamin (oral: 3 x 100 mg/d) sind weitere effektive Chelatoren.
- Cave: Nierenfunktionsstörung bei Penicillamin!
Weitere Therapie
- Eisen6, Kalzium, Magnesium und Zink verringern die Bleiaufnahme und können die Toxizität mindern.
- Vitamin C ist ebenfalls ein schwacher Chelatbildner und fördert die Bleiausscheidung.
Prävention
- Gesundheitsmonitoring bei Bleiexposition (Arbeitsmedizin)
- Expositionsminimierung durch Arbeitsplatzhygiene und die Verwendung von persönlicher Schutzausrüstung (z. B. Atemschutz)
- Vorsicht bei bleihaltigem Spielzeug, Modeschmuck oder alternativen Kräutermedikamenten
- Wasser aus alten Bleiwasserleitungen sollte nicht als Trinkwasser benutzt werden.
- Frauen mit Kinderwunsch, Schwangere und Kinder sollten kein mit Bleimunition geschossenes Wildfleisch essen.
- V. a. die Industrie ist gefordert, immer weniger Blei zu verwenden, um die Bleibelastung insgesamt so niedrig wie möglich zu halten.7
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die Symptome einer Bleivergiftung korrelieren mit den Bleimengen im Körper.
Komplikationen
- Bleivergiftungen können Schäden an Knochenmark, Nervensystem, Leber, Nieren und endokrinen Organen verursachen.
Prognose
- Unbehandelt und in hohen Dosen können Bleivergiftungen tödlich sein.
- Eine chronische Bleibelastung erhöht die Mortalität.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Flora G, Gupta D, Tiwari A. Toxicity of lead: A review with recent updates. Interdisciplinary Toxicology 2012; 5 (2):47-58. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Wright RO, Tsaih SW, Schwartz J, Wright RJ, Hu H. Association between iron deficiency and blood lead level in a longitudinal analysis of children followed in an urban primary care clinic. J Pediatr 2003; 142: 9-14. PubMed
- Reuben A, Caspi A, Belsky DW, et al. Association of Childhood Blood Lead Levels With Cognitive Function and Socioeconomic Status at Age 38 Years and With IQ Change and Socioeconomic Mobility Between Childhood and Adulthood. JAMA. 2017;317(12):1244–1251 jamanetwork.com
- Lanphear B P, Rauch S, Auinger P, et al. Low-level lead exposure and mortality in US adults: a population-based cohort study. Lancet Public Health 2018 www.thelancet.com
- Zardawi I, Siriweera e.Pellets in the Appendix, NEJM 2013; 369: e7 www.nejm.org
- Wolf AW, Jimenez E, Lozoff B. Effects of iron therapy on infant blood lead levels. J Pediatr 2003; 143: 789-95. PubMed
- Sachdeva C, Thakur K, Sharma A, Sharma KK. Lead: Tiny but Mighty Poison. Indian J Clin Biochem. 2018 Apr; 33(2):132-146 www.ncbi.nlm.nih.gov
Autor*innen
- Monika Lenz, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Neustadt am Rübenberge