Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution

Zusammfassung

  • Definition:Ausbeutung einer Person unter Ausnutzung ihrer Zwangslage, z. B. ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, sexuelle Ausbeutung, Ausbeutung strafbarer Handlungen, Sklaverei.
  • Häufigkeit:Keine zuverlässigen Daten, hohe Dunkelziffer. Besonders gefährdet sind Migrantinnen.
  • Symptome:Verängstigte oder eingeschüchterte Patient*innen, evtl. Hinweise auf Misshandlung, STD.
  • Befunde:Zu achten auf: Verletzungen, Hautausschlag, STD, ungewollte Schwangerschaft, Depressivität, Ängstlichkeit.
  • Therapie:Verweis an Fachberatungsstellen, Behandlung von Folgeerkrankungen, wie PTBS, Depression, STD, Infektionen.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Ausbeutung einer Person unter Ausnutzung ihrer Zwangslage. Dazu gehören:
    • ausbeuterische Arbeitsverhältnisse
    • sexuelle Ausbeutung (Zwangsprostitution)
    • Ausbeutung der Betteltätigkeit
    • Ausbeutung strafbarer Handlungen
    • erzwungene Organentnahme
  • Nach den Definitionen des „Palermo-Protokolls“ der Vereinten Nationen bezeichnet der Ausdruck „Menschenhandel“:
    • die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen
    • durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung
    • durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit
    • oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat
    • zum Zweck der Ausbeutung.
      • Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.
  • Eine ähnliche Definition enthält auch die EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels 2011/36/EU1 und der Europaratskonvention gegen Menschenhandel.

Häufigkeit

  • Zur Häufigkeit dieser Fragestellung in der Hausarztpraxis (oder bei Untersuchung in Aufnahmeeinrichtungen/bei Hilfsorganisationen) gibt es keine Zahlen.
    • vermutlich häufiger in Großstädten und in Praxen an sozialen Brennpunkten
  • Infolge der Eurostat-Statistiken der Europäischen Kommission waren im Jahr 2016 insgesamt 11.385 Personen in der EU als Opfer von Menschenhandel registriert.2
    • Davon waren 62 % Frauen, 17 % Mädchen, 16 % Männer und 3 % Jungen.
    • Auch die EU-Kommission geht von einer hohen Dunkelziffer aus.
  • Den Daten der Sachverständigengruppe des Europarats (GRETA) zufolge stieg die Zahl der Opfer von Menschenhandel in Europa von 2015 bis 2018 um 44 % an, von 10.598 auf 15.310.3

Ätiologie und Pathogenese

  • Migrant*innen sind besonders gefährdet, Opfer von Menschenhandel zu werden
  • Grundsätzliche Ursachen
    • schlechte wirtschaftliche, soziale und/oder politische Lage im Heimatland
    • Nachfrage in Europa nach sexuellen Dienstleistungen und Schwarzarbeit
  • Beispiele für Gründe, warum Menschen von Menschenhandel und Ausbeutung betroffen sind:
    • falsche Versprechungen über Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten
    • Unkenntnis über die eigenen Rechte
    • wirtschaftliche und/oder aufenthaltsrechtliche Notlage
    • Abhängigkeit von Arbeitgebern
    • Verantwortlichkeit für finanzielle Unterstützung der Familie im Herkunftsland
    • Isolation (fehlende soziale Netzwerke, unzureichende Sprachkenntnisse).
  • Strategien von Täter*innen
    • Entziehung der Ausweise und anderer Papiere
    • angebliche Schulden, die abgearbeitet werden müssen
    • Anwendung von Gewalt, Drohungen, Kontrolle (ständige Überwachung), Demütigung
    • unzumutbare Unterkünfte
    • Abgabe aller oder des größten Teils der Einnahmen
    • Isolation
    • falsche oder unverständliche Arbeitsverträge (in einer für Betroffene unverständlichen Sprache)
    • Drohung, die Familie über Prostitution zu informieren; Gewaltandrohung gegen Angehörige.
    • Gefügigmachen durch sexuelle oder körperliche Gewalttaten oder durch Verabreichung von Alkohol und Medikamenten
    • Erpressung durch Videoaufnahmen oder Fotos

Disponierende Faktoren

  • Schlechter Zugang zu Bildung, zu Gesundheitsversorgung, zum Arbeitsmarkt (im Herkunftsland)
  • Weitere Faktoren: LGBTQ-Status, Suchterkrankung, Wohnungslosigkeit oder unsichere Wohnsituation und frühkindliche Traumata oder Missbrauch4 
    • Das Risiko, Opfer von Menschenhandel zu werden, steigt mit der Zahl der Risikofaktoren.

ICD-10

  • Z65 Kontaktanlässe mit Bezug auf andere psychosoziale Umstände (inkl. Opfer von Verbrechen)
  • Z04.5 Untersuchung und Beobachtung nach durch eine Person zugefügter Verletzung (inkl. Untersuchung von Opfer nach angegebener Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch)
  • F43.0 Akute Belastungsreaktion 
  • F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung 
  • F43.2 Anpassungsstörung

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Zu den potenziellen Indikatoren für Menschenhandel gibt es einige Übersichtsarbeiten, aber wenig empirische Evidenz.5
  • Auffälligkeiten im Auftreten von Patientinnen und bei der Anamnesesituation, die auf das Vorliegen von Menschenhandel und/oder Zwangsprostitution hinweisen können:
    • Patientin kommt in (oft männlicher) Begleitung in die Praxis (oder zur Untersuchung in Aufnahmeeinrichtungen oder bei Hilfsorganisationen), darf nicht selbst und alleine mit der Ärztin/dem Arzt sprechen.
      • Begleiter/in (oft auch Ehemann) leitet die Anamnese oder mischt sich ein.
        • Hat die Kontrolle im Gespräch.
      • Patientin hat unzureichende Sprachkenntnisse, kann sich nicht selbst äußern. 
    • Patientin wirkt ängstlich und eingeschüchtert.
    • evtl. Zeichen körperlicher Misshandlung
    • evtl. Hinweis auf oder Bericht über unklare/sehr schlechte Wohnsituation
    • evtl. Hinweis auf Prostitution (STD, ungewollte Schwangerschaft).

Differenzialdiagnosen

  • Depression
  • PTBS nach traumatisierenden Erlebnissen im Heimatland
  • Wohnungslosigkeit

Anamnese

  • Jeder Beratungsanlass ist denkbar.
  • Manchmal gibt es Hinweise auf die Lebenssituation:

Vorgehen bei der Anamnese

  • Versuch der direkten und behutsamen Kommunikation mit der betroffenen Person
    • Vermeidung von Blickkontakt akzeptieren
    • offene Fragen, kein insistierendes Nachfragen
    • ggf. wiederholte Wiedervorstellungstermine vereinbaren. Wenn notwendig und möglich Dolmetscherdienst (ggf. Dolmetscherin) beauftragen.
  • Es gibt kein validiertes Screening-Instrument zur Identifizierung von Opfern von Menschenhandel.
  • Folgende Screeningfragen für die Anamnese wurden von einer Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit der University of Kansas vorgeschlagen (University of Kansas Human Trafficking Assessment Tool):4
    • Werden Sie von jemanden dazu gezwungen, etwas zu tun, das Sie nicht tun wollen?
    • Wurden Sie je zum Sex gezwungen, um Schulden abzuzahlen, oder aus einem anderen Grund?
    • Hält Sie jemand davon ab, zu kommen und zu gehen, wie Sie es möchten?
    • Bewahrt jemand Ihre Ausweisdokumente für Sie auf?
    • Wurden Sie über die Art der Arbeit, die Sie ausführen sollen, belogen?
    • Zwingt Sie jemand dazu, an Ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause zu bleiben?
    • Wurden Sie je mit Verschleppung oder Gefängnis bedroht für den Fall, dass Sie versuchen, sich von Ihrer jetzigen Situation zu entfernen?
  • Falls eine dieser Fragen mit „ja“ beantwortet wird, sollte zunächst abgeklärt werden, welche Form der Hilfe die Betroffenen primär benötigen und ob sie mit einer spezialisierten Beratungsstelle sprechen möchten.

Klinische Untersuchung

  • Bezogen auf den Beratungsanlass

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • In der Regel nicht indiziert

Indikationen zur Überweisung

  • Ggf. Überweisung an gynäkologische Praxis oder Beratungsstelle, insbesondere bei Fragestellungen zur Schwangerschaft, STD, Genitalverstümmelung.

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Es gibt einige Leitfäden und Empfehlungen zur medizinischen und psychologischen Versorgung Betroffener, aber kaum evidenzbasierte Handlungsanleitungen.5
    • Wichtig sind Expertise im Umgang mit traumatisierten Personen sowie Sensibilität für kulturelle Besonderheiten bei den Patient*innen.
    • Häufig ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Hilfseinrichtungen, Beratungsstellen, Psycholog*innen sowie Ärzt*innen anderer Fachrichtungen erforderlich.
  • Besteht der Hinweis, dass eine Person Opfer von Menschenhandel ist, soll sie, falls sie damit einverstanden ist, über Hilfsmöglichkeiten informiert und ggf. an eine Beratungsstelle verwiesen werden.

Ärztliche/medikamentöse Behandlung

Prävention

  • Zugang zu Bildung, Sprachunterricht für Migrant*innen
  • Auf Behördenseite: Erleichterung der Zugangs zu legalen Arbeitsverhältnissen
  • Information und Sensibilisierung von Mitarbeiter*innen in Behörden, Aufnahmeeinrichtungen, Hilfsorganisationen

Patienteninformationen

Quellen

Literatur

  1. Directive 2011/36/EU of the European Parliament and of the Council of 5 April 2011 on preventing and combating trafficking in human beings and protecting its victims, and replacing Council Framework Decision 2002/629/JHA eur-lex.europa.eu
  2. European Commission. Data collection on trafficking 2018 in human beings in the EU. Final report – 2018. Lancaster University. European Union. 2018. ec.europa.eu
  3. GRETA Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings. 9th General report on Greta’s activities. Covering the period from 1 January to 31 December 2019. Council of Europe, March 2020. rm.coe.int
  4. Schwarz C, Unruh E, Cronin K, Evans-Simpson S, Britton H, Ramaswamy M. Human Trafficking Identification and Service Provision in the Medical and Social Service Sectors. Health Hum Rights 2016; 18:181-192. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Hemmings S, Jakobowitz S, Abas M, et al. Responding to the health needs of survivors of human trafficking: a systematic review. BMC Health Serv Res 2016;16:320. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autorinnen

  • Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München
  • Monika Cissek-Evans, Leiterin JADWIGA, Fachberatungsstelle, München

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