Digitalisvergiftung

Zusammenfassung

  • Definition:Vergiftung mit Digitalispräparaten, von klinischer Bedeutung sind Digoxin und Digitoxin.
  • Häufigkeit:Inzidenz insgesamt rückläufig aufgrund seltenerer Anwendung von Digitalispräparaten. Inzidenz pro behandeltem Patient möglicherweise nur wenig rückläufig.
  • Symptome:Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Bewusstseinsstörungen, Palpitationen, Störungen in der Farbwahrnehmung (Gelb-Grün-Sehen).
  • Befunde:Bradykarde und tachykarde Herzrhythmusstörungen,  Bewusstseinsstörung.
  • Diagnostik:Im EKG Erregungsrückbildungsstörungen und Arrhythmien. Laborchemischer Nachweis erhöhter Digitalisspiegel.
  • Therapie: Ausgleich von Elektrolytstörungen, Behandlung von Herzrhythmusstörungen, Antidotgabe (Digitalis-Antikörperfragmente).

Allgemeine Informationen

Definition

  • Überdosierung mit Intoxikation durch Digitalispräparate (Herzglykoside)
    • Von praktischer Bedeutung sind die Substanzen Digoxin und Digitoxin.
    • Weitere Substanzen sind z. B. Strophanthin, Deslanosid.

Häufigkeit

  • Vor allem aufgrund des zurückgehenden Einsatzes von Digitalispräparaten nimmt die Anzahl der Intoxikationen seit den 1990er Jahren ab.1
  • Die Inzidenz pro behandeltem Patienten ist allerdings möglicherweise nur wenig rückläufig.2
  • Ca. 1 % ambulant behandelter Patienten und > 10 % der Patienten in Pflegeeinrichtungen entwickeln eine Toxizität.1

Herkunft und Wirkungsweise von Digitalisglykosiden

  • Aus den Blättern des Fingerhuts gewonnene herzwirksame Glykoside
  • Wirkungsmechanismen
    • positiv inotrope Wirkung
      • Erhöhung der myokardialen Kontraktionskraft durch Erhöhung des interzellulären Kalziumgehalts und dadurch Verstärkung der Sarkomerverkürzung
    • Verstärkung des Parasympathikotonus, Dämpfung des Sympathikotonus
      • negativ chronotrope Wirkung: Abnahme der Herzfrequenz
      • negativ dromotrope Wirkung: Verzögerung der AV-Überleitung

Aktuelle klinische Bedeutung von Digitalisglykosiden

  • In den vergangenen Jahren abnehmende Bedeutung von Digitalispräparaten in der Therapie von Herzinsuffizienz und/oder Vorhofflimmern
  • Hintergrund sind vor allem widersprüchliche Daten aus verschiedenen Studien zur prognostischen Bedeutung einer Digitalistherapie.
    • Berichtet wurden eine Zunahme, eine neutrale Wirkung und eine Abnahme der Mortalität.3-4
  • Derzeitige Indikationen für die Anwendung von Digitalisglykosiden sind:
    • durch andere Medikamente nicht beherrschbares tachykardes Vorhofflimmern bei Patienten mit oder ohne Herzinsuffizienz
    • als Reservemittel zur Symptomverbesserung bei Patienten im Sinusrhythmus mit Herzinsuffizienz NYHA III–IV trotz optimaler Therapie.5
  • Bei einer Behandlung sollten niedrige therapeutische Spiegel angestrebt werden, da höhere therapeutische Spiegel evtl. bereits zu einer Prognoseverschlechterung führen.

Pharmakokinetik/-dynamik und Gefahr der Intoxikation

  • Digitalispräparate weisen eine geringe therapeutische Breite auf.
    • therapeutischer Bereich von Digoxin: 0,5–2,0 ng/ml (0,6–2,6 nmol/l)
      • Bei Digoxin sind vermutlich bereits Konzentrationen > 1,2 ng/ml (> 1,5 nmol/l) ungünstig.
    • therapeutischer Bereich von Digitoxin 10–25 µg/l (13–33 nmol/l)
  • Die therapeutische Breite ist auch interindividuell verschieden.
  • Frauen benötigen geringere Dosierungen als Männer.
  • Elektrolytstörungen verstärken die Toxizität von Digitalis mit erhöhtem Risiko von Rhythmusstörungen, insbesondere Hypokaliämie, aber auch Hypomagnesiämie oder Hyperkalzämie
  • Nur langsame Elimination von Digitalispräparaten
    • Plasmahalbwertszeit von Digoxin ca. 36–48 Stunden
    • Plasmahalbwertszeit von Digitoxin ca. 4–8 Tage
      • unabhängig von der Nierenfunktion, da Ausscheidung über den Leberstoffwechsel
  • Zahlreiche Medikamenteninteraktionen
    • Digoxin und Digitoxin sind Substrate von P-Glykoprotein (P-gp)
    • durch Inhibition von P-gp Erhöhung der Digitalisspiegel z. B. bei Therapie mit:
      • Ciclosporin
      • Ery­thromycin
      • Clarithromycin
      • Propafenon
      • Itraconazol
      • Amiodaron
      • Verapamil
      • Diltiazem
      • Spironolakton
      • u. a.

Prädisponierende Faktoren

ICD-10

  • T46 Vergiftung durch primär auf das Herz-Kreislaufsystem wirkende Mittel (ATC-Code für das verwendete Digitalispräparat angeben)

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Differenzialdiagnosen

  • Andere Ursachen für Herzrhythmusstörungen 
  • Gastrointestinale Erkrankungen
  • Neurologische Erkrankungen
  • Ophtalmologische Erkrankungen

Anamnese

Klinische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen

EKG

Labor

  • Digitalisspiegel: Digoxin bzw. Digitoxin
    • therapeutische Bereiche (Angaben können zwischen Laboren etwas variieren):
      • Digoxin 0,5–2,0 ng/ml (0,6–2,6 nmol/l)
      • Digitoxin 10–25 µg/l (13–33 nmol/l)
    • Die Verteilung in das Gewebe dauert mehrere Stunden, eine Blutentnahme sollte daher frühestens 6–8 h nach der letzten Einnahme oder sogar erst am Tag danach erfolgen.
  • Nierenretentionswerte: eGFR, Kreatinin 
    • Digoxin wird vorwiegend über die Niere verstoffwechselt (Digitoxin vowiegend über die Leber).
  • Elektrolyte: Kalium, Kalzium, Magnesium

Indikation zur Klinikeinweisung

  • Bei klinisch relevanten Symptomen/Befunden einer Digitalisintoxikation, insbesondere Herzrhythmusstörungen und/oder zentralnervösen Beeinträchtigungen

Therapie

Therapieziele

  • Digitalisspiegel senken.
  • Komplikationen behandeln.

Allgemeines zur Therapie

  • Mögliche Maßnahmen im Rahmen einer Digitalisvergiftung sind:
    • Verminderung der gastrointestinalen Aufnahme
    • Ausgleich von Elektrolytstörungen
    • Behandlung von Herzrhythmusstörungen
    • Gabe von spezifischen Antikörpern
    • Hämoperfusion

Therapiemaßnahmen

Verminderung der gastrointestinalen Aufnahme

  • Bei akuter Intoxikation kann innerhalb der ersten Stunde eine Magenspülung oder induziertes Erbrechen erwogen werden.
    • Zur weiteren Verminderung der Absorption kann die anschließende Gabe von Aktivkohle, Colestyramin oder Colestipol erwogen werden.

Ausgleich von Elektrolytstörungen/Volumenmangel

  • Eine Hypokaliämie erhöht die Gefahr von Arrhythmien, Anhebung das Kaliumspiegels auf hochnormale Werte.
  • Bei schweren Intoxikationen können initial Hyperkaliämien auftreten, rasche Senkung des Kaliumspiegels mit Glukose-Insulin-Infusion.
  • Ggf. Ausgleich einer Hypomagnesiämie
  • Bei symptomatischer Hypotonie Flüssigkeitszufuhr

Behandlung von Herzrhythmusstörungen

Gabe von Digitalis-Antikörperfragmenten 

  • Therapie der Wahl bei schwerer Intoxikation mit Digoxin oder Digitoxin
  • Verabreicht wird ein spezifisches Antidot, bestehend aus Digitalis-Antikörperfragmenten.6
    • Bindung von Digitalis intravaskulär und im Interstitium
    • Ausscheidung der Glykosid-Antikörperkomplexe über die Nieren
  • 80 mg Antidot neutralisieren 1 mg Digitalisglykosid.
    • bei unbekanntem Digitalisspiegel Gabe von 160–240 mg Digitalisantitoxin
    • langsame Gabe wegen möglicher allergischer Reaktionen
  • Klinische Besserung innerhalb von ca. 30 Minuten, maximale Wirkung innerhalb von 3–4 Stunden

Hämoperfusion

  • Nicht wirksam zur Digitaliselimination sind:
    • forcierte Diurese
    • Peritoneal- und Hämodialyse.
  • Durch Hämoperfusion kann der Digitalisspiegel vermindert werden.
    • in geringem Ausmaß durch Hämoperfusion mit beschichteter Aktivkohle oder Plasmapherese
    • durch selektive Hämoperfusion mit trägergebundenen Antikörpern

Prävention

  • Regelmäßige Kontrollen des Digitalisspiegels

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Verlauf und Prognose

  • Bei leichten und mittelschweren Fällen ist die Prognose gut.
  • Eine schwere Digitalisvergiftung ist potenziell lebensbedrohlich.
    • hohe Todesrate bei unerkannten Digitalisintoxikationen
  • Intoxikationen durch Digitalis erheblich seltener als durch Ca-Antagonisten oder Betablocker, allerdings mit höherer Mortalität1

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinie

  • European Society of Cardiology. Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure. Stand 2016. www.escardio.org

Literatur

  1. Patel V. Digitalis Toxicity. Medscape, updated: Jan 04, 2017. Zugriff 05.04.20. emedicine.medscape.com
  2. Pincus M. Management of digoxin toxicity. Aust Prescr 2016; 39: 18-20. PubMed
  3. Aguirre Davila L, Weber K, Bavendiek U, et al. Digoxin–mortality: randomized vs. observational comparison in the DIG trial. Eur Heart J 2019; 40: 3336–3341. doi:10.1093/eurheartj/ehz395 DOI
  4. Vamos M, Erath J, Hohnloser S. Digoxin-associated mortality: a systematic review and meta-analysis of the literature. Eur Heart J 2015; 36:1831-8. pmid:25939649 PubMed
  5. Ponikowski P, Voors A, Anker S, et al. 2016 ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure. Eur Heart J 2016; 37: 2129–2200. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Chan BS, Isbister GK, O'Leary M et al. Efficacy and effectiveness of anti-digoxin antibodies in chronic digoxin poisonings from the DORA study (ATOM-1). Clin Toxicol (Phila) 2016; 54: 488-94. pmid:27118413 www.ncbi.nlm.nih.gov

Autoren

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München

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