Zusammenfassung
- Definition:Verletzung nach Kontakt mit Strom.
- Häufigkeit:Jährlich ca. 4 gemeldete berufliche Stromunfälle je 100.000 Einw. Zusätzlich Stromunfälle im Privatbereich, die jedoch in der Minderheit sind.
- Symptome:Sehr variabel, u. a. Palpitationen, Schmerzen an Eintrittsstelle.
- Befunde:Strommarken an Ein- und Austrittsstelle. Verbrennungen verschiedenen Ausmaßes. Bewusstseinsstörungen möglich.
- Diagnostik:Anamnese um Risiko für Komplikationen einzuschätzen (u. a. Höhe der Spannung, Art des Stroms, Kontaktzeit). Körperliche Untersuchung insbesondere der Haut. 12-Kanal-EKG obligat.
- Therapie:Abhängig von Befunden. Bei Hochspannungsunfall immer stationäre Überwachung.
Allgemeine Informationen
Definition
- Verletzung nach Kontakt mit Strom
- Volt (V): Einheit der elektrischen Spannung
Häufigkeit
- Jährlich werden ca. 4 berufliche Stromunfälle pro 100.000 Einw. gemeldet.
- Zusätzlich gibt es noch die Stromunfälle im Privatbereich, die jedoch in der Minderheit sind.
- Überwiegende Mehrzahl der Fälle betrifft den Niederspannungsbereich.
- Jährlich etwa 1–2 Verletzte und 0,05 Todesfälle durch Blitzunfälle pro 1 Mio Einw.
Ätiologie und Pathophysiologie
- Elektrische Unfälle entstehen durch:
- Berühren unter Spannung stehender Teile im Nieder -und Hochspannungsbereich
- Nähern an unter Hochspannung stehende Teile; durch einen Lichtbogen kann der Abstand überbrückt werden.
- Blitzschlag
- Elektroschockdistanzwaffen („Taser“), insbesondere bei Polizeieinsätzen
- Wechselstrom
- Vorkommen: öffentliches Stromnetz, haushaltsübliche Steckdosen
- wegen der häufigen Polaritätswechsel Gefahr von Herzrhythmusstörungen und Kammerflimmern erheblich größer als bei Gleichstrom
- Gleichstrom
- Vorkommen: bei Batterien, Akkus und Ladegeräten
- Führt mit zunehmender Stromstärke zu kurzzeitiger Muskelkontraktion (Zuckung) bis hin zu andauernder Muskelkontraktion (Verkrampfung).
- Niederspannungsunfall: bis 1.000 V Gleichstrom bzw. 1.500 V Wechselstrom
- Hochspannungsunfall: über 1.000 V Gleichstrom bzw. 1.500 V Wechselstrom
- Vorkommen
- Oberleitungen von Bahn üblicherweise 15.000 V
- Hochspannungsleitungen meist über 100.000 V
- Blitz mehrere Millionen Volt
- Gefahr von Lichtbögen (Umwandlung von elektrischer in mehrere 1.000 °C heiße thermische Energie), die über mehrere Meter Entfernung Verletzungen verursachen können.
- Verletzungsmuster
- vor allem thermische Verletzungen (Verbrennungen), aber auch schwerste Gewebezerstörungen möglich
- durch Muskelkontrakturen ausgeprägte Muskelschäden, Rhabdomyolyse und Crush-Niere möglich
- Augenverletzungen durch „Verblitzung“ bei Lichtbögen
- Vorkommen
ICD-10
- T75.0 Schäden durch Blitzschlag
- T75.4 Schäden durch elektrischen Strom
- W87.9! Unfall durch elektrischen Strom
Diagnostik
Allgemeines zur Diagnostik
- Wegen der Gefahr von Herzrhythmusstörungen ist eine umgehende ärztliche Vorstellung notwendig, auch nach einem mutmaßlichen „Wischer“ (kurzer Kontakt zur Spannungsquelle mit kurzer Durchströmungszeit).
- Notwendig: Anamnese, körperliche Untersuchung und 12-Kanal-EKG, ggf. mit Rhythmus-Monitoring
Erstmaßnahmen
- Wichtig ist bei Stromunfällen der Eigenschutz der Ersthelfer*innen!
- Niederspannung
- Sicherung entfernen.
- Gerät abschalten.
- Netzstecker ziehen.
- Verunfallte Person durch einen geeigneten Standort isolieren.
- Hochspannung
- Sicherheitsabstand von bis zu 20 m einhalten.
- Anlagenbetreiber*in benachrichtigen.
- Bereich von Fachpersonal frei schalten und frei geben lassen.
Notfallbehandlung
- Basismaßnahmen zur Herz-Lungen-Wiederbelebung
- Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand wird wegen der guten Erfolgschancen (meist junge, herzgesunde Patient*innen) aggressiv und prolongiert reanimiert.
- Erstmaßnahmen bei Verbrennungen
Anamnese
- Fakten zum Unfall
- Unfallzeitpunkt
- Aktivität bei Stromunfall
- Je schneller ein Herz schlägt (bei körperlicher Arbeit), desto empfindlicher reagiert es auf den Stromfluss und desto eher kommt es zu einer Herzrhythmusstörung.
- Hoch- oder Niederspannung
- Lichtbogen
- Eintritts- und Austrittspunkte
- nasse Haut und Stromfluss von Hand-zu-Hand sind Risikofaktoren für Komplikationen
- „Festkleben“ an der Stromquelle
- Expositionsdauer
- etwaiger Sturz
- Aktuelle Symptomatik
- Schmerzen
- Dyspnoe
- Palpitationen
- Vorerkrankungen, insbesondere kardiale
Klinische Untersuchung
- Inspektion der Haut
- Farnkrautphänomen
- für Blitzschlag charakteristische feine Verästelung subkutaner Hautgefäße
- Strommarke
- Haut-/Weichteilverbrennungen bei lokaler Einwirkung von Starkstrom oder länger andauernder Einwirkung von Schwachstrom („Klebenbleiben“)
- kleine, runde bis rund-ovale, porzellanfarbene, muldenartige Einsenkung der Haut mit ringartig umgebendem Hautwall
- Farnkrautphänomen
- Bewusstseinszustand
- Benommenheit
- akute psychische Reaktionen, Schock
- Bodycheck
- Anhalt für muskuloskelettale Verletzungen durch Sturz
- Orientierende Untersuchung des Kreislaufs
- Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- 12-Kanal-EKG, wenn möglich Vergleich mit Vor-EKG
- Die European Society of Cardiology empfiehlt grundsätzlich eine mindestens 24-stündige Monitor-Überwachung der Herzfunktion.1
- Bei Niederspannungsunfällen, bei denen die Patient*innen ein normales EKG und normale Blutwerte aufweisen, können die Patient*innen nach individueller Risikobewertung evtl. nach Hause entlassen werden.2
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Empfohlenes Aufnahme-Labor im Krankenhaus
- Bei anhaltenden neurologischen Symptomen können Schädel-CT, Schädel-MRT und/oder EEG in Betracht gezogen werden.
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
Bei Niedrigspannung
- Anhaltende Auffälligkeiten im EKG
- Bewusstseinsverlust nach dem Stromschlag
- Bestehende Vorerkrankungen des Herzens
- Zustand nach längerem Stromdurchfluss durch „Klebenbleiben“
- Subjektive Beschwerden wie z. B. Benommenheit, Herzstiche, Herzschmerzen, Atemnot
- Verletzungen nach Sekundärunfällen
- Verbrennungen durch Störlichtbögen oder Strommarken, die tiefere Gewebsschädigung vermuten lassen.
- Schwangerschaft der Verunfallten
Bei Hochspannung
- Eine stationäre Behandlung mit engmaschiger Kontrolle ist unbedingt erforderlich.
Indikationen zur direkten Einweisung in ein Verbrennungszentrum
- Verbrennungen 3. Grades über 10 % der Körperoberfläche
- Verbrennungen 2. Grades über 25 % Körperoberfläche
- Jegliche drittgradigen Verbrennungen im Gesicht, an Händen oder Füßen, in der anogenitalen Region
Therapie
Therapieziele
- Überleben.
- Akutkomplikationen wie Herzrhythmusstörungen beheben.
- Spätfolgen vermeiden.
Allgemeines zur Therapie
- Bei malignen Herzrhythmusstörungen/Kammerflimmern siehe den Artikel zur Herz-Lungen-Wiederbelebung.
- Cave: bei Intubation keine depolarisierenden Muskelrelaxanzien wegen der Gefahr des Kaliumanstiegs!
- kardiologische Therapie abhängig von Art der Herzrhythmusstörung
- Bei Hautverletzungen Überprüfung vom Tetanusstatus und ggf. Auffrischimpfung
- Bei Verbrennungen siehe Artikel Verbrennungen, Akutversorgung.
- u. a. Versorgung der Wunden, Analgesie, Volumenmanagement
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die Stärke des Stroms, die durch den Körper fließt, ist maßgeblich für die Folgen.
- Selbst bei äußerlich weitgehend unverletzt erscheinenden Personen können erhebliche innere Verletzungen vorliegen („innere Verbrennung“).
Komplikationen
- Massive Gewebezerstörungen bei Hochspannungsunfall möglich, u. a. mit:
- Nierenversagen (Crush-Niere)
- Infektion des devitalisierten Gewebes mit Sepsis
- Kompartmentsyndrom
- Verbrennungen
- Innere Organschädigungen, insbesondere bei horizontalem Fluss durch den Körper
- Herzrhythmusstörungen
- Neurologische Komplikationen, insbesondere bei Blitzschlag in den Kopf
- Hirnblutung, Schlaganfall
Prognose
- Letalität bei Niederspannungsunfall etwa 3 %
- Letalität bei Hochspannungsunfall wie Blitzschlag 25–30 %,
- Personen ohne primären Herz-/Atemstillstand überleben normalerweise.
Quellen
Literatur
- Waldmann V, Narayanan K., et al. Electrical cardiac injuries: Current concepts and management. European Heart Journal Apr 2017. academic.oup.com
- Searle J, Slagman A, Maaß W, Möckel M: Cardiac monitoring in patients with electrical injuries—an analysis of 268 patients at the Charité hospital. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(50): 847–53. www.aerzteblatt.de
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster