Zusammenfassung
- Definition:Erkrankung des Innenohrs aufgrund endolymphatischen Hydrops.
- Häufigkeit:Ca. 50–250 pro 100.000 Einw.
- Symptome:Akute Attacken mit Drehschwindel von 20 min bis 12 h. Zusätzlich fluktuierende Hörstörung, Tinnitus und Druckgefühl im Ohr, meist unilateral.
- Befunde:Während Attacke Nystagmus und Hörstörung.
- Diagnostik:Nachweis des asymmetrischen Hörverlusts im Tonaudiogramm. MRT zum Ausschluss intrakranieller Neoplasien oder entzündlicher Veränderungen.
- Therapie:Akuttherapie mit Antiemetika. Anfallsprophylaxe mit Betahistin. Bei therapierefraktären Beschwerden intratympanale Injektion von Kortison. Ultima Ratio operative Entlastung des Hydrops.
Allgemeine Informationen
Definition
- Erstbeschreibung 1861 durch den französischen Arzt Prosper Menière
- Erkrankung des Innenohrs aufgrund eines endolymphatischen Hydrops
- Gekennzeichnet durch wiederkehrende Episoden der Symptomtrias, die über Minuten bis Stunden anhält:1
- zusätzlich oft Druckgefühl im Ohr
- Abgrenzung zur vestibulären Migräne nicht immer möglich, da sich die Erkrankungen überlappen.
Häufigkeit
- Prävalenz
- International etwa 50–250 pro 100.000 Einw.
- in europäischer und lateinamerikanischer Population am höchsten
- Geschlecht und Alter
- Frauen sind etwas häufiger als Männer betroffen.
- Häufigkeitsgipfel zwischen 40–60 Jahren
Ätiologie und Pathogenese
- Pathophysiologisches Korrelat der Erkrankung wahrscheinlich Hydrops der Endolymphe
- ursächlich vermutlich vermehrte Produktion/verminderte Resorption oder Abflusshindernis der Endolymphe im Innenohr
- Initial Störung des elektrophysiologischen Gleichgewichts und damit auch der Signaltransduktion im Bereich des Innenohres
- Mit Fortschreiten der Erkrankung irreversible morphologische Veränderungen und Schädigungen der Sinneszellen durch hohen Druck des „aufgeblähten" Endolymphraums,
Prädisponierende Faktoren
- Starke Assoziation mit Migräne
- Bis zu 50 % der Patient*innen leiden zusätzlich an Migräne oder Kopfschmerzen.
- Von einigen Autor*innen wird Morbus Menière als cochleovestibuläre Form der Migräne verstanden, die durch Dysregulation der cochleären Mikrozirkulation ausgelöst wird.
- Weibliches Geschlecht
- Vermutlich in einigen Fällen genetische Prädisposition2
- Ein mögliches verantwortliches Gen ist bislang nicht identifiziert.
- Stress und unerwartete Ereignisse erhöhen die Anfallsfrequenz und Symptomstärke.3
ICD-10
- H81.0 Menière-Krankheit
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Entsprechend der klinischen Präsentation wird die Diagnose eines „gesicherten“ oder „wahrscheinlichen“ Morbus Menière gestellt.
- International gültige Diagnosekriterien4
- gesicherte Diagnose
- mindestens 2 Drehschwindelanfälle mit Dauer von 20 min bis 12 h
- Einseitiger neurosensorischer Hörverlust im tiefen und mittleren Frequenzbereich in mindestens einem Tonaudiogramm, das während oder nach Anfall erstellt wurde.
- fluktuierende otologische Symptome (Hörverlust, Tinnitus, Druckgefühl) im betroffenen Ohr
- Es gibt keine andere Diagnose, die die Symptome erklären könnte.
- wahrscheinliche Diagnose
- mindestens 2 Drehschwindelanfälle mit Dauer von 20 min bis 24 h
- fluktuierende otologische Symptome (Hörverlust, Tinnitus, Druckgefühl) im betroffenen Ohr
- Es gibt keine andere Diagnose, die die Symptome erklären könnte.
- gesicherte Diagnose
Differenzialdiagnosen
- Neurologische Ursachen
- (vestibuläre) Migräne
- Schlaganfall, insbesondere vertebrobasiliär
- benigner Lagerungsschwindel
- vestibuläre Neuritis
- Autoimmunbedingte Ursachen, z. B. multiple Sklerose
- Infektiöse Ursachen
- Neoplasien
- Vestibularis-Schwannom (Akustikusneurinom)
- Meningeom
- Tumoren des Saccus endolymphaticus
- Anatomisch
- perilymphatische Fistel
- Sonstiges
Anamnese
- Leitsymptom anfallsartiger Drehschwindel, der mit schwankendem, häufig fortschreitendem Hörverlust und meist tiefklingendem Ohrgeräusch (Tinnitus) einhergeht.
- Typische Attacke: mindestens 20-minütig bis stundenlang schwerer Drehschwindel mit starkem Erbrechen
- Kürzere und längere Anfälle haben wahrscheinlich andere Ursachen.
- Ein Hörverlust kann vor, während oder nach der Attacke auftreten und im Verlauf ausgeprägte Fluktuation zeigen.
Klinische Untersuchung
- Während der Attacke tritt Nystagmus auf.
- Schwankende Hörstörungen, ggf. bei orientierendem Hörtest Seitendifferenzen feststellbar
- Ansonsten meist klinisch unauffälliger Befund
- Funktionsdiagnostik von Hör- und Gleichgewichtsorgan bei Spezialist*in erforderlich
Klinische Untersuchung bei Schwindel generell
- Falls Schwindel mit unklarer Ursache besteht, empfiehlt die DEGAM die folgenden Untersuchungen, von denen oft nur ein Teil notwendig ist.
- Allgemeiner Status
- Blässe (Konjunktiven)
- Angst/Beunruhigung
- Bewegung der Patient*innen (halten sie sich fest?)
- Darstellung der Symptomatik (dramatisierend: psychogene Ursachen) Medikamentenanamnese und mögl. Einflüsse
- Intoxikationen
- Kreislauf
- Blutdruck (ggf. Schellong-Test)
- Herzauskultation
- ggf. Karotis-Druck-Versuch unter EKG-Monitoring durch Geübte
- ggf. Pulsstatus bei Armheben (Subclavian Steal Syndrom)
- HWS
- Myogelosen
- zervikaler Schwindel
- Neurologische Untersuchung
- Reflexstatus, Sensibilität an Beinen (plus Stimmgabel)
- Vorhalteversuch (Ausschluss latenter Paresen)
- Romberg-Stehversuch/Unterberger-Tretversuch (zerebellär, spinal, vestibulär)
- Diadochokinese (zerebellär)
- Finger-Nase- und Knie-Hacken-Versuch (zerebral, zerebellär)
- HNO-Untersuchung
- Nystagmusprüfung: Spontannystagmus-Hinweis auf vestibuläre Störung
- Einstell-Nystagmus bei extremer Blickeinstellung: wenn erschöpflich, dann physiologisch; ansonsten Hinweis auf vestibuläre Störung
- Blickrichtungsnystagmus: sakkadierende Bewegung, Hinweis auf zerebelläre Störung
- schneller Kopfdrehtest/Kopfimpulstest (horizontal) als Auslöser für Schwindel/Nystagmus: Neuritis vestibularis sowie Vestibulopathien
- Lagerungsversuch nach Dix-Hallpike bei Lagerungsschwindel
- Hörprüfung bei Vorliegen von Hinweisen auf vestibuläre Störung
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Tonaudiogramm zum Nachweis einer einseitigen Schallempfindungsstörung der tiefen und mittleren Frequenzen
- Hörvermögen fluktuierend, deswegen möglichst während oder zeitnah eines Anfalls
- MRT
- Bei asymmetrische Hörminderung MRT des Felsenbeins und Kleinhirnbrückenwinkels zum Ausschluss eines Vestibularis-Schwannoms oder anderer Erkrankungen der Hörbahn
- Untersuchung der Bogengänge (u. a. thermische und rotatorische Prüfung) und Otolithen (neurophysiologische Prüfung mittels „vestibulär evoziertem myogenem Potenzial“)
Indikationen zur Überweisung
- Bei V. a. M. Menière in der Regel Überweisung an Spezialist*in (HNO)
Checkliste zur Überweisung
Morbus Menière
- Zweck der Überweisung
- Diagnostik? Therapie? Sonstiges?
- Anamnese
- Seit wann besteht die Erkrankung? Entwicklung? Häufigkeit der Anfälle? Betroffene Seite(n)?
- Anfallsartiger Schwindel? Anhaltender Schwindel? Hörverlust? Tinnitus?
- Andere relevante Krankheiten? Familiäre Disposition?
- Regelmäßig einzunehmende Medikamente?
- Konsequenzen: Arbeit, soziales Umfeld, Isolation?
- Klinische Untersuchung
- Ggf. Beobachtung während der Anfälle: Nystagmus?
- Hörtest
- Ergänzende Untersuchungen
- Audiometrie
- MRT
Therapie
Therapieziele
- Symptome lindern
- Neuen Anfälle vorbeugen
Allgemeines zur Therapie
- Therapeutisches Stufenschema von allgemeinen aufklärenden Maßnahmen über medikamentöse Therapie bis hin zu operativen Maßnahmen
Aufklärung
- Ausreichendes Wissen der Patient*innen über präventive Maßnahmen, Symptome, Akutmaßnahmen im Anfallsgeschehen und längerfristige Therapieoptionen fördert die Selbstständigkeit und Krankheitsbewältigung.
Optimierung anfallsauslösender Faktoren
- Interindividuell bestehen verschiedene anfallsauslösende Faktoren, die aufgespürt und optimiert werden sollten.
- Beispielsweise:
- Stressfaktoren
- Koffein-, Alkohol-, Tabak- und Salzkonsum
- obstruktives Schlafapnoe-Syndro
Medikamentöse Therapie
Akuttherapie
- Während des Anfalls können Antiemetika symptomlindernd wirken.
Anfallsprophylaxe
- Mittel der Wahl: Betahistin
- Wirkmechanismus: H1-Rezeptor-Agonist, genauer Wirkmechanismus unklar
- Dosierung
- laut Fachinfo 3 x am Tag jeweils 6–12 mg (insgesamt 18–36 mg)
- im klinischen Alltag meist 3 x 24–48 mg, im Einzelfall noch höher
- Wirkung
- In der Literatur sind positive Auswirkungen auf die Anfallshäufigkeit beschrieben.
- in einer Cochrane-Metaanalyse (2018) geringe Evidenz für Reduktion der Schwindel-Symptomatik bei niedrigem Risiko für Nebenwirkungen5
- Alternativen zur Anfallsprophylaxe: Diuretika zur Reduktion des Endolymph-Hydrops
- Einsatz vor allem in den USA, weil Betahistin dort nicht verfügbar ist.
Minimalinvasive medikamentöse Therapie
- Intratympanale Kortisoninjektion
- Injektion kann ambulant in Lokalanästhesie erfolgen.
- Verminderung der Schwindelanfälle um 90 % innerhalb der ersten 6 Monaten nach Steroidinjektion6
- Wirksamkeit ähnlich hoch wie Gentamicin, jedoch ohne Innenohrtoxizität7
- Intratympanale Aminoglykosidinjektion
- Gentamicininjektion ist vergleichbar erfolgreich wie Kortison, allerdings wegen der Innenohrtoxizität deutlich in Hintergrund getreten.7
Operative Therapie
Operation
- Nach Ausschöpfen der medikamentösen Therapiemaßnahmen und hohem Leidensdruck operative Maßnahmen erwägen.
- Funktionserhaltende Eingriffe
- Druckverminderung im Bereich des Endolympheraums durch Dekompression, Schlitzung (klassische Saccotomie) oder Schlitzung mit Einlage einer Drainage am Saccus endolymphaticus
- Dekomprimierende Maßnahmen mit Erfolgsrate von etwa 80 % (bezogen auf Reduktion des Schwindels) und niedrigem Risiko für Komplikationen wie Gehörverlust8
- Ablative Eingriffe
- Ablative Eingriffe heilen den Schwindel durch Zerstörung des Vestibularorgans auf der betroffenen Seite, jedoch besteht ein hohes Risiko für eine Schädigung der Chochlea.8
- kein Einsatz bei Patient*innen mit erhaltener Hörfunktion
- heutzutage nur noch selten durchgeführt
- z. B. vestibuläre Neurektomie oder Labyrinthektomie
- Ablative Eingriffe heilen den Schwindel durch Zerstörung des Vestibularorgans auf der betroffenen Seite, jedoch besteht ein hohes Risiko für eine Schädigung der Chochlea.8
Rehabilitation des Hörverlusts
- Hörgeräteversorgung
- mit oder ohne Tinnitusmasker zur Reduktion der störenden Hörgeräusche
- Cochlea-Implantat9
- Verbessert nachweislich Gehör und Funktion bei Patient*innen mit fortgeschrittenem Morbus Menière.
Teilnahme am Straßenverkehr
- Patient*innen darüber informieren, dass sie während der Schwindelattacken nicht aktiv am Straßenverkehr teilnehmen dürfen, also keine Fahreignung besteht.
- Fahreignung nur gegeben, wenn Schwindelattacken längerfristig kontrolliert sind oder sich durch deutliche Prodromi rechtzeitig ankündigen.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Der Verlauf ist interindividuell sehr verschieden.
- Bei einigen Patient*innen bleibt die Krankheitsschwere im Zeitverlauf progredient, bei anderen kommt es zu Spontanremission.
- Die Symptome treten in kaum vorhersagbaren Zeitintervallen auf.
Komplikationen
- Durch den erhöhten Druck des Endolymphraums sind irreversible Schädigungen der Sinneszellen und Strukturen des Innenohrs möglich.,
- Schwerhörigkeit bis Taubheit auf dem betroffenen Ohr
- dauerhafter Tinnitus
- Erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen, insbesondere Depression, im Vergleich zu der gesunden Bevölkerung10
Prognose
- Bei ca. 50 % der Patient*innen innerhalb von 2 Jahren Spontanremission, bei mehr als 70 % nach 8 Jahren11
- Bei frühzeitiger Diagnose stehen, abhängig von der Krankheitsschwere, unterschiedliche Therapiemaßnahmen zur Verfügung, mit der in der Regel gute Ergebnisse erzielt werden können.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Sajjadi H, Paparella MM. Meniere's disease. Lancet 2008; 372: 406-14. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Klockars T, Kentala E. Inheritance of Meniere's disease in the Finnish population. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 2007; 133:73-7. PMID: 17224529 PubMed
- Yeo NL, White MP, Ronan N, et al. Stress and Unusual Events Exacerbate Symptoms in Menière's Disease: A Longitudinal Study. Otol Neurotol 2018; 39(1): 73-81. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
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- Murdin L, Hussain K, Schilder AGM. Betahistine for symptoms of vertigo. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016. Issue 6. Art. No.: CD010696. DOI 10.1002/14651858. CD010696.pub". www.cochranelibrary.com
- Patel M, Agarwal K, Arshad Q, et al. Intratympanic methylprednisolone versus gentamicin in patients with unilateral Meniere`s disease: a randomised, double-blind, comparative effectiveness trial. Lancet 2016; 388(10061): 2753-2762. pmid:27865535 PubMed
- Harcourt JP, Lambert A, Wong PY, et al. Long-Term Follow-Up of Intratympanic Methylprednisolone Versus Gentamicin in Patients With Unilateral Menière's Disease. Otol Neurotol 2019; 40(4): 491-6. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Bahmad F. Meniere's Disease. IntechOpen, 2020. www.intechopen.com
- Fife TA, Lewis MP, May JS, Oliver ER. Cochlear Implantation in Ménière's Disease. JAMA Otolaryngol Head Neck Surg 2014; 140: 535-9. doi: 10.1001/jamaoto.2014.550. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Tyrrell J, White MP, Barrett G, et al. Mental Health and Subjective Well-being of Individuals With Ménière's: Cross-sectional Analysis in the UK Biobank. Otol Neurotol 2015; 36(5): 854-61. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Minor LB, Schessel DA, Carey JP. Ménière's disease. Curr Opin Neurol. 2004; 17):9-16. PMID: 15090872 PubMed
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt