Allgemeine Informationen
Definition
- Erythromelalgie (EM) ist eine seltene Erkrankung, Bezeichnung abgeleitet aus dem Altgriechischen: erythros (rot), melos (Glied), algos (Schmerz)1
- Klinisch charakterisiert durch Symptomtrias im Bereich der Extremitäten:2-3
- brennender Schmerz
- Überwärmung
- Rötung
- Anfallsartiges Auftreten, Auslösung durch:
- Wärme
- mechanischen Druck (Laufen, langes Stehen)
- Die unteren Extremitäten sind häufiger betroffen als die.4
- In ca. 75 % der Fälle sind isoliert die unteren Extremitäten betroffen.
- Am häufigsten sind Füße und Zehen betroffen.4
- Auftreten überwiegend bilateral, aber nicht immer symmetrisch4
- unilaterales Auftreten eher bei sekundärer EM
- Erythromelalgie wird auch zu den peripheren, schmerzhaften Polyneuropathien gezählt.
Häufigkeit
- Seltene Erkrankung
- Jährliche Inzidenz ca. 0,4–2/100.0003,5
- Vorkommen in allen Altergruppen, Unterscheidung zwischen „Early Onset“ (Kindesalter/Adoleszenz) und „Adult Onset“
- Unterschiedliche Angaben zur Geschlechtsverteilung3,5
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Primäre Formen
- genetisch bedingt
- Ausgelöst durch Mutationen im SCN9A-Gen, kodiert Protein eines Natriumkanals.6
- Funktionssteigerung des Kanals mit Übererregbarkeit schmerzsignalisierender Neuronen
- bei familiären Formen autosomal-dominant vererbt
- gilt als Modellerkrankung für neuropathische Schmerzen
- idiopathisch
- keine genetische oder sonstige erkennbare Ursache
- häufigste primäre Form
- genetisch bedingt
- Sekundäre Formen
- machen bei Erwachsenen ca. 40 % der Fälle aus
- Auftreten bei folgenden Erkrankungen:3-4
- myeloproliferative Erkrankungen (am häufigsten)
- systemischer Lupus erythematodes
- rheumatoide Arthritis
- Diabetes mellitus
- Gicht
- paraneoplastisch
- Infektionen (z. B. HIV, CMV)
- Toxine (z. B. Quecksilber, Pilzgifte)
- Medikamente (Bromocriptin, Ca-Antagonisten u. a.)
- Auftreten auch nach Extremitätentrauma und postoperativ
Pathogenese
- Komplexe pathogenetische Mechanismen mit neuralen und vaskulären Dysfunktionen7
- neurale Veränderungen7
- erhöhte neuronale Erregbarkeit
- adrenerge Dysfunktion
- distale Neuropathie kleiner Nervenfasern8
- postganglionäre sympathische Dysfunktion
- vaskuläre Veränderungen7
- Störungen der Mikrozirkulation durch präkapilläre arteriovenöse Shunts
- unter Belastung/Wärme Öffnung der Shunts
- hierdurch Verschlechterung des kapillären Flusses mit Hypoxie und Gewebeschmerz
- mikrokapilläre Thrombosen bei myeloproliferativen Erkrankungen
- Interaktion zwischen neuralen und vaskulären Mechanismen mit evtl. gegenseitiger Verstärkung7
- neurale Veränderungen7
Prädisponierende Faktoren
- Hohe Umgebungstemperatur
- Körperliche Aktivität
ICD-10
- I73.8 Sonstige näher bezeichnete periphere Gefäßkrankheiten
- Schließt Erythromelalgie ein.
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinische Diagnose mit typischer Trias:
- Rötung
- brennender Schmerz
- Überwärmung
- Lokalisation: 80 % untere Extremität, 25 % obere Extremitäten, seltener Gesicht, Ohren oder Zunge7
- Intermittierendes Auftreten, Dauer der Episoden: Minuten bis Tage, häufig einige Stunden1,7
- Auslösung durch:
- Wärme
- körperliche Aktivität
- Sitzen/herabhängende Beine
- Besserung der Symptome durch:
- Kühlung
- Hochlagerung
Differenzialdiagnosen
- Periphere Neuropathie
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit
- Raynaud-Syndrom: Komorbidität bei einem Teil der Patient*innen mit Erythromelalgie
- Akrozyanose (periphere Zyanose): Akrozyanose kann gemeinsam mit Erythromelalgie auftreten.
- Erysipel oder Phlegmone
- Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)
- Morbus Fabry
Anamnese
- Fragenkatalog bei V. a. Erythromelalgie7
- Datum der ersten Attacken
- Familiengeschichte
- Häufigkeit der Attacken
- Zusammenhang mit Triggern: Wärme (ungefähre Triggertemperatur?), körperliche Aktivität
- Dauer und Charakteristik der Episoden
- Besserung durch Kälte
- Veränderungen der Hautfarbe abhängig von der Position
- aktuelle Medikation
- Rauchen, Alkohol, Drogen
- berufliche Anamnese, sportliche Aktivität
- Grunderkrankungen, die mit Erythromelagie assoziiert sein können:
- myeloproliferative Erkrankungen
- systemischer Lupus erythematodes
- rheumatoide Arthritis
- Diabetes mellitus
- Gicht
- Malignome
- Infektionen (z. B. HIV, CMV)
- Medikamente (Bromocriptin, Ca-Antagonisten u. a.)
- Toxine
Klinische Untersuchung
- Im Anfall: Rötung der Haut, Überwärmung
- Häufig, aber nicht immer, bilateral-symmetrische Ausprägung
- Häufig distale Anhidrose/Hypohidrose7
- Evtl. Hautschäden durch häufige Kälteapplikation1
- Periphere Pulse normal
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Labor: Differenzialblutbild zum Ausschluss/Nachweis einer myeloproliferativen Erkrankung
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Primär klinische Diagnose, weiterführende Diagnostik nur im Einzelfall
- Nach Ausschluss von Grunderkrankungen, die eine sekundäre EM verursachen können, evtl. humangenetische Untersuchung zum Nachweis oder Ausschluss einer primären EM
- Neurologische elektrophysiologische Untersuchung7
- Ausschluss peripherer Neuropathien anderer Ätiologien
- Thermografie
- Temperaturerhöhung betroffener Areale
- Hautbiopsie nicht spezifisch für Erythromyalgie
Indikationen zur Überweisung
- Bei Unsicherheit bzgl. der Diagnose
- Bei Verdacht oder Hinweisen auf eine sekundäre Erythromelalgie zur weiteren Abklärung/Behandlung einer Grunderkrankung
- Bei starken Beschwerden Überweisung an ein interdisziplinäres Schmerzzentrum
Therapie
Therapieziel
- Beschwerden lindern.
Allgemeines zur Therapie
- Es gibt wenig wissenschaftliche Evidenz zur Therapie, die Empfehlungen stützen sich auf kleine retrospektive Analysen und Expertenmeinung.
- Allgemeinmaßnahmen zur Vermeidung/Linderung von Anfällen
- Evtl. Ergänzung durch topische oder systemische medikamentöse Behandlungsversuche
- Diverse Therapien wurden beschrieben ohne klaren Nachweis einer effektiven medikamentösen Behandlungsstrategie.9
Allgemeinmaßnahmen
- Vermeidung von:
- Wärme
- langem Sitzen/Stehen
- starker körperlicher Belastung
- Im Anfall
- Die betroffenen Regionen kühlen.
- kühlende Umschläge (aggressive Kühlung vermeiden, z. B. mit Eis/Eiswasser direkt auf die Haut)
- Barfußlaufen auf kühlenden Bodenfließen
- Extremitäten hochlagern.
- Die betroffenen Regionen kühlen.
Medikamentöse Therapie
- Eine definitive medikamentöse Therapie ist nicht bekannt!
- Verschiedene topische und systemische Therapiemöglichkeiten7,10-14
- topische Therapie
- Amitryptilin/Ketamin-Gel
- Midodrin 0,2 % (Alpha1-Antagonist)
- Lidocain-Pflaster
- Capsaicin-Pflaster
- systemische Therapie
- ASS bei myeloproliferativen Erkrankungen
- Gabapentin
- Pregabalin
- Amitryptilin
- Mexiletin
- Oxacarbazepin
- Misoprostol
- Ca-Antagonisten
- Flecainid
- Magnesium
- Kortikosteroide
- Prostaglandine
Weitere Therapien
- Sympathektomie: Sowohl Besserung als auch Verschlechterung der Beschwerden werden beschrieben.9
- Kann bei Versagen anderer Therapieoptionen erwogen werden.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Komplikationen häufig durch Kälteapplikation mit Hautschäden:
- Mazeration
- Ulzerationen
- Infektion/Gangrän/Sepsis
- Amputation.
- Schlaf- und Appetitstörungen7
- Angststörungen, Depression7
Verlauf und Prognose
- Im Verlauf sind Besserung, Verschlechterung oder stabiler Verlauf möglich.3,7
- Es gibt widersprüchliche Daten, ob die Erkrankung mit einer erhöhten Mortalität verbunden ist.4
- Verminderte soziale und körperliche Aktivität
- Deutliche Minderung der Lebensqualität bis hin zur Invalidisierung1
Verlaufskontrolle in der Hausarztpraxis
- Hautstatus, insbesondere hinsichtlich Läsionen bzw. manifesten Infektionen
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Über allgemeine Maßnahmen zur Linderung der Beschwerden
- Über die Möglichkeiten des Krankheitsverlaufs und die realistische Einschätzung der Therapiemöglichkeiten
Quellen
Literatur
- Tang Z, Chen Z, Tang B. Primary erythromelalgia: a review. Orphanet Journal of Rare Diseases 2015; 10: 127. doi:10.1186/s13023-015-0347-1 DOI
- Davis MD, O'Fallon WM, Rogers RS, et al. Natural history of erythromelalgia: presentation and outcome in 168 patients. Arch Dermatol 2000; 136: 330-6. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Kalgaard O, Seem E, Kvernebo K. Erythromelalgia: a clinical study of 87 cases. J Intern Med 1997; 242: 191-197. pmid:9350163 PubMed
- Saliba A. Erythromelalgia. Medscape, updated Nov 04, 2020. Zugriff 18.12.20. emedicine.medscape.com
- Alhadad A, Wollmer P, Svensson A, et al. Erythromelalgia: Incidence and clinical experience in a single centre in Sweden. Vasa 2012; 41: 43-48. doi:10.1024/0301-1526/a000162 DOI
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- Leroux M. Erythromelalgia: a cutaneous manifestation of neuropathy? An Bras Dermatol 2018; 93: 86-94. doi:10.1590/abd1806-4841.20187535 DOI
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- Davis M, Morr C, Warndahl R, et al. Topically Applied Midodrine, 0.2%, an α1-Agonist, for the Treatment of Erythromelalgia. JAMA Dermatology 2015; 151: 1025-1026. doi:10.1001/jamadermatol.2015.0511 DOI
- Mork C, Salerud E, Asker C, et al. The Prostaglandin E1 Analog Misoprostol Reduces Symptoms and Microvascular Arteriovenous Shunting in Erythromelalgia— A Double-Blind, Crossover, Placebo-Compared Study.. J Invest Dermatol 2004; 122: 587-593. doi:10.1111/j.0022-202X.2004.22339.x DOI
- Gales A, Chaaban B, Husson H, et al. Lidocaine-medicated plaster for treating acute autonomic and sensory neuropathy with erythromelalgia-like presentations. Rev Neurol 2016; 172: 399-400. doi:10.1016/j.neurol.2016.03.004 DOI
- Poterucha T, Weiss W, Warndahl R, et al. Topical amitriptyline combined with ketamine for the treatment of erythromelalgia: a retrospective study of 36 patients at Mayo Clinic. J Drugs Dermatol 2013; 12: 308-10. pmid:23545913 PubMed
- Spivak J. Myeloproliferative Neoplasms. N Engl J Med 2017; 376: 2168-2181. doi:10.1056/NEJMra1406186 DOI
Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.