Allgemeine Informationen
Definition
- Bewohner*innen in Pflegeeinrichtungen stellen eine für Infektionen besonders vulnerable Gruppe dar.
- Hierfür gibt es verschiedene Gründe:1
- Immunoseneszenz
- Sowohl die unspezifische als auch die spezifische Abwehr sind betroffen.
- verminderte Wirksamkeit von Impfungen
- Reaktivierung latenter Infektionen
- physiologische Veränderungen
- z. B. verminderte mukoziliäre Clearance, verminderter Urinfluss/Residualurin
- funktionelle Einschränkungen, z. B. Schluckstörungen
- Immobilität
- Komorbiditäten/Multimorbidität
- vermehrter Einsatz von Kathetern und Devices
- erleichterte Transmission von Erregern (Mitbewohner*innen, Personal)
- Immunoseneszenz
Häufigkeit
- Punktprävalenz
- In einer europäischen Untersuchung wiesen 3,4 % der Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung mindestens eine Infektion auf.2
- Inzidenz
- In verschiedenen Studien zeigten sich Inzidenzraten von 1,8 bis 13,5 Infektionen/1.000 Heimtage.3
- Häufigste Infektionen
- Die häufigsten Infektionen sind zu etwa gleichen Teilen:4-5
- Harnwegsinfektionen (25–30 %)
- Haut- und Weichteilinfektionen (25–30 %)
- Atemwegsinfektionen (25–30 %)
- weitere Infektionen5
- HNO (ca. 5 %)
- gastrointestinal (ca. 3 %)
- andere/unspezifizierte Infektionen (ca. 3 %)
- unerklärtes Fieber (ca. 1 %).
- Die häufigsten Infektionen sind zu etwa gleichen Teilen:4-5
- Häufigkeit antibiotischer Behandlung
Diagnostik
Differenzialdiagnosen
- Zu häufigen Infektionserkrankungen in Pflegeeinrichtungen siehe auch folgende Artikel und zugehörige Leitlinien:
- Pneumonie in Pflegeeinrichtungen
- Pneumonie
- SARS-CoV-2
- Legionellose
- Influenza
- Bronchitis, akute
- Harnwegsinfektion in Pflegeeinrichtungen
- Harnwegsinfektion
- Blasenkatheter
- Haut- und Wundinfektionen in Pflegeeinrichtungen
- Wundinfektionen
- Dekubitus
- nicht heilende Wunden
- Ulcus cruris venosum
- Ulcus cruris arteriosum
- diabetische Fußgeschwüre
Diagnostische Überlegungen
- In Pflegeeinrichtungen manifestieren sich Infektionserkrankungen häufig „untypisch“, z. B.:
- isolierte Beeinträchtigung des Allgemeinzustands
- Fehlen von Fieber
- Appetitlosigkeit
- Unruhe
- Verwirrtheit, evtl. Delir
- Schwierige Abgrenzung, da sich diese Veränderungen auch unabhängig von Infektionen ergeben können.
- In Pflegeeinrichtungen vergleichsweise geringer Anteil (ca. 15 %) an mikrobiologisch gesteuerten Therapien, etwa 85 % der Antibiotikabehandlungen erfolgen empirisch.4
- Andererseits ist auch eine Überdiagnostik zu vermeiden, dies gilt insbesondere für asymptomatische Harnwegsinfektionen.
- In Pflegeeinrichtungen haben bis zu 50 % der Bewohner*innen eine asymptomatische Bakteriurie ohne therapeutische Konsequenz.
- Die Unterscheidung zwischen symptomatischen Harnwegsinfektionen und asymptomatischer Bakteriurie ist allerdings bei geriatrischen Patient*innen eine Herausforderung.
- Bei Atemwegsinfektionen besteht durch die Verbreitung von SARS-CoV-2 derzeit Indikation zu einer raschen virologischen Diagnostik.
- Unabhängig von SARS-CoV-2 sind Atemwegsinfektionen mehrheitlich viral bedingt, diese führen aber nicht selten zu einer dann inadäquaten antibiotischen Therapie.
Therapie
Antibiotikaeinsatz in Pflegeeinrichtungen
- Im Rahmen des europäischen HALT-Projektes (Healthcare-Associated Infections in European Long Term Care Facilities) wurden in Deutschland für 2016/17 folgende Indikationen zum Antibiotikaeinsatz erhoben:7
- Harnwegsinfektion 41 %
- Atemwegsinfektion 21 %
- Haut- und Weichteilinfektion 16 %
- Die am häufigsten verschriebenen Antibiotika für die häufigsten Indikationen waren 2016/17:7
- Harnwegsinfektionen
- Ciprofloxacin
- Trimethoprim/Sulfamethoxazol
- Nitrofurantoin
- Atemwegsinfektionen
- Amoxicilllin/Betalaktamaseinhibitor
- Cefuroxim
- Doxycyclin
- Haut- und Weichteilinfektionen
- Ciprofloxacin
- Amoxicillin
- Clindamycin
- Harnwegsinfektionen
Überlegungen zur antibiotischen Therapie
- Ein inadäquater Einsatz von Antibiotika sollte aus verschiedenen Gründen vermieden werden:8-9
- Unwirksamkeit bei nicht gegebener Indikation
- Nebenwirkungen
- Interaktionen mit anderen Medikamenten
- Resistenzentwicklung
- Kosten
Indikationsstellung
- Die Indikationsstellung zur antibiotischen Therapie sollte auf einem gut begründeten Verdacht auf eine klinisch relevante bakterielle Infektion beruhen.
- Patient*innen mit asymptomatischer Bakteriurie sollen nicht mit Antibiotika behandelt werden.
- Patient*innen mit unkomplizierten akuten oberen Atemwegsinfektionen inklusive Bronchitis sollen nicht mit Antibiotika behandelt werden.
- Der Nachweis erhöhter Entzündungswerte wie C-reaktives Protein (CRP) oder Procalcitonin (PCT) allein soll keine Indikation für eine Antibiotikatherapie darstellen.
- Nicht selten werden Betalaktamantibiotika wegen einer dokumentierten Penicillinallergie nicht verordnet und stattdessen Antibiotika mit deutlich schlechterem Nebenwirkungsprofil (z.B. Fluorchinolone, Clindamycin).
- Untersuchungen konnten zeigen, dass ein Teil dieser Patient*innen nie eine Allergie hatte.
- Bei unklaren Allergien, die lange (> 10 Jahre) zurückliegen oder Niedrigrisikoanamnese (z. B. Juckreiz ohne Ausschlag) kann eine beobachtete Reexposition vertretbar sein.
Nebenwirkungen
Toxizität von Fluorchinolonen
- Wegen Toxizitäten ist das Nutzen/Risikoverhältnis bei Fluorchinolonen besonders genau abzuwägen:
- Vermeidung des Einsatzes bei Patient*innen in hohem Alter (> 80 Jahre), insbesondere bei eingeschränkter Hirnleistung
- besondere Vorsicht bei schwerer kardialer Komorbidität
- Vermeidung des Einsatzes bei gleichzeitiger systemischer Steroidtherapie
- Vermeidung des Einsatzes bei Patient*innen mit Aortenaneurysma.
- Verstärkt wird das Problem dadurch, dass Fluorchinolone bislang besonders häufig mit inadäquater Indikation verschrieben wurden.
QT-Zeit-Verlängerung durch Antibiotika
- Antibiotika, die eine Verlängerung der QT-Zeit bewirken können:
- Azithromycin, Clarithromycin, Erythromycin
- Ciprofloxacin, Levofloxacin, Moxifloxacin, Ofloxacin
- Trimethoprim-Sulfamethoxazol
Multimedikation und Interaktionen
- Bei geriatrischen Patient*innen besteht häufig eine Multimedikation, d. h. die Verordnung von 5 oder mehr Medikamenten.
- Diese Patient*innen stellen eine Risikogruppe für unerwünschte Ereignisse und Therapieprobleme dar, auch durch zusätzliche akute Medikation mit Antibiotika.
- Makrolidantibiotika (außer Azithromycin) können mit Statinen interagieren:
- gegenseitige Wirkungsverstärkung, Risiko der Rhabdomyolyse
- Wenn möglich, sollte das Statin während der Makrolidgabe pausiert werden.
- Bei Notwendigkeit der gemeinsamen Gabe sollte auf Pravastatin gewechselt werden (Pravastatin und Fluvastatin mit nur geringer Interaktion).
- Verstärkung der Wirkung von Phenprocoumon durch:
- Amoxicillin/Clavulansäure
- Doxycyclin
- Makrolide (alle)
- Trimethoprim-Sulfamethoxazol
- Metronidazol
- Zum Umgang mit Multimedikation siehe auch:
- Bei Visite in einer Pflegeeinrichtung sollte gezielt nach Problemen mit der Medikation gefragt werden.
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
- Schwere Infektionen erfordern die stationäre Einweisung und Behandlung.
- Bei palliativem Therapieziel kann auch die Pflege außerhalb des Krankenhauses erwogen werden, wenn diese sichergestellt werden kann.
- Angaben zur gewünschten Vorgehensweise können Patient*innen schon im Vorfeld durch Ausfüllen des Notfallbogens Pflegeheim machen.
Quellen
Literatur
- Juthani-Mehta M, Quagliarello V. Infectious Diseases in the Nursing Home Setting: Challenges and Opportunities for Clinical Investigation. Clin Infect Dis 2010; 51: 931-936. doi:10.1086/656411 DOI
- Latour K, Kinross P, Moro ML. Point prevalence survey of healthcare-associated infections and antimicrobial use in European long-term care facilities. 2013. www.ecdc.europa.eu
- Heudorf U, Boehlcke K, Schade M. Healthcare-associated infections in long-term care facilities (HALT) in Frankfurt am Main, Germany, January to March 2011. Euro Surveill 2012;17:pii=20256. www.eurosurveillance.org
- Ruscher C, Kraus-Haas M, Nassauer A, et al. Healthcare-associated infections and antimicrobial use in long term care facilities (HALT-2). Bundesgesundheitsbl 2015. doi:10.1007/s00103-015-2126-5 DOI
- European Centre for Disease Prevention and Control. Types of health-care-associated infections in long-term care facilities. Zugriff 19.06.21. www.ecdc.europa.eu
- Wischnewski N et al. Healthcare-associated infections in long-term care facilities. German results of the European Prevalence Study HALT. 2011. www.ncbi.nlm.nih.gov
- European Centre for Disease Prevention and Control. Healthcare-associated infections and antimicrobial use in long-term care facilities: HAI-Net HALT database. Zugriff 18.06.2019. www.ecdc.europa.eu
- Montoya A, Mody L. Common infections in nursing homes: a review of current issues and challenges. Aging Health 2011; 7: 889–899. doi:10.2217/AHE.11.80 DOI
- Montoya A, Cassone M, Mody L. Infections in Nursing Homes. Clin Geriatr Med 2016; 32: 585-607. doi:10.1016/j.cger.2016.02.004 DOI
- O’Mahony D et al. STOPP & START criteria. A new approach to detecting potentially inappropriate prescribing in old age. European Geriatric Medicine 1 (2010) 45-51. www.sciencedirect.com
- Pazan F, Weiss C, Wehling M. The EURO-FORTA (Fit fOR The Aged) List: International Consensus Validation of a Clinical Tool for Improved Drug Treatment in Older People. Drugs Aging 2018; 35: 61-71. doi:10.1007/s40266-017-0514-2 DOI
Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.