Körperliche Aktivität, insbesondere bei Übergewicht und Adipositas

Allgemeine Informationen

  • Bewegung ist gesundheitsfördernd, wird in vielen Teilen der Bevölkerung aber zu wenig praktiziert.1
  • Die Folge des Bewegungsmangels und Übergewichts ist der Vormarsch sog. Zivilisationskrankheiten, die die weltweiten Todesursachenstatistiken anführen, allen voran kardiovaskuläre Erkrankungen.2
  • Es gibt auch Hinweise darauf, dass langes Sitzen, unabhängig vom Grad der körperlichen Aktivität, zu einem erhöhten Risiko von Herz-Gefäß-Erkrankungen, Krebserkrankungen, Typ-2-Diabetes und zu einem frühen Tod führt.3
  • Die präventiv wie auch therapeutisch wirksamen Effekte eines angemessenen Aktivitätsniveaus sind gut gesichert. Sie gelten für eine Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen, darunter KHK4-8, Typ-2-Diabetes9-10, Krebserkrankungen11 und psychiatrische Erkrankungen.12
  • Der entscheidende Schritt mit der höchsten Wirksamkeit besteht von der Inaktivität zur moderaten körperlichen Aktivität.
  • Die Ursachen des Bewegungsmangels sind vielfältig und wahrscheinlich überwiegend umwelt- und systembedingt. Lösungsansätze sollten daher insbesondere auf der politischen Ebene entwickelt werden. Dies entlässt die Hausärzt*innen jedoch nicht aus ihrer Verantwortung.
  • Als Primärversorger haben Hausärzt*innen gute Kontakte zur Allgemeinbevölkerung und zu besonders gefährdeten Patientengruppen.
  • Das Hausarztsetting kann nachweislich Patient*innen darin unterstützen, den Umfang ihrer körperlichen Aktivität langfristig auf das empfohlene Niveau zu erhöhen (geschätzte NNT von 12–25, vgl. geschätzte NNT für Raucherentwöhnung 50–120).13 Bereits eine geringe Steigerung der körperlichen Aktivität reduziert Risiken und verbessert Prognosen.

Definitionen

Definition von körperlicher Aktivität

  • Körperliche Aktivität ist von Sport abzugrenzen. Deutlich wird der Unterschied unter Zuhilfenahme des Begriffspaars unstrukturierte und strukturierte körperliche Aktivität.
    • Sport stellt „eine gezielte, strukturierte körperliche Aktivität dar, u. a. mit dem Ziel, den Energieumsatz zu steigern und die körperliche Fitness (z. B. Ausdauer, Kraft, Geschicklichkeit und Gleichgewicht) auszubauen“.
    • (Unstrukturierte) körperliche Aktivität ist „jegliche körperliche Bewegung, initiiert durch die Skelettmuskulatur, die zu einer wesentlichen Erhöhung des Energieverbrauchs über das Ruheniveau hinaus führt".14 Sie entspricht jeder körperlichen Betätigung und Bewegung im Alltag (z. B. Treppensteigen, Spaziergänge, Besorgungen zu Fuß, Gartenarbeit).

ESC-Leitlinie: Empfehlungen zur körperlichen Aktivität15

  • Gesunden Erwachsenen aller Altersklassen wird mindestens 150 Minuten gemäßigtes aerobes Fitnesstraining in der Woche (je 30 Minuten an 5 Tagen/Woche) oder 75 Minuten/Woche intensives aerobes Fitnesstraining (je 15 Minuten an 5 Tagen/Woche) oder eine gleichwertige Kombination beider empfohlen.
  • Um den Nutzen bei gesunden Erwachsenen zu erhöhen, wird eine allmähliche Steigerung der Dauer von gemäßigtem aerobem Fitnesstraining auf 300 Minuten in der Woche bzw. auf 150 Minuten in der Woche bei intensivem aerobem Fitnesstraining empfohlen. Auch hier ist eine Kombination möglich.
  • Eine regelmäßige Erfassung und Beratung zur körperlichen/sportlichen Aktivität wird empfohlen, um das Engagement zu verbessern und nötigenfalls eine Steigerung der körperlichen/sportlichen Aktivität im Lauf der Zeit zu unterstützen.
  • Sport sollte mehrmals die Woche betrieben werden, jeweils ≥ 10 Minuten dauern und gleichmäßig über die Woche verteilt werden, d. h. auf 4–5 Tage in der Woche, vorzugsweise täglich.
  • Personen mit geringem Risiko wird Sport uneingeschränkt empfohlen.
  • Personen mit bevorzugt sitzender Lebensweise mit Risikofaktoren, die eine intensivere körperliche Aktivität beabsichtigen, sollten sich zuvor einer sorgfältigen klinischen Untersuchung (ggf. einschl. Belastungstest) unterziehen.

Definition von Übergewicht und Adipositas

  • Der Body-Mass-Index (BMI) ist das am häufigsten verwendete Maß zur Definition von Übergewicht und Adipositas. Er wird als das Verhältnis von Körpergewicht zum Quadrat der Körpergröße (kg/m2) berechnet.
    • Untergewicht < 18,5
    • Normalgewicht 18,5–24,9
    • Übergewicht 25,0–29,9
    • Adipositas 30 oder höher
      • Adipositas ist von der WHO als eigenständige Krankheit eingestuft (ICD-10 E66).
  • Ein Nachteil bei der Verwendung des BMI ist es, dass er nicht zwischen Fett- und Muskelmasse unterscheidet.
  • Da die Ansammlung von Fett im Bereich des Bauches ein unabhängiger Risikofaktor für verschiedene Erkrankungen ist, ist es ebenfalls wichtig, ein Maß für das Bauchfett zu haben.
  • Ein einfaches Maß dafür ist der Taillenumfang.
    • Er sollte bei Männern nicht über 102 cm und
    • bei Frauen nicht über 88 cm liegen.
    • Wichtiger ist die Gesamtschau der einzelnen Risikofaktoren und Komorbiditäten sowie die Einschätzung der Körperform unter Einbeziehung des Körpergewichts.

Hausärztliche Interventionen zur Steigerung des Aktivitätsniveaus von Patient*innen

  • Strukturierte wie unstrukturierte körperliche Aktivität wirken sich positiv auf die Gesundheit aus. Patient*innen sollten unabhängig von individuellen Trainingszielen zu alltäglicher Aktivität ermuntert werden (z. B. Treppensteigen, Spaziergänge, Besorgungen zu Fuß, Gartenarbeit).
  • Körperliche Aktivität ist für viele Erkrankungen eine effektive Therapieform.

Welche Patient*innen profitieren?

  • Die körperliche Aktivität von Patient*innen kann durch Primärversorger*innen gesteigert werden. Jedoch ist der Effekt klein bis moderat.
    • Besonders effektiv ist die Beratung bei bisher inaktiven Patient*innen und wenn mehrere verschiedene Techniken zur Verhaltensveränderung eingesetzt werden.13
  • In internationalen Leitlinien werden folgende Patientengruppen für Beratungen bezüglich körperlicher Aktivität empfohlen, da bei ihnen die größten Effekte zu erwarten sind:16
    • Patient*innen mit überwiegend sitzendem Lebensstil bzw. inaktive Menschen
    • chronisch kranke Patient*innen (KHK, Diabetes mellitus, Depression etc.)
    • Patient*innen mit erhöhtem Risiko für Folgeerkrankungen (Übergewicht, Bluthochdruck, Hypercholesterinämie, psychische Belastung etc.).

Welche Methoden und Inhalte sind geeignet?

  • Die Wahl geeigneter Inhalte und Techniken von Interventionen zur Aktivitätssteigerung von Patient*innen sollte in erster Linie auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz beruhen. Andererseits ist eine Anpassung an die jeweiligen Patient*innen und das Gesamtsetting erforderlich.
  • Zeit ist ein begrenztes Gut in der täglichen Praxis. Die einzelnen Elemente der Beratungsarbeit können jedoch zeitsparend auf mehrere Schultern innerhalb des Praxisteams verteilt werden.17
  • Verhaltensorientierte Verfahren scheinen am effektivsten zu sein, in Abgrenzung von z. B. kognitiven Methoden.13
    • Sie umfassen u. a. das gemeinsame Zielesetzen von Ärzt*innen und Patient*innen, begleitendes Feedback oder Instruktionen zum Self-Monitoring. Insgesamt ist eine Kombination mehrerer Komponenten ratsam. 
  • Interventionen zur Aktivitätssteigerung von Patient*innen folgen meist einem dreistufigen Fahrplan.17
    • Eruieren Sie das für die/den Patient*in übliche Maß an Bewegung.
    • Statten Sie die Patient*innen mit allen Informationen aus, die sie für die Aufnahme eines angemessenen Trainingsprogramms benötigen.
    • Stehen Sie den Patient*innen während des Trainings unterstützend zur Seite, sodass sie an dem Programm festhalten.
  • In vielen Publikationen wird speziell für die Hausarztpraxis das einprägsame 5-A-Schema empfohlen17, das ursprünglich für die Raucherentwöhnung entwickelt wurde:18
    • Assess – Das Aktivitätsniveau der Patient*innen bestimmen.
    • Advise – Die Patient*innen zu ihren individuellen Gesundheitsrisiken und den Chancen beraten, wenn sie ihr Aktivitätsniveau erhöhen.
    • Agree – Gemeinsam mit den Patient*innen einen individuellen Aktionsplan festlegen.
    • Assist – Gemeinsam mit den Patient*innen Strategien entwerfen, die ein Festhalten am Aktionsplan bei etwaigen Hindernissen ermöglichen.
    • Arrange – Das weitere Vorgehen, Follow-up-Sitzungen planen.
  • Grundlegende Aspekte der Beratungsarbeit, die eine anhaltende Wirkung versprechen, sind:17
    • Follow-up mit Feedback
    • partizipative Zielsetzung mit den Patient*innen
    • Informationen über Bewegungsangebot vor Ort, z. B. von Selbsthilfegruppen, Sportvereinen, Fitnessstudios, Krankenkassen.

Alltägliche Aktivitäten

  • Es ist wichtig, aus einem inaktiven Lebensstil mit Auto, Bus, Bahn, Fahrstuhl, Rolltreppen, Sessel, Fernsehen etc. auszubrechen.
  • Beispielsweise mit einem „Geh-Programm“ starten:
    • Zu Fuß zur Arbeit und nach Hause gehen oder mindestens einen Teil der Strecke zu Fuß zurücklegen, Treppen als herausfordernde Anstiege nutzen, das Auto stehen lassen und stattdessen kleine Besorgungen in der Nähe zu Fuß erledigen, ins Kino „gehen“ oder Freunde und Bekannte zu Fuß besuchen usw.
  • Der Vorteil mit einem solchen Plan ist, dass er langsam, aber sicher zu einer besseren Kondition führt, ohne größere Verletzungsrisiken, die sich bei ungewohnten Aktivitäten erhöhen.
  • Alle, die nicht so gut in Form sind und deshalb keine große Lust haben anzufangen, können sich dadurch motivieren, dass sie höchstwahrscheinlich größere Fortschritte machen, als jene, die eine bessere Kondition haben.

Aufbau eines Trainingsprogramms

Vor Trainingsbeginn

  • Beurteilung der Belastbarkeit durch Anamnese und Befunde, ggf. Belastungs-EKG, Echokardiografie
  • Ausschluss von Kontraindikationen
  • Einteilung in Risikogruppen
    • Überwachung durch medizinische Kontrolluntersuchungen nötig?
    • Zusätzliches Monitoring (Herzfrequenz) während des Trainings mit Zielvorgaben für den Trainingsbereich?
    • Ärztliche Überwachung notwendig?
  • Für Breiten- oder Gesundheitssport sollte die allgemeine Beratung zur Vermeidung von Fehlbelastungen im Vordergrund stehen. In aller Regel genügt hier eine gründliche Anamnese, Beratung und eine Gesundheitsuntersuchung. Lediglich bei hinweisenden Beschwerden oder gravierenden Vorerkrankungen sind weitere Untersuchungen indiziert. Eine Pathologisierung dieses Bereiches ist unbedingt zu vermeiden, allerdings sind individuelle Hinweise zur Vermeidung von sportbedingten Fehlbelastungen hilfreich.

Aerobes Ausdauertraining

  • Geeignete Sportarten: Laufen, Schwimmen, Gehen, Radfahren, Ergometer, Stepper etc.
  • Die Trainingsintensität kann durch 5 Faktoren gesteuert werden:
    1. Herzfrequenz
    2. Leistung in Watt
    3. Sauerstoffaufnahme
    4. Blutlaktatspiegel
    5. Steuerung nach der BORG-Skala (Maß für subjektives Belastungsempfinden)
  • Für moderates Ausdauertraining empfohlen:  
    • 45–65 % der Herzfrequenzreserve, Borg-Wert: 11–13
    • Dauer: 30 min oder mehr pro Trainingseinheit
  • Für intensives Ausdauertraining empfohlen: 
    • 65–85 % der Herzfrequenzreserve, Borg-Wert: 13–16
    • Dauer: 20 min oder mehr pro Trainingseinheit

Krafttraining

  • Den ganzen Körper, d. h. möglichst viele Muskelgruppen, trainieren.
  • Empfehlung zur Trainingssteuerung
    • Intensität: 30 % der Maximalkraft („one repetition maximum“)
    • Umfang: 6–8 Übungen, 10–15 Wiederholungen
    • Verlauf: Steigerung auf 50–60 %
  • Effekte u. a.:
    • Stabilisieren des Bewegungsapparates
    • Kompensation der Abnahme der Muskelmasse mit fortschreitendem Alter
    • Verbesserung der Insulinempfindlichkeit
    • Verbesserung des Muskelmetabolismus

Koordinationstraining

Kombination der körperlichen Aktivität mit Ernährungsumstellung

  • Bei übergewichtigen/adipösen Patient*innen, die eine niedrigkalorische Diät beginnen, ist körperliche Aktivität wichtig, um einem Muskelverlust entgegenzuwirken.19
    • Hinsichtlich der Qualität des Gewichtsverlustes (Verhältnis zwischen Fettverlust und Verlust von Muskelgewebe) führt die Kombination aus Ernährungsumstellung und Bewegung zu signifikant besseren Ergebnissen als eine alleinige Diät.
  • Der Erhalt oder die Zunahme der Muskelmasse ist wichtig für das Ausmaß des Ruhestoffwechsels, auch wenn die Diät beendet ist.

Weitere Informationen

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • ESC-Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. 2021. www.escardio.org

Literatur

  1. Hallal et al. Global physical activity levels: surveillance progress, pitfalls, and prospects. Lancet 2012; 380: 247-257. pmid:22818937 PubMed
  2. WHO. The top ten causes of death. Fact sheet. Stand Mai 2018. Letzter Zugriff 27.08.2020. www.who.int
  3. Biswas A, Oh PI, Faulkner GE, et al. Sedentary Time and Its Association With Risk for Disease Incidence, Mortality, and Hospitalization in Adults: A Systematic Review and Meta-analysis. Ann Intern Med. 2015;162(2):123-132. doi:10.7326/M14-1651. DOI
  4. Hambrecht R et al. Percutaneous coronary angioplasty compared with exercise training in patients with stable coronary artery disease: a randomized trial. Circulation 2004; 109: 1371-1378. pmid:15007010 PubMed
  5. Jolliffe et al. Exercise-based rehabilitation for coronary heart disease (Cochrane Review). Cochrane Database Syst Rev 2001. pmid: 11279730 PubMed
  6. Stewart KJ. Exercise training and the cardiovascular consequences of type 2 diabetes and hypertension: plausible mechanisms for improving cardiovascular health. JAMA 2002; 288: 1622-1631. pmid:12350193 PubMed
  7. Taylor RS et al.. Exercise-based rehabilitation for patients with coronary heart disease: systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Am J Med 2004; 116: 682-692. pmid:15121495 PubMed
  8. Hambrecht R et al. Effect of exercise on coronary endothelial function in patients with coronary artery disease. N Engl J Med 2000; 342: 454-460. pmid:10675425 PubMed
  9. Knowler WC et al. Reduction in the incidence of type 2 diabetes with lifestyle intervention or metformin. N Engl J Med 2002; 346: 393-403. pmid:11832527 PubMed
  10. Tuomilehto J et al. Prevention of type 2 diabetes mellitus by changes in lifestyle among subjects with impaired glucose tolerance. N Engl J Med 2001; 344: 1343-1350. pmid:11333990 PubMed
  11. Callee EE et al. Overweight, obesity, and mortality from cancer in a prospectively studied cohort of U. S. adults. N Engl J Med 2003; 348: 1625-1638. pmid:12711737 PubMed
  12. Goodwin RD. Association between physical activity and mental disorders among adults in the United States. Prev Med 2003; 36: 698-703. pmid:12744913 PubMed
  13. Sanchez et al. Effectiveness of physical activity promotion interventions in primary care: A review of reviews. Preventive Medicine 2015; 76 Suppl: S56-67. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  14. Peterson DM. The benefits and risks of exercise. UpToDate, last updated Oct 5th, 2016 www.uptodate.com
  15. ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. 2021. www.escardio.org
  16. NICE: Physical activity: brief advice for adults in primary care, Stand 2013, Public health guideline. www.nice.org.uk
  17. Estabrooks PA, Glasgow RE, Dzewaltowski DA. Physical activity promotion through primary care. JAMA 2003; 289: 2913-2916. pmid:12799388 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  18. Fiore MC et al. Treating tobacco use and dependence: 2008 update. U.S. Department of Health and Human Services. www.ncbi.nlm.nih.gov
  19. Garrow JS, Summerbell CD. Meta-analysis: effect of exercise with or without dieting, on body composition of overweight subjects. Eur J Clin Nutr 1995; 49: 1 - 10. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Erika Baum, Prof. Dr. med., Professorin für Allgemeinmedizin, Biebertal (Review) 
  • Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München

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