Zusammenfassung
- Definition:Sexualisierte Gewalt ist ein Oberbegriff für sexuelle Handlungen, die an einer Person gegen deren Willen vorgenommen werden oder unter Ausnutzung einer Situation, in der die betroffene Person ihren Willen nicht äußern kann.
- Häufigkeit:In einer deutschen Studie berichteten 5 % der befragten Jugendlichen, 1,2 % der Frauen und 0,6 % der Männer über irgendeine Form sexueller Gewalterfahrungen in den letzten 12 Monaten.
- Symptome:Schmerzen im Genitalbereich, psychische Belastungsreaktionen bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörung.
- Befunde:Verletzungen an den Genitalien, sonstige Folgen körperlicher Gewalt.
- Diagnostik:Eine medizinische und rechtsmedizinische Untersuchung (medizinische Untersuchung mit Spurensicherung) ist angezeigt, wenn die betroffene Person dies wünscht. Häufig ist die Voraussetzung für eine rechtsmedizinische Untersuchung, dass die Tat zur Anzeige gebracht wird. Genitaler Abstrich, Laboruntersuchung auf HIV, Syphilis, Hepatitis, Chlamydien, Mykoplasmen und Gonorrhö; Schwangerschaftstest, ggf. Drogentests und Spurensicherung im Rahmen der rechtsmedizinischen Untersuchung.
- Therapie:Behandlung von Verletzungen und sexuell übertragbaren Krankheiten, ggf. Postexpositionsprophylaxe HIV und Chlamydien, ggf. Notfallkontrazeption oder Beratung über Schwangerschaftsabbruch. Rechtsberatung und psychosoziale Beratung und Unterstützung durch eine spezialisierte Anlaufstelle.
Allgemeine Informationen
- Zu sexualisierter Gewalt bei Kindern und Jugendlichen siehe Artikel Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen.
Definition
Sexuelle und sexualisierte Gewalt
- Die Begriffe bezeichnen dasselbe Spektrum an Tatbeständen.
- Der Begriff „sexuelle Gewalt“ stellt heraus, dass es sich um Gewalt handelt, die mit sexuellen Mitteln ausgeübt wird.
- Der Begriff „sexualisierte Gewalt“ verdeutlicht, dass bei den Taten Sexualität funktionalisiert, also benutzt wird, um Gewalt auszuüben.
Sexuelle Gewalt als Menschenrechtsverletzung
- Laut Europäischer Menschenrechtskonvention1 gehen sexuelle Handlungen dann in unerlaubte Handlungen über, wenn ein wissentliches Einverständnis fehlt. Dies unterstreicht, dass es sich bei Sexualstraftaten um einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte sowie gegen das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung handelt.
Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern
- Ein Kind wird sexualisierter Gewalt ausgesetzt, wenn es in sexuelle Handlungen einbezogen wird, denen es aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht zustimmen kann.
Dokumentation von Verletzungen oder Spurensicherung
Häufigkeit
- In einer im Jahr 2015 durchgeführten bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe in Deutschland2 berichteten 5 % der befragten Jugendlichen, 1,2 % der Frauen und 0,6 % der Männer über irgendeine Form sexueller Gewalterfahrungen in den letzten 12 Monaten.
- Eigenes sexuell aggressives Verhalten wurde von 1,5 % der Männer und 1 % der Frauen angegeben.
- In der Kriminalstatistik wird die tatsächliche Häufigkeit sexualisierter Gewalt regelmäßig unterschätzt.
Prädisponierende Faktoren
- Besonders gefährdete Gruppen3-4
- Jugendliche und junge Erwachsene (16–24 Jahre). Diese Gruppe wird erheblich häufiger Opfer von sexualisierter Gewalt als ältere Erwachsene.
- Menschen, die als Kinder sexualisierte Gewalt erfahren haben.
- Menschen mit Alkohol- oder sonstiger Substanzkonsumstörung5
- Prostituierte
- Menschen, die in Einrichtungen leben, ältere Menschen sowie Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen.
- Hier kann es zur Ausnutzung durch Fremde oder durch bekannte Hilfspersonen kommen.
- Die Personengruppe hat häufig ganz allgemein Schwierigkeiten, sich zu äußern. Besteht ein Verdacht auf sexualisierte Gewalt oder wird von Dritten darauf hingewiesen, sollte als Teil der Aufklärung eine medizinische/rechtsmedizinische Untersuchung stattfinden.
- Auch Menschen, die in Haft sind, sowie Menschen, die in Armut leben, und Obdachlose sind stärker gefährdet.
ICD-10
- Z04.5 Untersuchung und Beobachtung nach durch eine Person zugefügter Verletzung
- Untersuchung von Opfer oder Beschuldigtem nach angegebener Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch
- T74.2 Sexueller Missbrauch
- F43.0 Akute Belastungsreaktion
- F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung
- F43.8 Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung
- F43.9 Reaktion auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Allgemeines
Rechtssichere Dokumentation der Tatbestände und Befunde
- Einverständnis der betroffenen Person einholen.
- Zur rechtssicheren Dokumentation einer Gewalttat gehören:
- wichtige Daten: der Name der behandelnden Ärztin/des Arztes, Zeit und Ort der Behandlung und Patientinnendaten
- eine genaue Beschreibung der Verletzungen. Im Idealfall werden Fotos erstellt.
- Angaben zum Geschehen: Was? Wann? Wie? Wo? Durch wen? Wichtig: keine Übertreibungen und lieber wenige Angaben als Angaben, die später zurückgenommen werden.
Anzeige bei der Polizei?
- Wenn jemand im Moment akut bedroht wird (Notruf).
- Wenn von einer Gefährdung durch weitere Gewalthandlungen auszugehen ist.
- Um eine zeitnahe Spurensicherung nach einer Gewalttat zu veranlassen.
- Für weitere strafrechtliche Ermittlungen
Schweige- und Meldepflicht
- Ärzt*innen sind berechtigt, Polizei bzw. Staatsanwaltschaft auch ohne Einwilligung und Wissen von Betroffenen einzuschalten.
- Grundsätzlich sollte trotzdem eine Entbindung von der Schweigepflicht eingeholt werden.
- Ein „rechtfertigender Notstand“ erlaubt es Ärzt*innen, ein Geheimnis auch ohne Schweigepflichtentbindung preiszugeben, wenn nur dadurch Unheil von der betroffenen Person abgewendet werden kann.
Anamnese
Erste Abklärungen
- Reihenfolge der erforderlichen Untersuchungen nach Dringlichkeitsgrad festlegen.
- Gefährdung und Schutzbedarf einschätzen, auch für weitere im Haushalt lebende Personen.
- Welche Art von Hilfe erscheint der betroffenen Person selbst am dringendsten?
- Für vertrauensvolle Atmosphäre sorgen.
- Die betroffene Person und ihre Schilderungen ernst nehmen.
- Untersuchungen, Beratung und Behandlung werden von der betroffenen Person evtl. eher toleriert, wenn sie von Personen ihres Geschlechts durchgeführt werden.
- Eine körperliche und/oder rechtsmedizinische Untersuchung allein kann nur selten den Ablauf des Vorfalls klären. Die Schilderung der betroffenen Person sind eine unverzichtbare Grundlage für die weitere Behandlung.
Bei fehlender Gesprächsbereitschaft
- Wenn die betroffene Person den Verdacht auf Gewalt als Ursache der Beschwerden und Befunde verneint, dieser Verdacht aber weiter besteht:
- Entscheidung respektieren
- Mitgefühl und Verständnis für die persönliche Situation und die inneren Konflikte der betroffenen Person zeigen
- weitere Gesprächsbereitschaft signalisieren
- Folgetermine anbieten
- ggf. Notfallkarte anbieten.
- eigenen Verdacht prüfen
Psychische Reaktionen auf sexualisierte Gewalt
- Sexualisierte Gewalt geht meist mit akuten Stresssymptomen und -reaktionen und häufig mit einer psychischen Traumatisierung (siehe Artikel Posttraumatische Belastungsstörung) einher.6
- Die unmittelbare Reaktion ist individuell unterschiedlich. Apathie und Kontrolliertheit sind ebenso möglich wie deutliche, emotionale Reaktionen mit Weinen, Erregung und Wut.
- Viele Menschen haben Schwierigkeiten, das Erlittene einzuordnen.
- Wiedererleben, Schlaflosigkeit, Schuld- und Schamgefühle, erhöhte Wachsamkeit, erhöhte Reizbarkeit, Wut, Depression, Rückzug, körperlichen Reaktionen, Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten kommen häufig vor.
- Vermeidungsverhalten kann die Bereitschaft, sich in Behandlung zu begeben, beeinträchtigen.
Klinische Untersuchung
Allgemeines
- Siehe auch den Abschnitt Erste Abklärungen.
- Psychische Exploration
- Ganzkörperuntersuchung auf Verletzungen, Infektionen, Schwangerschaft
- Untersuchung auf möglichen Einfluss von Sucht- oder Betäubungsmitteln (z. B. „K.O.-Tropfen“)
- Nach genitaler Gewalteinwirkung: Untersuchung in einer gynäkologischen oder urologischen Praxis oder Ambulanz
Innerhalb von 3 Tagen nach dem Übergriff
- Soforthilfe rund um die Uhr erforderlich, dies gilt für:
- psychosoziale Unterstützung
- medizinische Untersuchungen und Spurensicherung (siehe auch Überweisung zur Rechtsmedizin)
- Eine Sicherung der Spuren von der Körperoberfläche ist vor allem in den ersten 1,5 Tagen angezeigt.
- Medizinische Behandlung: Eine etwaige HIV-Postexpositionsprophylaxe ist innerhalb von 48 Stunden nach dem Vorfall zu verabreichen.
4.–14. Tag
- Die Möglichkeiten der Spurensicherung sind eingeschränkt. Eine Überweisung zur Rechtsmedizin zu diesem Zweck kann bis zu 1 Woche nach dem Vorfall sinnvoll sein.
- Auch zu einem späteren Zeitpunkt obligat:
- Blut- und Urintests im Hinblick auf Infektionen und eine potenzielle Schwangerschaft
- Untersuchung des Mundes, gynäkologische/urologische Untersuchungen im Hinblick auf eine Infektion, ggf. Verletzungen
- allgemeine körperliche Untersuchung im Hinblick auf Verletzungen und Verletzungsfolgen
- rechtssichere Dokumentation (s. o.)
- Notfallkontrazeption kann bis zu 5 Tage nach dem Vorfall erfolgen.
Später
- Der Umfang der Befunderhebung und ggf. Behandlung orientiert sich an den Bedürfnissen der betroffenen Person und ihren somatischen und psychischen Symptomen.
- Ggf. auch im Rahmen der regulären Sprechstunde, wenn ein zeitnaher Beginn möglich ist.
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Serum
- evtl. Drogenscreening (K.O.-Tropfen bis 6 Stunden nach Ingestion im Blut nachweisbar)
- Syphilis
- Hepatitis B und C
- HIV: Ist eine HIV-Postexpositionsprophylaxe angezeigt, die relevanten Voruntersuchungen einleiten, ggf. Rücksprache mit einer Fachärztin/einem Facharzt für Infektiologie.
- Urin
- evtl. Drogenscreening (K.O.-Tropfen bis 12 Stunden nach Ingestion im Blut nachweisbar)
- Schwangerschaftstest
- PCR-Tests auf Chlamydien, Mycoplasma genitalium und Gonorrhö bei Männern und bei Frauen, bei denen eine gynäkologische Untersuchung oder ein Selbsttest nicht möglich ist.
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Vaginale (Gynäkologie), anale oder orale Abstriche mit Watteträger
- PCR-Tests auf Chlamydien, Mycoplasma genitalium und Gonorrhö (Mund: nur Gonokokken-PCR)
- Gonorrhö-Kultur anlegen zur Bestimmung einer etwaigen Resistenz.
- Trichomonaden: direkter Erregernachweis bei der mikroskopischen Untersuchung des Abstriches
- bei Läsionen an den Genitalien: Herpes, Syphilis aus Exsudat
Indikationen zur Überweisung
- Polizei und/oder Rechtsmedizin
- Falls die betroffene Person eine Anzeige bei der Polizei wünscht oder diesbezüglich noch unsicher ist: Überweisung an Rechtsmedizin zur Spurensicherung und Dokumentation (unbedingt Termin vereinbaren, vor der Anzeige bei der Polizei, zeitnahe Untersuchung auch für spätere Schritte sehr wichtig).
- Gynäkologie
- bei Z. n. sexueller Gewalt, Schwangerschaft, V. a. genitale Infektionen, unklaren Blutungen
- bei akuter Vergewaltigung bis 3(–5) Tage nach dem Ereignis Akutversorgung in einer gynäkologischen Klinik
- Eine erste Spurensicherung erfolgt in der Regel dort.
- Zur Wahrung der Diskretion ggf. mit der Anmeldung oder Notaufnahme ein Codewort vereinbaren.
- Psychotherapie
- Suizidalität
- anhaltende PTBS-Symptome oder andere psychische Symptome
- progrediente Alkohol- oder sonstige Substanzkonsumstörung
- Soziale Hilfseinrichtungen und Anlaufstellen
- Schutzbedürfnis der betroffenen Person ermitteln.
- Ggf. bei der Kontaktaufnahme unterstützen.
- Sonstige Instanzen/Anlaufstellen, zu denen vermittelt werden kann:
- Kinder- und Jugendschutzorganisationen
- Arbeits- und Sozialamt (bei wirtschaftlichen Problemen, Wohnproblemen, beruflicher Umstellung)
Therapie
Therapieziele
- Psychische und psychosoziale Folgen lindern.
- Körperliche Verletzungen behandeln.
- Sexuell übertragbare Infektionen behandeln.
- In Rechtsverfahren beraten.
Allgemeines zur Therapie
Leitlinien der WHO: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen7
- Frauen, die von irgendeiner Form von Gewalt in Paarbeziehungen (oder durch ein anderes Familienmitglied) oder sexueller Nötigung/Vergewaltigung durch irgendeine Person berichten, sollte sofortige Unterstützung angeboten werden.
- Gesundheitsfachkräfte sollten mindestens Ersthilfe anbieten, wenn eine Frau Gewalterfahrungen mitteilt.
- Ersthilfe umfasst:
- eine wertfreie, unterstützende und bestätigende Haltung zu dem, was die Frau berichtet
- praktische Versorgung und Unterstützung, die auf ihre Sorgen eingeht, ohne dabei aufdringlich zu sein
- Erkundigen nach ihrer Gewaltgeschichte und aufmerksames Zuhören, ohne sie zum Sprechen zu drängen (in Anwesenheit von Dolmetscher*innen ist bei sensiblen Themen besondere Achtsamkeit geboten)
- ihr helfen beim Zugang zu Informationen, einschließlich rechtlicher und anderer Angebote, die sie als hilfreich erachten könnte
- ihr, soweit erforderlich, bei der Erhöhung ihrer Sicherheit und der ihrer Kinder helfen.´
- Bereitstellung oder Vermittlung sozialer Unterstützung
- Dabei sollte Folgendes sichergestellt sein:
- Wahrung der Privatsphäre beim Gespräch
- Vertraulichkeit, wobei Frauen über die Grenzen der Vertraulichkeit informiert werden müssen (z. B. wenn Meldepflicht besteht)
Medizinische Behandlung
- Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf dieser Referenz.3
Akute und subakute Verletzungen
- Behandlung von körperlichen Verletzungen
- Für kleinere, aber schmerzhafte Verletzungen im Bereich der Genitalien sowie des Afterbereichs und Rektums schmerzlinderndes Gel (z. B. Xylocain) erwägen.
- Mögliche Maßnahmen
- schmerzstillende Medikamente
- Medikamente gegen Übelkeit
- ggf. Auffrischung Tetanusprophylaxe
- Nach Würgegriff 12 Stunden Beobachtung aufgrund der Gefahr eines Larynxödems
- Nach Kopftrauma Beobachtung wegen Commotio erwägen.
- bei neurologischen Symptomen Behandlung unter stationärer Überwachung
- Näheres siehe Artikel Schädel-Hirn-Trauma.
- Bei Fremdkörpern oder scharfkantigen Gegenständen, die in Körperhöhlen feststecken, Überweisung an Spezialist*in oder stationäre Aufnahme.
Ältere Verletzungen
- Ggf. Folgeerkrankungen behandeln.
Sexuell übertragbare Krankheiten – maximal 2 Wochen nach dem Ereignis
- Vor der Behandlung sollten Proben durch die Gynäkologin/den Gynäkologen entnommen werden.
- Allen Betroffenen sollte eine vorbeugende Antibiose angeboten werden, denn viele erscheinen nicht zu Nachsorgeterminen.
- Aufgrund von Resistenzen ist dieses Prinzip jedoch umstritten.
- Chlamydien sind am häufigsten (bei Frauen, bei Männern).
- evtl. Postexpositionsprophylaxe (Off-Label-Use)
- Azithromycin 1.000 mg als Einmaldosis möglich
- Cave: Resistenzbildung!
- Aufgrund der einmaligen Verabreichung und zur Vermeidung von Erinnerungen an den Übergriff ist grundsätzlich in dieser Situation Azithromyzin gegenüber der mehrtägigen Standardbehandlung mit Doxycyclin zu bevorzugen.
- Wenn sichergestellt ist, dass die Betroffenen zur Nachkontrolle kommen, kann eine solche Behandlung ausgesetzt werden, bis ein etwaiger Erreger in der Akut- oder Kontrollprobe nachgewiesen ist.
- evtl. Postexpositionsprophylaxe (Off-Label-Use)
- Die Inzidenz von Trichomoniasis, Gonorrhö und Syphilis ist in Europa relativ gering. Hierauf sollte nicht routinemäßig prophylaktisch behandelt werden.
- Allen sollte eine Impfung gegen Hepatitis B angeboten werden. Sie kann bis zu 1(–2) Monaten nach der Infektion durchgeführt werden.
- Eine Schnellimpfung im Abstand von 0, 2 und 6 Wochen ist empfehlenswert. Die Intervalle können u. U. an den sonstigen Bedarf von Kontrolluntersuchungen angepasst werden.
- Eine Auffrischung nach 12 Monaten bietet einen lang anhaltenden Schutz.
- Besteht ein hohes Risiko einer HIV-Exposition Postexpositionsprophylaxe anbieten, ggf. Rücksprache mit einer Fachärztin/einem Facharzt für Infektologie.
- Mit der HIV-Postexpositionsprophylaxe muss innerhalb von 48 Stunden nach der Exposition begonnen werden.
- Bis zur Klärung der Infektionsproblematik sollten Kondome verwendet werden.
Sexuell übertragbare Krankheiten – später
- Ggf. mit einer Antibiose abwarten, bis PCR und Kulturen vorliegen.
- Hepatitis-B-Impfung: Beginn 1(–2) Monate nach dem Übergriff möglich
Notfallkontrazeption
- Notfallkontrazeptiva sollten allen Frauen im fertilen Alter nach vaginalen Übergriffen bis zu 5 Tagen nach dem Vorfall angeboten werden.
- Notfallkontrazeptiva sind innerhalb von 12 Stunden nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr am wirksamsten. Die Therapie ist bis zu 5 Tagen danach wirksam.
- Kontraindikationen: bestätigte Schwangerschaft/positiver Schwangerschaftstest
- Medikamentöse Notfallkontrazeption
- Ulipristal innerhalb von 120 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr
- Bei jungen Frauen unter 18 Jahren sind die Erfahrungen begrenzt.
- Levonorgestrel innerhalb von 72 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr
- Medikament der Wahl während des Stillens
- Beide Medikamente sind rezeptfrei.
- Ulipristal innerhalb von 120 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr
- Ein IUP kann bis zu 5 Tage nach einem Übergriff eingesetzt und damit als Notfallverhütung verwendet werden.
Schwangerschaftsabbruch
- Auf die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruches oder Beratung hinweisen, je nach Wunsch der Patientin.
- Ggf. klären, ob eine gewollte Schwangerschaft mit dem Beziehungspartner oder eine ungewollte Schwangerschaft durch den Übergriff vorliegt.
- Ultraschalluntersuchung zur Ermittlung der Schwangerschaftswoche und Schätzung des Konzeptionszeitpunkts
- Wenn dies nicht ausreicht, kann ein pränataler Vaterschaftstest anhand fetaler DNA erwogen werden.
- Probengewinnung via Chorionzottenbiopsie oder auch mit nichtinvasiven Testverfahren aus dem mütterlichen Blut
Krankschreibung und Rehabilitation
- Krankschreibung anbieten. Die Dauer hängt von mehreren Faktoren ab, einschließlich der Art der Tätigkeit und des Umfelds; ggf. schrittweise Wiedereingliederung.
- Ggf. Versetzungs- oder Umschulungsoptionen erwägen (z. B. nach Übergriff durch Arbeitskollegen)
- Bei Schüler*innen oder Studierenden ggf. mit Ausbildungsstelle klären, welche Sonderregelungen möglich sind.
Psychosoziale Beratung und Psychotherapie
- Siehe auch den Abschnitt Psychische Reaktionen auf sexualisierte Gewalt.
Leitlinien der WHO: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen7
- Frauen mit bereits bestehender diagnostizierter oder mit Partnergewalt verbundener psychischer Erkrankung (z. B. Depression oder Alkoholabhängigkeit), die Gewalt in Paarbeziehungen ausgesetzt sind, sollten eine psychische Versorgung für ihre Erkrankung erhalten.
- Für Frauen, die keiner Gewalt mehr ausgesetzt sind, aber an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, wird als Intervention eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT) oder Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) durch Gesundheitsfachkräfte mit fundiertem Wissen im Bereich Gewalt gegen Frauen empfohlen.
- Schwangeren Frauen, die von der Gewalt in der Partnerschaft berichten, sollte eine kurz- bis mittelfristige empowermentorientierte Beratung (bis zu 12 Sitzungen) und Fachberatung/Unterstützung mit Schutzaspekten durch geschulte Fachkräfte angeboten werden.
Unterstützung für Ärzt*innen
- Beruhigen, stabilisieren, Respekt zeigen, der betroffenen Person die Kontrolle in der Untersuchungssituation überlassen.
- Bei der Befunderhebung in der Frühphase auf die Fakten fokussieren, nicht auf die Gefühle.
- Eigene Bewältigungsstrategien der betroffenen Person unterstützen.
- Über häufige Folgereaktionen aufklären.
- Bei der Strukturierung der kommenden Tage unterstützen.
- Nach Möglichkeit zeitnah Folgetermine anbieten, ggf. auch als Telefonkontakt.
- Sicherheitsberatung – Bedarf einer geschützten Wohnmöglichkeit?
- Für weiterführende Informationen über psychosoziale Beratung und Nachsorge siehe auch Artikel Posttraumatische Belastungsstörung.
Beratung bei Rechtsverfahren
- Strafanzeige
- Die betroffene Person sollte selbst entscheiden, ob der Vorfall strafrechtlich verfolgt werden soll.
- Die Strafanzeige macht deutlich, dass die Handlungen unakzeptabel sind, und kann verhindern, dass andere davon betroffen werden.
- Die Strafanzeige ist eine Voraussetzung für Schadenersatzansprüche.
- Der Prozess zur Erstattung einer Anzeige kann äußerst belastend sein.
- Die betroffene Person sollte selbst entscheiden, ob der Vorfall strafrechtlich verfolgt werden soll.
- Alle sollten eine rechtliche Beratung erhalten.
- Bei den entsprechenden Anlaufstellen ist diese kostenlos.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
- Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf dieser Referenz.8
Verlauf
- Persönlichkeitsfaktoren, die bisherige psychische Gesundheit, etwaige frühere Traumata oder andere Belastungen sowie die Dauer und Intensität des Übergriffs sind ausschlaggebend dafür, wie das Opfer mit dem Übergriff umgeht.
- Starkes Vermeidungsverhalten, eine Substanzkonsumstörung, ein wenig unterstützendes Umfeld sowie eine unsichere Wohn- und Lebenssituation erhöhen das Komplikationsrisiko.
Komplikationen
Psychische Komplikationen
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Depression und Suizidalität
- Sozialer Rückzug
- Angstzustände
- Störung der Sexualität, auch längerfristig6,8-9
- Alkohol- und Drogenprobleme
- Essstörungen
- Dissoziative Störungen
- Eine frühe Exposition führt zu einem erhöhten Risiko von erneuten Übergriffen im Erwachsenenalter und einem erhöhten Risiko von selbstverletzendem Verhalten und Persönlichkeitsstörungen.
Somatischen Komplikationen
- Verletzungsfolgen
- Sexuell übertragbare Krankheiten
- Können u. a. beitragen zu8-9
- chronischen Unterleibsschmerzen
- Fibromyalgie
- anderen chronischen Schmerzsyndromen
- Reizdarm
- Kopfschmerzen
- Bei Frauen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren oder unter Bedingungen leben, in denen sie sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, kann während der Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko bestehen, folgende Symptome zu entwickeln:
- Ängste, dass das ungeborene Kind eine Krankheit oder Fehlbildung hat.
- Angst vor der Geburt
- Schwangerschaftskomplikationen
- Risiko eines ungünstigen Schwangerschaftsausgangs wie Fehl- oder Frühgeburt
Risiko einer HIV-Infektion
- Das Risiko, sich bei einem sexuellen Übergriff mit HIV zu infizieren, ist gering. Viele Opfer sexualisierter Gewalt haben jedoch hiervor Angst.
- Das Risiko hängt von der Prävalenz im Milieu des Täters und der Art der sexuellen Handlung ab. Zu den Risikogruppen gehören Menschen aus hochendemischen Gebieten, Konsumenten von i. v. Drogen sowie Männer, die Sex mit Männern haben (MSM).
- Im Rahmen von einvernehmlichem Geschlechtsverkehr liegt das Risiko der Übertragung von einer infizierten auf eine nichtinfizierte Person bei rezeptivem (passivem) Analverkehr bei 1 % und bei rezeptivem (passivem) Vaginalverkehr bei 0,1 %. Bei rezeptivem (passivem) Oralsex ist es mit 0,02 % noch niedriger.
- Bei Schleimhautschädigungen ist das Risiko einer Übertragung höher.
Prognose
- Vergewaltigung und/oder sexualisierte Gewalt sind schwerwiegende Belastungen, die mit der Gefahr dauerhafter gesundheitlicher Beeinträchtigungen verbunden sind.6,8-9
- Dennoch sind viele Menschen in der Lage, einen solches Trauma zu bewältigen.
- Optimale Unterstützung und Begleitung bei der Aufdeckung sexualisierter Gewalt erleichtern die Bewältigung.
Verlaufskontrolle
- Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.6
Psychosoziale Nachsorge
- Vergewaltigung/sexualisierte Gewalt sind Traumata, die in die Persönlichkeit eingreifen und mit vielen Vorurteilen behaftet sind. Die Unterstützung durch das soziale Umfeld ist nicht so selbstverständlich wie bei anderen Traumata (Unfälle usw.).
- Angehörige sind indirekt betroffen und können im Namen der Patient*innen mit Trauer oder Wut oder aber mit Kritik an der betroffenen Person reagieren.
- Sexualisierte Gewalt kann zum Verlust des sozialen Umfelds und zu Schwierigkeiten in engen Beziehungen führen.
- evtl. sozialer Rückzug und Isolation als Folge
- Ein Vermeidungsverhalten kann die Nachsorge behindern.
- evtl. aktive Einbestellung. z. B. durch Terminerinnerungen per SMS, Telefon oder E-Mail
- Behandlungskontinuität: Folgetermine möglichst bei derselben Person
- Bei Überweisungen sollte die Behandlung zunächst überlappend stattfinden.
- Ggf. Überweisung an Spezialist*innen
Weitere Informationen
- Gewalt gegen Frauen und Mädchen
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
- Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
Patienteninformation
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Council of Europe Convention on preventing and combating violence against women and domestic violence. Article 36 wcd.coe.int
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Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg