Geriatrische Untersuchung

Allgemeine Informationen

Geriatrisches Assessment1

Definition

  • Bewertung der körperlichen und psychischen Gesundheit älterer Menschen, einschließlich körperlicher, psychischer und alltagsrelevanter Funktionen
  • Interdisziplinärer, mehrdimensionaler Prozess

Stufen des geriatrischen Assessments

  • Stufe 1: Geriatische Patient*innen identifizieren
  • Stufe 2: geriatrisches Basisassessment
    • Stufe 2a: Therapierelevant betroffene Dimensionen (Domänen) erkennen (z. B. Bewegungseinschränkungen, kognitive Defizite). Werden solche Beeinträchtigungen gefunden, ist ein Assessment der Stufe 2b und/oder 3 angezeigt.
    • Stufe 2b: Ausprägung von Beeinträchtigungen dimensionsbezogen beschreiben.
  • Stufe 3: vertiefende Abklärung von Beeinträchtigungen, z. B. durch neuropsychologische Tests

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

  • Multimorbidität im Alter: hohe Anforderungen an die medizinische, psychosoziale und pflegerische Versorgungsqualität
  • Diagnostik und Behandlungsplanung möglichst im interdisziplinären Team mit Beteiligung von Fachkräften aus:
    • Pflege
    • Physio- und/oder Ergotherapie
    • Sozialarbeit
    • ggf. weitere Bereiche, z. B. Logopädie, Diätassistenz, Neuropsychologie, Psychotherapie
  • Regelmäßige Absprachen der Teammitglieder, möglichst in Anwesenheit der Betroffenen und ihrer Angehörigen

Maßnahmen

Zielsetzungen für die interdisziplinäre Beurteilung

  • Erkennen und bewerten:
    • Beschwerden und Probleme
    • Erkrankungen
    • Funktionseinschränkungen und Verlust von Fähigkeiten
    • Betreuungssituation.
  • Die betroffene Person soll ermutigt werden, ihre persönlichen Ziele und Prioritäten darzulegen. Klärung des Stellenwertes von: 
    • Erhalt der sozialen Rolle (Berufstätigkeit, soziale Aktivitäten, Familienleben)
    • Verhinderung spezifischer Ereignisse (z. B. Schlaganfall)
    • Verringerung der Belastung durch Behandlungen (z. B. Medikamentennebenwirkungen)
    • Lebensverlängerung, Verlängerung der gebrechlichkeitsfreien Lebenszeit

Checkliste für die Beurteilung

Zielsetzungen formulieren und umsetzen

  • Behandlung von Erkrankungen
  • Rehabilitation, Verbesserung der Funktionsfähigkeit
  • Anpassung von Hilfsmitteln und der Wohnsituation
  • Pflegerische Ziele
  • Nutzung weiterer unterstützender Angebote, z. B.:
    • psychosoziale Interventionen
    • spezielle Beratungsangebote
    • Selbsthilfegruppen für Betroffene und/oder Angehörige

Klinische Untersuchung1

Allgemeines

  • Bei älteren Menschen können sich viele Erkrankungen atypisch äußern.
    • Beispielsweise lässt Verwirrtheit oder Unruhe bei einem älteren Menschen nicht ohne Weiteres auf eine neurologische Erkrankung schließen.
  • Eine strukturierte Vorgehensweise kann daher sinnvoll sein.
    • Folgende Bereiche sind dabei zu berücksichtigen:
      • Funktionsfähigkeit (Näheres im Artikel Funktionsbewertung bei Patient*innen in Pflegeeinrichtungen)
      • körperliche Gesundheit
      • Kognition und psychische Gesundheit
      • Lebensumfeld und soziale Verhältnisse
      • Beurteilung der eingenommenen Arzneimittel, Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel sowie möglicher Interaktionen
  • Mögliche Anlässe für eine strukturierte geriatrische Untersuchung sind z. B.:
    • Umzug in eine Pflegeeinrichtung
    • Krankenhausentlassungen nach schwerwiegenden akuten Erkrankungen (z. B. Schlaganfall, Femurhalsfraktur)
    • wiederholte Krankenhauseinweisungen
    • akute Bettlägerigkeit über 14 Tage zu Hause oder im Krankenhaus
    • Verwirrtheitszustände (z. B. auch gravierende Fehler bei der Medikamenteneinnahme)
    • Polymedikation (regelmäßig ≥ 5 verschiedene Medikamente)
    • Fehl- und Mangelernährung
    • Verringerung des Sehvermögens oder der Hörfähigkeit (Schwerhörigkeit ist ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenz2)
    • Mobilitätseinschränkungen, wiederholte Stürze
    • Depression unklarer Genese
    • soziale Problemkonstellationen wie Überforderung von Angehörigen oder Verlust von Lebenspartner*in
    • Verlaufskontrolle bei bekannten Funktionsdefiziten

Hausärztlich-geriatrisches Basisassessment

Voraussetzungen

  • Die Untersuchung kann unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen eines „hausärztlich-geriatrischen Basisassessments“erfolgen.
  • Ab dem vollendeten 70. Lebensjahr bei Personen mit geriatrietypischer Morbidität (mindestens eines der folgenden Symptome):
    • multifaktorielle Mobilitätsstörung, z. B.:
    • komplexe Beeinträchtigung
      • kognitiv
      • emotional
      • verhaltensbezogen
    • Gebrechlichkeitssyndrom (Frailty Syndrom), z. B.: 
      • unbeabsichtigter Gewichtsverlust
      • körperliche und/oder geistige Erschöpfung
      • muskuläre Schwäche
      • verringerte Ganggeschwindigkeit
      • verminderte körperliche Aktivität
    • Dysphagie
    • Inkontinenz
    • therapierefraktäres chronisches Schmerzsyndrom
  • Oder wenn eine der folgenden Erkrankungen vorliegt:

Obligatorische Untersuchungen

  • Erhebung und/oder Monitoring organbezogener und übergreifender motorischer, emotioneller und kognitiver Funktionseinschränkungen (siehe Abschnitt  Funktionsbewertung)
  • Beurteilung der Selbstversorgungsfähigkeiten mittels standardisierter, wissenschaftlich validierter Testverfahren (Beispiele im Abschnitt Standardisierte Tests)
  • Beurteilung der Mobilität und Sturzgefahr durch standardisierte Testverfahren (Näheres im Abschnitt Mobilitätstests zur Einschätzung des Sturzrisikos)

Fakultative Untersuchungen

Funktionsbewertung

  • Beurteilung der Fähigkeit, Aufgaben im Alltag zu bewältigen.
  • Alltagskompetenz (Activities of Daily Living, ADL)
    • Essen
    • An- und Auskleiden
    • Baden
    • Bewegen zwischen Bett und Sitzgelegenheit
    • Toilettengang
    • Kontrolle über Ausscheidungsfunktionen
  • Instrumentelle Aktivitäten des Alltags (IADL), z. B.:
    • Hausarbeit
    • Zubereitung von Mahlzeiten
    • adäquate Einnahme von Medikamenten
    • Verwaltung der persönlichen Finanzen
    • Benutzung des Telefons
  • Praktische Fähigkeiten können leicht beobachtet werden.
    • Hemden auf- und zuknöpfen
    • einen Stift aufnehmen und einen Satz schreiben
    • Schuhe an- und ausziehen
    • auf den Untersuchungstisch hinauf- und herunterklettern
  • Standardisierte Tests
    • Barthel-Index
    • Instrumentelle Aktivitäten nach Lawton und Brody (IADL)
      • Nur bei relativ fitten Untersuchten geeignet (Barthel-Index >80)
    • Basic ADL (BADL) nach Katz 
    • Geriatrisches Screening nach Lachs
  • Näheres im Artikel Funktionsbewertung bei Patient*innen in Pflegeeinrichtungen

Körperliche Gesundheit

Screening auf Erkrankungen

Ernährung

  • Mangelernährung?
  • Vitamin- oder Mineralstoffmangel?
    • Vitamin A, C, D und B12
    • Kalzium, Eisen, Zink und andere Spurenelemente

Sehvermögen

Gehör

  • Presbyakusis?
  • Die Person nach ihrem Hörvermögen fragen und dieses mit flüsternder Stimme prüfen.
  • Ototoxische Medikamente?
  • Hörgerät indiziert?

Harninkontinenz

  • Mögliche Komplikationen
  • Mögliche psychosoziale Auswirkungen
    • Verlust von Selbstwertgefühl
    • eingeschränkte soziale und sexuelle Aktivitäten
    • Depression
  • Zur Beurteilung der Harninkontinenz
    • Flüssigkeitsaufnahme dokumentieren.
    • Medikamenteneffekte berücksichtigen.
    • Kognitive Funktion?
    • Mobilität?
    • Frühere urologische Eingriffe?
  • Näheres im Artikel Inkontinenz im Alter

Stuhlinkontinenz

  • Rektale Untersuchung
  • Ggf. Überweisung Proktologie
  • Näheres im Artikel Analinkontinenz

Mobilität und Sturzprävention

  • Stürze sind bei Menschen im Alter über 75 Jahren eine der Hauptursachen für Krankenhauseinweisungen und verletzungsbedingte Todesfälle.3
  • Folgende Maßnahmen können das Sturzrisiko bei älteren Menschen reduzieren:
    • regelmäßige Bewegung
    • Physiotherapie
    • Risiken im Haushalt einschätzen und beseitigen.
    • psychotrope Medikamente möglichst vermeiden
  • Mobilitätstests zur Einschätzung von Mobilität und Sturzrisiko
    • Timed-up-and-go-Test (TUG)
      • Performancetest zur Mobilitätsmessung und Einschätzung der Sturzgefahr
      • aufstehen aus dem Sitz, 3 m hin und zurück gehen, hinsetzen
      • Zeit messen
      • delegierbar an geschultes medizinisches Fachpersonal
      • Zeitbedarf: je nach Mobilität ca. 1–5 min
      • Für einige Menschen in Pflegeeinrichtungen kann dieser Test zu schwer sein.
      • Das Testergebnis gibt Anhaltspunkte, welche weiteren Untersuchungen oder Tests ggf. sinnvoll sind, z. B. bei verminderter Ausdauer, (2- oder 6-Minuten-Gehtest, Ergometrie, Näheres siehe Artikel Chronische Herzinsuffizienz), Kraftreduktion (Handkraftprüfung, Stuhl-Aufsteh-Test, s. u.), Feinmotorik (20-Cents-Test) oder Gleichgewichtsstörungen (Romberg-Stehversuch, Seiltänzergang, Näheres siehe Artikel Schwindel).
    • Tandem-Stand
      • Beurteilung der Sturzgefahr
      • Die Person soll 10 sec im Tandemstand stehen, d. h. Füße in einer Linie hintereinander.
      • delegierbar an geschultes medizinisches Fachpersonal
      • Test wird 2-mal wiederholt.
      • Zeitbedarf: wenige Minuten
    • Stuhl-Aufsteh-Test (Chair Stand Up)
      • Beurteilung der Kombination von Mobilität und Beinkraft
      • Messung der Zeit für das 5-malige Aufstehen von einem Stuhl
      • delegierbar an geschultes medizinisches Fachpersonal
      • Zeitbedarf: bei guter Kooperation ca. 2–3 min

Osteoporose

  • Kann Spontanfrakturen oder Niedrig-Energie-Frakturen, etwa durch Stürze, begünstigen.
  • Knochendichte?
  • Kalzium- und Vitamin-D-Versorgung?

Polypharmazie

  • Krankenhauseinweisungen, Stürze und Verwirrtheit sind häufig auf die Nebenwirkungen von Medikamenten zurückzuführen.
  • Nimmt die Person Risikomedikamente, die abgesetzt werden können?
  • Näheres im Artikel Polypharmazie im Alter
  • Bei der medikamentösen Behandlung soll die tatsächlich verwendete Medikation überprüft werden. Gleichzeitig sollten Missverständnisse über Indikation, Wirkung und Art der Einnahme oder Anwendung geklärt und ausgeräumt werden.

Kognition und psychosoziale Situation

Depression

  • Für ein erstes, breites Screening eignen sich die beiden folgenden Fragen:
    1. „Haben Sie sich im Laufe des letzten Monats traurig, deprimiert oder hoffnungslos gefühlt?“
    2. „Leiden Sie häufiger an einem Mangel an Interesse oder Freude darüber, Dinge zu tun?“

Kognitive Funktionen, Demenzassessment

  • Einen ersten Eindruck über die kognitiven Funktionen vermittelt der einfach durchzuführende Six-Item-Screener:
    • drei Dinge nennen (z. B. Auto/Blume/Ball), bitten zu wiederholen und zu merken
    • Fragen nach Jahr/Monat/Wochentag
    • drei gemerkte Wörter wiederholen lassen
    • 1 Punkt für jede richtige Antwort (max. 6)
  • Kognitive Tests dienen bei Demenz vor allem der Quantifizierung (Assessmentstufe 2b) und Verlaufskontrolle kognitiver Defizite.
  • Angst, Depressivität, Gereiztheit, Agitiertheit u. Ä. können zu den Symptomen einer Demenz gehören. Näheres dazu im Artikel Verhaltensauffälligkeiten und psychische Symptome der Demenz.
  • Näheres zur diagnostischen Vorgehensweise in den Artikeln Demenzsymptome und Demenzassessment

Soziale und umgebungsbedingte Faktoren

  • Wohnverhältnisse: In Gemeinschaft mit anderen? Allein? In einer Einrichtung?
  • Soziales Netzwerk, Zugang zu Hilfsangeboten, besondere Bedürfnisse, Sicherheit im Lebensumfeld

Testverfahren zu Psyche und Verhalten

  • Syndromübergreifende Skalen
    • neuropsychiatrisches Inventar (NPI)
    • Nurses' Observation Scale for Geriatric Patients (NOSGER)
  • Depression
    • Geriatrische Depressionsskala (GDS-15)
    • Hamilton Depressionsskala (HAM-D)
    • Beck' Depressions Inventar (Selbstrating) (BDI)
  • Apathie
    • Apathie-Evaluation-Skala (AES)
  • Agitiertheit
    • Cohen Mansfield Agitation Inventar (CMAI)

Indikationen zur Überweisung1

  • Eine geriatrische Basisuntersuchung kann in der hausärztlichen Praxis durchgeführt werden.
    • Gerade die langjährige Kenntnis der Patient*innen und ihres Umfeldes ist eine gute Voraussetzung dafür, deren körperliche und psychosoziale Situation und die notwendigen therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen, etwa bei einer Alzheimer-Demenz, realistisch und treffsicher einzuschätzen.
  • Bei Menschen mit kognitiven Defiziten ist die Überweisung an andere Fachdisziplinen vor allem in folgenden Situationen angezeigt:
    • schnelle Progression psychischer oder neurologischer Symptome oder spezifische neurologische Ausfälle: Überweisung Neurologie
    • Verhaltensauffälligkeiten und schwere psychische Symptome: Überweisung Psychiatrie, ggf. mit gerontopsychiatrischem Schwerpunkt
    • evtl. zur Beurteilung und ggf. Neueinstellung der medikamentösen Therapie, z. B. einer Demenz oder Depression

Quellen

Literatur

  1. Elsawy B, Higgins KE. The geriatric assessment. Am Fam Physician 2011; 83: 48-56. American Family Physician
  2. Livingston G, Huntley J, Sommerlad A et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission. Lancet 2020; 396: 413-46. PMID: 32738937 PubMed
  3. Gillespie LD, Robertson MC, Gillespie WJ, Sherrington C, Gates S, Clemson LM, Lamb SE. Interventions for preventing falls in older people living in the community. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 9. Art. No.: CD007146. DOI: 10.1002/14651858.CD007146.pub3. DOI

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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