Geflüchtete als Patient*innen

Allgemeine Informationen

Definition

  • Definition der Vereinten Nationen
    • Geflüchtete sind Personen, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen“.1
  • Wir verwenden generell den Begriff „Geflüchtete“; bzw. sofern der Aufenthaltsstatus relevant ist, „Asylbewerber“. Der Begriff „Flüchtlinge“ wird nur verwendet, wenn er in juristischen oder anderen Texten, die wir als Quelle verwenden, so vorkommt, z. B. „anerkannter Flüchtling“.

Häufigkeit

  • Ende 2022 waren weltweit laut dem Global Trends Report des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) 108,4 Mio. Menschen auf der Flucht.
    • Diese Zahl umfasst Geflüchtete, Asylsuchende, Binnenvertriebene und andere Menschen, die internationalen Schutz benötigen.
    • Die Zahl der Menschen auf der Flucht ist von Ende 2021 bis Ende 2022 um 21 % angestiegen, der höchste, jemals vom INHCR verzeichnete Anstieg.

Relevante Erkrankungen

Übertragbare Krankheiten

  • Grundsätzlich sind Geflüchtete durch dieselben Infektionskrankheiten gefährdet wie die einheimische Bevölkerung.
  • Ansteckung mit Infektionskrankheiten in den meisten Fällen im Land. Das heißt, Geflüchtete sind eher eine gefährdete Gruppe als eine Gruppe, von der für andere eine Gefahr ausgeht.
  • Besondere Vulnerabilität für Infektionskrankheiten durch schwierige Lebensbedingungen auf der Flucht, möglicherweise unvollständigen Impfschutz, Aufenthalt in Massenunterkünften:
  • Keine relevante Infektionsgefährdung der Allgemeinbevölkerung durch Asylsuchende
    • Bei Mitarbeiter*innen und ehrenamtlichen Helfer*innen in Einrichtungen und Unterkünften für Asylsuchende ist, wie generell bei engem Kontakt mit vielen Menschen, von einem etwas erhöhten Infektionsrisiko auszugehen.
    • Deswegen sollte bei Helfer*innen der Impfschutz sichergestellt werden (Standardimpfungen und Hepatitis AB, saisonale Influenza-Impfungen und Auffrischung gegen Polio).
  • Empfehlungen für Kinder
    • Ziele für die medizinische Versorgung von Geflüchteten im Kindes- und Jugendalter
      • Einen unvollständigen Impfschutz frühzeitig erkennen und rasch vervollständigen – zum individuellen Schutz und um Ausbreitungen von Infektionskrankheiten zu verhindern.
      • Die üblichen Infektionskrankheiten im Kindes- und Jugendalter, auch vor dem Hintergrund von Sammelunterkünften, Sprachbarrieren und unterschiedlichen kulturellen Auffassungen, diagnostizieren und behandeln.
      • In Europa seltenere Infektionskrankheiten (z. B. Tuberkulose, Malaria, Schistosomiasis, kutane Leishmaniose) frühzeitig erkennen und therapieren.

Psychische Erkrankungen

  • Infolge traumatischer Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht (Verlust von Angehörigen, Augenzeuge vom Tod anderer Flüchtender, Folter, Überfälle, sexuelle Übergriffe) ist das Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen, Depression, Angststörungen, chronische Schmerzen und somatoforme Störungen erhöht.
  • Die Prävalenzen für psychische Erkrankungen schwanken je nach Erhebung sehr stark, sind aber bei Asylsuchenden im Vergleich zur deutschen Bevölkerung um ein Vielfaches höher.
  • Besonders viele unbegleitete Minderjährige haben traumatische Ereignisse erlebt.

Andere nicht-übertragbare Krankheiten

  • Die Datenlage zu den Prävalenzen ist noch sehr unzureichend und hängt vom Herkunftsland ab.
  • Beispiel Ukraine
    • 91 % der Todesfälle sind in der Ukraine auf nicht-übertragbare Erkrankungen zurückzuführen (wie Krebs, Diabetes mellitus, Lungen-, Nieren- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen).
    • Die allgemeine Lebenserwartung liegt in der Ukraine bei 77 Jahren für Frauen und bei 68 Jahren für Männer.

Medizinische Versorgung von Geflüchteten

Standardisierte Erstaufnahmeuntersuchung

  • Erhebung demografischer Angaben
  • Impfausweiskontrolle
  • Anamneseerhebung
    • Beschwerden?
      • z. B. Schmerzen, Fieber, Husten, Erbrechen, Übelkeit, Durchfall, Bauchkrämpfe, Hautausschlag, Juckreiz
    • Bei Frauen: Schwangerschaft? Wenn ja, welche Schwangerschaftswoche? ggf. Angebot eines Schwangerschaftstests
  • allgemeine, orientierende körperliche Untersuchung, dabei mindestens:
    • Temperaturmessung (axillär, aurikulär)
    • Inspektion von Gesicht und Hals auf akute Exantheme (zur Erkennung akuter Masern- oder Varizelleninfektionen)
    • Inspektion der Hände (Interdigitalräume) auf Skabies-Befall
  • abhängig von der Anamnese Untersuchung weiterer Körperregionen, z. B.:
    • Inspektion der Kopfhaare auf Lausbefall oder Nissen
  • Untersuchung auf eine infektiöse Lungentuberkulose
    • Röntgen-Thorax für Asylsuchende ab einem Alter von 15 Jahren
    • bei Schwangeren primär immunologische Diagnostik bzw. bei Symptomen Sputumuntersuchung
    • bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren immundiagnostisches Tuberkulosescreening mittels Tuberkulin-Hauttest (THT) oder Interferon-gamma Release Assay (IGRA)

Impfempfehlungen für Geflüchtete

  • In Herkunftsländern ist der Zugang zu medizinischer Versorgung und Impfungen oft eingeschränkt.
  • Impfdokumente überprüfen. Nicht dokumentierte Impfungen gelten als nicht gegeben.
  • Asylsuchende sollen entsprechend den allgemeinen Empfehlungen geimpft werden.
  • Wenn eine Umsetzung der Empfehlungen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften aus organisatorischen Gründen (z. B. kurze Verweildauer) nicht möglich ist, soll eine Priorisierung der Impfungen erfolgen.

In der Hausarztpraxis

Vorbereitung

  • Für die erste Untersuchung sollten Sie sich ausreichend Zeit nehmen und sichere Rahmenbedingungen schaffen.
  • Da traumatisierte Patient*innen häufig nur schwer Vertrauen fassen, sollte die vertrauensbildende Arbeit Vorrang haben.
  • Dolmetscher*in
    • Häufig besteht Bedarf an Dolmetscher*innen. Wichtig ist, dass die Dolmetscher*innen alles übersetzen, was gesagt wird, und die Regeln und ethischen Richtlinien für Dolmetscherdienste beachten.
    • Siehe Hinweise zum Einsatz von Dolmetscher*innen
  • Interdisziplinäres Team
    • Die Behandlung und soziale Betreuung der Patient*innen erfordern häufig die Zusammenarbeit mehrerer Berufsgruppen (z. B. Sozialarbeiter*innen, Beratungsstellen).
    • Diese sollten so früh wie möglich einbezogen werden, um eine gute Koordination zu gewährleisten.

Beratungsanlässe

  • Daten aus einem deutschem Gesundheitsprogramm zur Versorgung Asylsuchender deuten darauf hin, dass sich Beratungsanlässe bei Asylsuchenden nicht wesentlich von denen in der Allgemeinbevölkerung unterscheiden.
    • Am häufigsten sind Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems, Erkrankungen der Atemwege und ärztliche Leistungen ohne Krankheitssymptome, z. B. Impfungen, Gesundheits- und Vorsorgeuntersuchungen. 
    • Häufig sind Schmerzsymptome (Kopfschmerz, Bauchschmerzen, Hals- und Brustschmerzen, Rückenschmerzen) akute Atemwegsinfektionen oder Virusinfektionen.
    • Infektiöse und parasitäre Erkrankungen machten 11 % aller Beratungsanlässe aus.
    • Die Anzahl von Patient*innen mit einer Diagnose aus dem Bereich psychische und Verhaltensstörungen lag in dieser Untersuchung unter der Rate in der Allgemeinbevölkerung, wobei vermutet wird, dass diese Diagnosen bei Asylsuchenden unterdiagnostiziert waren.
      • Hier gibt es auch Studienergebnisse aus anderen Stichproben, die darauf hindeuten, dass eine posttraumatische Belastungsstörung bei Asylsuchenden stark gehäuft auftritt.
      • Auch die Daten zu Depressivität sind widersprüchlich, teilweise werden hohe Prävalenzen berichtet.
    • Zahnkaries trat bei Asylsuchenden häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung.
  • Angst vor Abschiebung kann einen erheblichen Leidensdruck mit sich bringen.

Personen mit besonderem Schutz- und/oder Versorgungsbedarf

  • Frauen und (unbegleitete) Kinder
    • besonders gefährdet für sexualisierte Gewalt und Menschenhandel
  • Kinder und Jugendliche
    • besonders vulnerabel für
      • psychische Belastungen
      • Infektionserkrankungen
      • Versorgungsbedarfe durch Wachstum und Entwicklung, z. B. Orthopädie, Zahnmedizin
  • Schwangere
    • zeitnahe Information zu Schwangerenvorsorge, Früherkennung, Entbindungsmöglichkeiten, Anlaufstellen bei Schwangerschaftskomplikationen
  • Mütter mit Neugeborenen
    • Still- und Ernährungsberatung kann notwendig sein.
  • LGBTQ+-Personen
    • besonders vulnerabel für Diskriminierung, psychische und physische Gewalt
    • Transpersonen: Gesundheitsgefährdung evtl. durch fluchtbedingte Unterbrechung der Hormontherapie
  • Ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen oder gesundheitsbedingten Einschränkungen
    • evtl. spezifische Pflegebedarfe
    • Informationen für Angehörige und Begleitpersonen über Versorgungs- und Pflegeangebote
  • Menschen mit eingeschränktem Hör- und Sehvermögen und chronischen seltenen Erkrankungen
    • Expertise von Fachverbänden und Unterstützungsnetzwerken kann hilfreich sein.

Anamnese

  • Das Vorgehen unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem bei anderen Patient*innen, auf einige gesundheitliche Probleme sollte im hausärztlichen Setting aber besonders geachtet werden:
  • Laut kanadischen Leitlinien wird für Geflüchtete ein Screening auf Depression empfohlen, mit dem PHQ-92 oder, besser realisierbar, mit dem 2-Fragen-Test.
    • Von einem Screening auf posttraumatische Belastungsstörung wird zur Vermeidung einer Retraumatisierung ebenso abgeraten wie von einem Routine-Screening auf Gewalterfahrungen bei Kindern.2
  • Frauen im reproduktionsfähigen Alter sollen nach ihrem Bedarf für ein Verhütungsmittel gefragt werden.2

Untersuchung

  • Laut kanadischer Leitlinien soll bei Geflüchteten aus Regionen mit hohem Diabetesrisiko (Südasien, Lateinamerika, Afrika) die Nüchternglukose bestimmt werden.2 
  • Bei geflüchteten Frauen im reproduktionsfähigen Alter und bei Kindern zwischen 1 und 4 Jahren soll der Hämoglobinwert kontrolliert werden, um eine Eisenmangelanämie auszuschließen. 2
  • Alle Geflüchteten sollten nach Zahnschmerzen gefragt und auf das Vorliegen offensichtlicher kariöser Veränderungen untersucht werden.2 
  • Alle Geflüchteten sollen einen Sehtest erhalten.2 
  • Laut S1-Leitlinie ist bei allen minderjährigen Geflüchteten, sofern nicht in der Erstaufnahmeeinrichtung erfolgt, baldmöglich nach Ankunft ein Blutbild (Infektanämie? Leukozytose?) mit Differenzialblutbild (Eosinophilie?) als Basisdiagnostik empfohlen.
    • Nur bei Herkunft aus bestimmten Hochprävalenzgebieten sollten weitere routinemäßige Blutentnahmen empfohlen:
      • HIV1/2-Suchtest (Subsahara-Afrika, Osteuropa)
      • HBs-Antigen (alle minderjährigen Geflüchteten)
      • Hepatitis C (Afrika, Naher und Mittlerer Osten)
  • Grundsätzlich soll bei der körperlichen Untersuchung auf Folgen von Kriegsverletzungen und Spuren von Folter sowie auf das Vorliegen einer Sucht- oder anderen schwerwiegenden Erkrankung geachtet werden.

Dokumentation

  • Es wichtig, alle Symptome und Auffälligkeiten in der Krankenakte so zu dokumentieren, dass die Informationen als Grundlage für Atteste und Gutachten (in Verbindung mit Asylanträgen, Anträgen auf Sozialleistungen usw.) und in evtl. Gerichtsverfahren verwendet werden können.

Indikationen zur Überweisung

  • Eine Überweisung kann indiziert sein, z. B.:
    • psychiatrische Ambulanz, Psychiater*in/Psycholog*in
    • Zahnärzt*in (sichtbarer Karies, Untersuchung auf folterbedingte Zahnschäden)
    • Schwangerenvorsorge
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit z. B.: 
    • Sozialamt, Arbeitsamt, Gesundheitsamt, Jugendamt, Beratungsstellen

Einsatz von Dolmetscher*innen 

Voraussetzungen

  • Die Ärzt*innen tragen die Verantwortung dafür, dass die Patient*innen die Aufklärung zu ihrer Erkrankung verstanden haben und rechtssicher einwilligen können.
  • Vor Gericht wird auch das Dolmetschen durch Laien akzeptiert, wenn sich die Ärzt*innen vergewissert haben, dass eine adäquate Aufklärung gewährleistet ist.

Vorbereitung

  • Dolmetschen durch Laien kann nicht empfohlen werden.
    • Fehler durch Gefälligkeitsdolmetscher*innen aus dem Patientenumfeld sind zu vermeiden.
    • Durch Hinzuziehen von professionellen Dolmetscherdiensten wird die medizinische Versorgung nachweislich verbessert.
  • Dolmetscher*innen sollten mit der medizinischen Fachsprache in beiden Sprachen vertraut sein.
  • Falls Dolmetscher*innen lokal nicht verfügbar sind, kommen telefonische Anbieter oder Videodolmetschen infrage.
  • Dolmetscher*innen sollen besonders bei wichtigen, planbaren Gesprächen hinzugezogen werden:
    • Aufklärungsgespräche mit Einholen einer Einverständniserklärung
    • Einbeziehung in laufenden Behandlungsprozess
    • medizinische Begutachtungen
    • Herstellen eines Arbeitsbündnisses (Psychologie, Psychiatrie)
  • Die Dolmetscher*innen sollen vor dem Gespräch mitteilen, ob Besonderheiten, z. B. persönliche Bekanntschaft mit den Patient*innen oder politische oder religiöse Konflikte, bestehen.
  • Die Dolmetscher*innen müssen über die Einhaltung der Schweigepflicht informiert werden.

Während der Konsultation

  • Die Dolmetscher*innen sollen Redebeiträge unverändert weitergeben, auch unpassende, schambesetzte oder unlogische Aussagen.
  • Sie sollten in der ersten Person sprechen.
  • Zwischen Ärzt*in und Patient*in soll Blickkontakt bestehen, auch wenn die übersetzende Person spricht. Am leichtesten ist dies, wenn die Beteiligten in einem Dreieck sitzen.
  • Die Patient*innen sollten darum gebeten werden, sich kurz zu fassen, um das Dolmetschen zu erleichtern.

Quellen

Literatur

  1. United Nations High Commissioner for Refugees. UNHCR: the 1951 refugee convention. Accessed May 2, 2016. www.unhcr.org
  2. CMAJGroup. Evidence-based clinical guidelines for immigrants an refugees. CMAJ September 2011. 183 (12) E 824-E925. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autorin

  • Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München

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