Allgemeine Informationen
Definition
- Vergiftung durch von Dritten heimlich zugeführtes Betäubungsmittel oder andere sedierende Substanzen, mit dem Ziel, das Opfer wehrlos zu machen und im Anschluss eine Straftat auszuüben, wie z. B.:
- Vergewaltigung und sexuelle Belästigung
- Diebstahl und Raub
- Körperverletzung, Tötungsdelikte.
Häufigkeit
- Generelle Zunahme drogenassoziierter Sexualdelikte nach Berichten aus den USA
- Keine genauen Zahlen zur Häufigkeit in Europa verfügbar
- sehr hohe Dunkelziffer
- Die Vorfälle bleiben häufig von Opfern unbemerkt, oder werden aus Scham oder aufgrund von Erinnerungslücken mit zeitlicher Verzögerung oder nicht zur Anzeige gebracht.
- Der Nachweis von manchen Substanzen, besonders Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB, „Liquid Ecstasy“) ist aufgrund eines engen Nachweisfensters schwierig.
- Nachweis im Urin max. 12 Stunden, im Blut 8 Stunden
- Verurteilungen wegen Beibringung von K.-o.-Mitteln und Anschlussstraftaten in Europa v. a. wegen Beweisproblemen relativ selten
- Anschlussstraftaten: Frauen sind eher Opfer von Sexualdelikten, Männer eher von Eigentumsdelikten.
Ätiologie und Pathogenese
- Ein starkes Sedativum wird, vom Opfer unbemerkt, heimlich einem Getränk oder dem Essen zugefügt und unwissentlich eingenommen.
- Je nach verwendetem Medikament oder Droge kommt es zu Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit, Gedächtnislücken (Filmriss, anterograde Amnesie) und/oder Bewusstlosigkeit beim Opfer.
- Bis zu 30 verschiedene Substanzen kommen als K.-o.-Mittel infrage.
- Täter*innen wählen die Substanz abhängig von der individuellen Zugänglichkeit zum Drogenmarkt, zu Medikamenten oder industriellen Lösungsmitteln.
- Am häufigsten sind:
- Alkohol
- Täter*innen können auf die Alkoholisierung von Opfern hinwirken oder den bereits vorhandenen alkoholisierten Zustand des Opfers ausnutzen.
- Alkohol wird als die bedeutsamste Vergewaltigungsdroge angesehen.
- Benzodiazepine, v. a.:
- Flunitrazepam
- Verfärbt Flüssigkeiten, verklumpt und schmeckt bitter.
- Bromazepam
- zentralnervöse Dämpfung, Schwindel und Benommenheit, Muskelerschlaffung, Erinnerungslücken
- Die Wirkung wird durch Alkohol verstärkt.
- Flunitrazepam
- Hypnotika
- Zopiclon, Zolpidem
- Rascher Wirkeintritt nach 10–30 min, löst Amnesien aus, kurze Halbwertszeit.
- Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB, Liquid Ecstasy, in Wirkung und Chemie nicht vergleichbar mit Ecstasy)
- GHB entsteht physiologisch beim Abbau von Gamma-Amino-Buttersäure (GABA), Verstoffwechselung zu H2O und CO2
- Zulassung zur Behandlung der Narkolepsie
- Ist auf dem Schwarzmarkt als Partydroge als Feststoff oder farblose/gefärbte weitgehend geschmacksneutrale, leicht salzige und geruchlose Flüssigkeit erhältlich.
- Wirkung dosisabhängig
- 0,5–1,5 g: stimulierende Effekte, anxiolytisch, leicht euphorisierend, sozial öffnend, beeinträchtige Motorik
- bis ca. 2,5 g: Stimmungs- und Antriebssteigerung, evtl. aphrodisierend, Amnesie
- > 2,5 g: Somnolenz, Brechreiz, Schwindel, Sehstörungen, Bewusstlosigkeit
- ab 4 g: Atemdepression und Koma
- Die Kombination mit Alkohol, atemdepressiv wirksamen Medikamenten oder Benzodiazepinen ist gefährlich: Aspiration und Ersticken sind möglich.
- Wirkeintritt nach ca. 15–30 min, Wirkdauer bis zu 4 Stunden, danach rasches Erwachen und volle Orientierung
- Butyro-1,4-lacton (Gamma-Butyrolacton, GBL)
- weit verbreitetes Lösungsmittel in der Industrie (Farbentferner, Reinigungsmittel, Nagellackentferner), Reiniger im KFZ-Bereich
- Ausgangsstoff zur Herstellung von Pharmazeutika und Chemikalien für die Landwirtschaft
- farblose Flüssigkeit mit schwachem Eigengeruch
- wird im Körper zu GHB hydrolysiert (geht sehr schnell, Plasmahalbwertszeit von GBL weniger als 60 sec).
- 1,4-Butandiol (BDO)
- industrieller Weichmacher, Zwischenprodukt bei der Synthese von GBL
- wird im Körper zu GHB umgewandelt
- Die Wirkung setzt nach ca. 5–20 min nach oraler Aufnahme ein und hält ca. 2–3 Stunden an.
- Ab 4 ml schlaffördernd, höhere Dosen können zu Koma und bei starker Überdosierung zum Tod führen.
- Ketamin
- Verschreibungspflichtig, unterliegt nicht dem Betäubungsmittelgesetz.
- zugelassen in der Anästhesie
- dissoziative bewusstseinsverändernden Wirkung
- oral Verwendung als Rausch- und Partydroge
- Zopiclon, Zolpidem
- Antihistaminika
- z. B. Diphenhydramin, Doxylamin
- gute ZNS-Gängigkeit
- wegen anticholinerger Eigenschaften und einfacher Verfügbarkeit als K.-o.-Mittel geeignet
- sedierende Antidepressiva
- Mirtazapin
- Neuroleptika
- Clozapin
- Opiate
- Drogen
- Kokain, Amphetamine, Ecstasy
- Von den Täter*innen wird die Erschöpfungsphase nach dem Rausch abgewartet.
- Alkohol
Disponierende Faktoren
- Ausgehen ohne Begleitperson
- Starker Alkoholkonsum
- Freiwilliger Drogenkonsum
- Das Getränk wird unbeobachtet stehen gelassen.
- Getränke von unbekannten Personen annehmen.
ICPC-2
- Z25 Körperl. Misshandlung/sex. Missbrauch
ICD-10
- T40.6 Vergiftung durch Sonstige und nicht näher bezeichnete Betäubungsmittel
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Bericht über ungewöhnliche Symptome wie Verwirrtheit, Schwindel, Filmriss, Bewusstlosigkeit, die nicht mit der evtl. konsumierten Alkoholmenge in Einklang zu bringen sind.
- Oft sind Symptome einer K.-o.-Tropfen-Einnahme schwer von denen eines übermäßigen Alkoholkonsums/einer Alkoholintoxikation zu unterscheiden.
- Erwachen in ungewöhnlicher Situation, Hinweise auf eine Straftat
- entkleidet, genitale Verletzungen, Spuren von Körpersekreten/Sperma
- Fehlen von Handtasche, Geldbeutel, Schlüsseln
- Laborchemischer Nachweis eines Sedativums/Narkotikums in Blut, Urin, ggf. auch Haarprobe
Differenzialdiagnosen
- Übermäßiger Alkoholkonsum/Alkoholintoxikation
- Schädel-Hirn-Trauma
- Enzephalitis
- Transiente globale Amnesie
- Akute vorübergehende psychotische Störung
Anamnese
- An was kann sich die Patientin/der Patient erinnern?
- Wo wurde der vergangene Abend verbracht?
- Wie viel Zeit ist seit dem Vorfall vergangen?
- Welche Getränke, welche Speisen, wie viel Alkohol und ggf. welche Drogen hat die betroffene Person konsumiert?
- Hat ein Getränk oder eine Speise plötzlich unangenehm/bitter geschmeckt oder war verfärbt?
- Kam der Patientin/dem Patienten eine andere Person oder eine Situation verdächtig oder unangenehm vor?
- Wurde ein Getränk oder ein anderes Lebensmittel unbeaufsichtigt stehen gelassen oder ein Getränk oder Lebensmittel von einer unbekannten Person angenommen?
- Wer hat Getränke/Speisen serviert?
- Symptome der Intoxikation,
- Schwindel
- Verwirrtheit
- Benommenheit, Schläfrigkeit, Bewusstseinsstörung („Zustand wie in Watte gepackt“)
- Bewusstlosigkeit
- anterograde Amnesie, Filmriss (besonders bei Benzodiazepinen und GHB)
- Kontrollverlust, Verlust der Muskelkontrolle, Gangstörung
- Enthemmung
- Übelkeit, Erbrechen
- Mundtrockenheit
- Aufwachsituation
- Ein plötzliches Erwachen nach Stunden mit Filmriss kann ein Hinweis auf GHB sein.
- zuhause
- in fremder Umgebung
- Verletzungen
- Genitalbereich: Hinweis auf Vergewaltigung?
- Zur Diagnostik bei Vergewaltigung siehe Artikel Sexualisierte Gewalt.
- Aufgrund der Bewusstseinstrübung/Bewusstlosigkeit können charakteristische Abwehrverletzungen fehlen.
- Kopf, Extremitäten, Gesicht: Hinweis auf Gewalteinwirkung oder Unfall?
- Zur Diagnostik bei V. a. Gewalttat siehe Artikel Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
- Genitalbereich: Hinweis auf Vergewaltigung?
- Raub oder Diebstahl?
Klinische Untersuchung
- Körperliche Untersuchung bei Hinweisen auf Verletzung
- Gerichtssichere Dokumentation bei Hinweisen auf Gewaltverbrechen siehe Artikel Gewalt gegen Frauen und Mädchen und Sexualisierte Gewalt.
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Die meisten der o. g. Substanzen im Blut sind mehrere bis 24 h nachweisbar (manche bis 2 Tage), im Urin inklusive von Metaboliten wenige Tage, in Haarproben Wochen bis wenige Monate.
- GHB
- max. Plasmakonzentration nach 20–45 min; HWZ ca. 30 min
- Nachweis im Blut bis 8 h, im Urin max. 12 h möglich
- Problem
- GHB ist eine körpereigene Substanz, Nachweis nur bei Konzentrationen, die signifikant höher sind als der stoffwechselbedingte Referenzbereich.
- Der Nachweis im Urin beweist eine Substanzaufnahme.
- Bei Verdacht auf Vergiftung durch K.-o.-Tropfen
- schnellstmögliche (innerhalb von 24 h, vor der körperlichen Untersuchung) Sicherung von Proben
- gekühlte Lagerung des Materials
- Blut: 10 ml (kein Zitrat), am besten mehrere Serum-Röhrchen (keine Gel-Monovetten)
- Urin: 100 ml
- Datum und Uhrzeit vermerken.
- Versiegelung und dokumentengerechte Beschriftung, z. B. in einem Briefumschlag
Diagnostik bei Spezialist*innen (Institut für Rechtsmedizin)
- 4 Wochen bis Monate nach dem Vorfall
- Haarprobe (bleistiftdicke Haarsträhne)
- Nachweis von GHB problematisch (endogenes GHB ebenfalls im Haar nachweisbar)
Indikationen zur Überweisung
- Bei Verdacht auf K.-o.-Tropfen-Intoxikation Überweisung an rechtsmedizinisches Institut, möglichst mit telefonischer Voranmeldung
- Mitgabe des gekühlten Probematerials
- GHB wird nicht im herkömmlichen Drogenscreening erfasst, muss extra angefordert werden.
- Auch zur Spurensicherung bei V. a. Gewaltverbrechen, wie Vergewaltigung, Körperverletzung
- Ggf. Mitbetreuung durch Spezialist*innen für Gynäkologie, Psychiatrie/Psychotherapie
- Versorgung größerer Verletzungen in Chirurgie
Therapie
Therapieziele
- Hilfe und medizinische sowie soziale Versorgung für Betroffene
- Schutz vor weiteren Übergriffen
- Verhinderung von gesundheitlichen und psychischen Folgen des Verbrechens
Allgemeines zur Therapie
- Siehe Artikel Gewalt gegen Frauen und Mädchen und Sexualisierte Gewalt.
Medikamentöse Therapie
- Richtet sich nach Art der Verletzungen und evtl. psychischen Folgen.
- Siehe z. B. die Artikel:
Schweige- und Meldepflicht
- Ärzt*innen sind berechtigt, Polizei bzw. Staatsanwaltschaft auch ohne Einwilligung und Wissen von Betroffenen einzuschalten.
- Grundsätzlich sollte trotzdem eine Entbindung von der Schweigepflicht eingeholt werden.
- „Rechtfertigender Notstand“ erlaubt es Ärzt*innen, ein Geheimnis auch ohne Schweigepflichtentbindung preiszugeben, wenn nur dadurch Unheil von der betroffenen Person abgewendet werden kann.
- Auch nach schwerer Gewaltanwendung – wie Schuss- oder Stichverletzungen, Vergewaltigung oder Kindesmisshandlung – besteht keine Meldepflicht.
- Nur wenn das Verbrechen noch bevorsteht oder droht, besteht eine Pflicht zur Information von Polizei bzw. Staatsanwaltschaft.
Prävention
- Aufklärung und Information über die Gefahr
- Keine Drinks von Fremden annehmen, Getränke nicht unbeaufsichtigt lassen.
- Kommerziell erhältliche Getränkeschnelltests bergen das Risiko falsch negativer Ergebnisse und untersuchen nur eine bzw. sehr wenige Substanzen.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Komplikationen
- einer GHB-Beibringung
- Bradykardie, Hypotonie, Hypothermie, Krämpfe
- einer GBL-Beibringung
- Atemdepression bis hin zum Atemstillstand
- Koma, Tod
- einer GHB-Beibringung
Verlaufskontrolle
- Abhängig von Tathergang und Art des Übergriffes/der Straftat
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
Autorin
- Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin