Zusammenfassung
- Definition:Akute Eigen- und Fremdgefährdung mit fehlender Krankheitseinsicht bei psychiatrischen Grunderkrankungen, Intoxikationen, systemischen Erkankungen, hirnorganischen Erkrankungen.
- Häufigkeit:In der Hausarztpraxis selten, häufiger bei Notarzteinsätzen.
- Symptome:Akute Verwirrtheit, Erregung, Aggressivität, Suizidalität.
- Befunde:Akute Eigen- und Fremdgefährdung.
- Therapie:Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder einer beschützenden Einrichtung nach länderspezifischen Unterbringungsgesetzen. Bis zum Eintreffen von Polizei/Notärzt*in kann eine medikamentöse Behandlung mit Benzodiazepinen oder Antipsychotika indiziert sein und darf bei Vorliegen eines rechtfertigenden Notstands auch gegen den Willen der Betroffenen verabreicht werden.
Allgemeine Informationen
Definition
- Akute Eigen- und Fremdgefährdung durch:
- Suizidalität oder
- Aggressivität, Erregungszustand und/oder Verwirrtheit, z. B. bei psychiatrischen Erkrankungen, hirnorganischen Erkrankungen, systemischen Erkrankungen oder Intoxikationen
- Fehlende Krankheitseinsicht
Häufigkeit
- Seltene Fragestellung in der Hausarztpraxis
- Häufiger bei Notarzteinsätzen und im Bereitschaftsdienst
Ätiologie
- Suizidalität
- Siehe Artikel Suizid und Suizidversuch sowie Suizid und Suizidversuch bei Kindern und Jugendlichen.
- Aggressive psychomotorische Erregungszustände
- häufige Ursachen
- Alkoholintoxikation (evtl. in Verbindung mit einer Persönlichkeitsstörung)
- akute Psychosen (schizophrene oder bipolare Störungen)
- Erregungszustände in psychosozialen Konfliktsituationen ohne zugrunde liegende psychiatrische Erkrankung
- Mischintoxikation bei Polytoxikomanie
- Persönlichkeitsstörung
- Demenz
- Entzugssyndrom/Delir
- weniger häufige Ursachen
- postkonvulsiver Dämmerzustand bei Epilepsie
- akute Belastungsreaktion nach psychischem Trauma
- Intelligenzminderung mit rezidivierenden, gleichartig verlaufenden Erregungszuständen
- unmittelbar vorangehendes Schädel-Hirn-Trauma
- organische Persönlichkeitsstörung
- seltene Ursachen
- akute Gehirnerkrankung, z. B. Subarachnoidalblutung, Enzephalitis
- metabolische Störung (z. B. Hypoglykämie, Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz, Hyperthyreose)
- sonstige Gehirnerkrankung (Tumor, Gefäßprozess)
- pathologischer Rausch
- häufige Ursachen
Disponierende Faktoren
- Für aggressives Verhalten im psychiatrischen Kontext
- Vorliegen von Schizophrenie und anderen psychotischen Erkrankungen
- Zusätzlicher Alkohol- und Drogenmissbrauch erhöht das Risiko.
- fehlende Therapieadhärenz
- schlechte Impulskontrolle
- antisoziale Persönlichkeitsstörung
- Obdachlosigkeit
- männliches Geschlecht
- Gewalterfahrung und Missbrauch in der Kindheit
- Für das Auftreten eines psychiatrischen Notfalls
- schlechte ambulante Versorgungssituation in manchen Regionen
- frühzeitige Entlassungen wegen verkürzter stationärer Behandlungsdauer
- Gerontopsychiatrische Notfallsituationen nehmen durch den Anstieg der Lebenserwartung zu.
- Zunahme von exzessivem Alkohol- oder Drogenkonsum in bestimmten Gruppen
- psychosoziale Faktoren, wie Armut, Arbeitslosigkeit, Stressbelastung
ICD-10
- F05.0 Delir ohne Demenz
- F05.1 Delir bei Demenz
- F19.0 Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen: Akute Intoxikation [akuter Rausch]
- F23.9 Akute vorübergehende psychotische Störung, nicht näher bezeichnet
- F29 Nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose
- R45.8 Sonstige Symptome, die die Stimmung betreffen, inkl.: Suizidalität, Suizidgedanken
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
Akute Suizidalität
- Siehe Artikel Suizid und Suizidversuch sowie Suizid und Suizidversuch bei Kindern und Jugendlichen
- Beispiele für hilfreiche diagnostische Fragen
- Wie sieht es bei Ihnen mit dem Lebensmut aus?
- Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen?
- Können Sie versprechen, dass Sie sich in der kommenden Woche nicht das Leben nehmen werden?
- Haben Sie einen konkreten Plan, wie Sie sich umbringen würden?
- Graduierte Einschätzung von Suizidalität
- lebensmüde Gedanken, klar und glaubhaft ohne Handlungsdruck oder -plan
- passiver Todeswunsch
- Suizidgedanken, klar und glaubhaft ohne Handlungsdruck oder -plan
- Suizidgedanken mit Handlungsdruck und/oder Handlungsplan
- lebensmüde Gedanken, klar und glaubhaft ohne Handlungsdruck oder -plan
- Bei Unsicherheit
- Patient*in zeitnah wieder in Praxis einbestellen
- Rücksprache mit erfahreneren Kolleg*innen
- Überweisung an Praxis für Psychiatrie
Psychopathologischer Befund
- Zu einem psychopathologischen Befund beim psychiatrischen Notfall gehören obligat die Beurteilung von:
- Bewusstsein und Orientierung
- Affekt und Antrieb
- der Denk- und Wahrnehmungsleistung
- der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses
- sowie von Suizidalität und Fremdgefährdung.
Anamnese
- Wichtig: genaue Dokumentation, z. B. bei der Suizidalität auch wörtliche Zitate aus der Anamnese
- Oft brauchbare Informationen nur durch Fremdanamnese
- Anamnese in der Notfallsituation nicht oder nur unvollständig möglich
- akut erregte, aggressive und/oder verwirrte Patient*innen ohne Krankheitseinsicht
- Im Rahmen der Anamneseerhebung im Notfall sollen nach Möglichkeit erhoben werden:
- persönliche Daten einschließlich Alter und Geschlecht
- konkrete Probleme, die die Notfallsituation auslösten
- die aktuelle Vorgeschichte mit Beginn der Symptomatik
- kurz zurückliegende psychiatrische Vorbehandlungen inklusive einer Medikamentenanamnese, eine spezielle psychiatrische Anamnese und eine allgemeinmedizinische Anamnese
Klinische Untersuchung
- Meist erschwert oder nicht möglich
- Hinweisen auf eine organische Erkrankung, z. B. Intoxikation oder Delir nachgehen. Evtl. besteht primär die Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung.
- Sobald wie möglich:
- Vitalparameter bestimmen: Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung.
- vollständige körperliche und neurologische Untersuchung
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Labor und weitere Untersuchungen, wie EKG, in der Regel erst in der Klinik möglich
- Evtl. Blutzucker-Stix
Indikationen zur Überweisung
- Bei akuter Eigen- und Fremdgefährdung stationäre Einweisung, evtl. mit gesetzlicher Unterbringung
- Jede Person nach Suizidversuch soll zur Diagnostik und Therapie auch gegen ihren Willen in eine Notaufnahme oder Klinik gebracht werden.
Therapie
Therapieziele
- Schutz der Betroffenen, Schutz Dritter
- Deeskalation
Allgemeines zur Therapie
- Zunächst, wenn möglich, Versuch der verbalen Deeskalation („Talking Down“), ggf. Einbeziehen von Vertrauenspersonen
- Empathie, Sorge, Respekt, Ernsthaftigkeit und Sorge signalisieren
- Ruhe bewahren
- Hilfe anbieten
- Abstand halten (Ausgang freihalten)
- Wünsche und Ängste erfragen
- Anbieten oraler Bedarfsmedikation ist empfehlenswert (Betroffene behalten ihre Autonomie und haben Besserung ihres Zustands in Aussicht).
- Bei akuter Eigen- und Fremdgefährdung ist, wenn die Gefahr nicht durch andere Maßnahmen abgewendet werden kann, eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder einer anderen beschützenden Einrichtung indiziert.
- Fixierung oder zwangsweise Verabreichung von Medikamenten können im Notfall (bis zum Eintreffen von Polizei/Notärzt*in) indiziert sein.
- Falls die Anwendung von Zwangsmaßnahmen und Zwangsunterbringungen unumgänglich ist, ist die Menschenwürde zu wahren und Rechtssicherheit zu gewährleisten.
- Interventionen sind so kurz und so wenig eingreifend wie möglich zu halten und psychische oder physische Traumata zu vermeiden.
Medikamentöse Therapie
- Bis zum Eintreffen von Polizei und/oder Notärzt*in kann eine notfallmäßige medikamentöse Behandlung (Sedierung) erforderlich sein.
- In Akutsituationen werden Benzodiazepine oder Antipsychotika empfohlen.
- Oft i. m. Gabe notwendig, da orale Einnahme oder Legen eines venösen Zugangs verweigert wird.
- Die i. v. Gabe macht ein Monitoring notwendig (u. a. wegen Gefahr der Atemdepression) und ist deshalb in der Notfallsituation in der Hausarztpraxis oder beim Hausbesuch nicht empfohlen.
- Von einer i. v. Gabe von Haloperidol wird abgeraten.
- Die i. v. Gabe macht ein Monitoring notwendig (u. a. wegen Gefahr der Atemdepression) und ist deshalb in der Notfallsituation in der Hausarztpraxis oder beim Hausbesuch nicht empfohlen.
- Pragmatisches Vorgehen in der Hausarztpraxis/im Bereitschaftsdienst
- Versuch einer oralen Medikamentengabe (Cave: Gefahr von Bissverletzungen!)
- z. B. Lorazepam 1 mg auf einem feuchten Zitronenstäbchen
- bei notwendiger i. m. Gabe nötig
- Diazepam 10 mg i. m. (HWZ bis zu 72 Stunden) oder
- Haloperidol 5 mg i. m. (bei älteren Personen Beginn mit 1 mg, Gefahr kardialer Nebenwirkungen)
- nach i. m. Gabe baldmöglichst Monitoring erforderlich, deswegen Transport in Klinik in notärztlicher Begleitung
- Versuch einer oralen Medikamentengabe (Cave: Gefahr von Bissverletzungen!)
- Midazolam soll wegen der Gefahr der Atemdepression bei psychiatrischen Indikationen nicht verwendet werden (keine Zulassung für psychiatrische Indikationen).
- Bei Mischintoxikationen ist der Einsatz von Haloperidol vergleichsweise sicher, Zurückhaltung bei sedierender Medikation.
- Zur Behandlung von Erregung, Unruhe und Angst im Rahmen von Drogenintoxikationen sollen primär Benzodiazepine eingesetzt werden.
Weitere Behandlungsformen
Unterbringung
- Unterbringung von Patient*innen ohne oder gegen ihren Willen in einer beschützenden Einrichtung
- psychiatrische Klinik
- Pflegeeinrichtung
- Gesetzliche Voraussetzungen für eine Unterbringung
- Vorliegen einer gravierenden psychischen Erkrankung
- unmittelbare Eigen- oder Fremdgefährdung aufgrund dieser Erkrankung
- Gefahr kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen abgewendet werden.
- Vorgehen, wenn eine Unterbringung, bzw. eine unfreiwillige Vorstellung in einer psychiatrischen Klinik notwendig ist:
- Polizei, Gericht oder Gesundheitsamt benachrichtigen.
- Benachrichtigung der Polizei oft am einfachsten
- Polizei, Gericht oder Gesundheitsamt benachrichtigen.
In der Klinik
- Psychiatrisches/fachärztliches Gutachten,
- in der Klinik Überprüfung der Indikation für eine weitere Unterbringung durch Fachärzt*innen für Psychiatrie
- sofortige Entlassung, falls die Gründe für eine Unterbringung nicht bestätigt werden können
- bei einwilligungsfähigen Patient*innen Entscheidung für eine freiwillige stationäre Aufnahme möglich (auch in einer beschützenden Abteilung)
- bei weiterbestehender Indikation für eine Unterbringung Erstellung eines ärztlichen Gutachtens mit Darlegung der Gründe für eine Unterbringung für das Gericht
- Richterlicher Beschluss
- persönliche Anhörung der Patient*innen innerhalb von 24 h
- richterliche Entscheidung über Unterbringung oder Entlassung
- Der richterliche Beschluss legt die Dauer der Unterbringung fest.
- Weitere Zwangsmaßnahmen,
- z. B. Fixierung oder Zwangsmedikation: gesonderter Antrag bei Gericht
- bei Zwangsmedikation Überprüfung durch externe Gutachter*in
Prävention
- Notfallkarte mit wichtige Kontaktdaten und Öffnungszeiten für Patient*innen mit psychischen oder psychiatrischen Erkrankungen
- des psychiatrischen Krisendienstes
- der behandelnden psychiatrischen Klinik
- der nächsten geeigneten psychiatrischen Klinikambulanz
- der behandelnden Hausarztpraxis
- von Familienmitgliedern
- der gesetzlichen Betreuer*in
- der Rettungsleitstelle.
- Vertrauen und gute Zusammenarbeit zwischen psychisch erkrankten Menschen und medizinischem und anderem professionellen Personal.
- Bei rezidiverendem aggressivem Verhalten bei Personen mit Adhärenzproblemen sollten behandelnde Psychiater*innen Umstellung auf Depotpräparat mit Patient*in erörtern.
- Vorbereitung des Praxisteams auf psychiatrische Notfälle im Vorfeld
- Information über das landesspezifische Unterbringungsgesetz
- Klärung behördlicher Zuständigkeiten
- Angebot und Verfügbarkeit eines psychiatrischen Krisendienstes vor Ort
- Schulung des Praxisteams (z. B. Kurs zur verbalen Deeskalation)
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
Autor*innen
- Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München