Zervikalarteriendissektion

Zusammenfassung

  • Definition:Dissektionen der Halsarterien (Karotiden, Vertebralarterien) entstehen durch Hämatombildung in der Gefäßwand, Auftreten meist spontan oder assoziiert mit Bagatelltraumen.
  • Häufigkeit:Jährliche Inzidenz für die A. carotis ca. 2–3/100.000, für die A. vertebralis ca. 1–1.5/100.000. Vorwiegend jüngere Patient*innen betroffen, Altersgipfel zwischen 40. und 50. Lebensjahr.
  • Symptome:Erstes Symptom sind meistens Hals-, Nacken-, Gesichts- oder Kopfschmerzen. Im weiteren Verlauf evtl. neurologische Defizite mit Symptomen einer zerebralen Ischämie, Horner-Syndrom, kaudalen Hirnnervenausfällen.
  • Befunde:Unauffälliger Untersuchungsbefund bei erhaltener Perfusion, ansonsten neurologische Defizite entsprechend der betroffenen Areale.
  • Diagnostik:Sicherung der Diagnose durch Bildgebungsverfahren (MR-Angiografie, CT-Angiografie, Farbduplex-Sonografie).
  • Therapie:Bei Schlaganfall Thrombolyse. Sekundärprophylaxe mit Thrombozytenaggregationshemmung oder Antikoagulation. Im Falle einer Restitutio ad integrum des betroffenen Gefäßes ohne Schlaganfall keine medikamentöse Dauertherapie notwendig.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Dissektionen der Halsarterien entstehen durch Hämatombildung in der Gefäßwand
  • Auftreten meist spontan oder assoziiert mit Bagatelltraumen
  • Hämatombildung wahrscheinlich durch Ruptur der kleinen, die Gefäßwand versorgenden Vasa vasorum verursacht, Ausbreitung meistens in der Tunica media ohne Intimaverletzung1

Häufigkeit

  • Jährliche Inzidenz spontaner Dissektionen für die A. carotis ca. 2–3/100.000, für die A. vertebralis ca. 1–1.5/100.0002
  • Tatsächliche Häufigkeit vermutlich höher, da
    • nicht jede Dissektion Symptome verursacht.
    • bei geringen oder unspezifischen Beschwerden (z. B. halbseitige Kopf-/Halsschmerzen) die Diagnose nicht gestellt wird.
  • Vorwiegend jüngere Patient*innen betroffen, Altersgipfel zwischen 40. und 50. Lebensjahr
    • In einer Studie waren nur 7 % der Betroffenen älter als 60 Jahre.3
  • Dissektionen sind insgesamt seltene Schlaganfall-Ursachen (ca. 2 %), bei Patient*innen < 45 Jahre aber häufigste Ursache mit bis zu 25 %.
  • Verhältnis Männer zu Frauen ca. 1,5:1
  • In 5–10 % der Fälle beidseitige oder multiple Dissektionen

Ätiologie und Pathogenese

  • Mechanismen für spontane Dissektionen der hirnversorgenden Arterien sind noch nicht vollständig geklärt.
  • Vermutlich multifaktorielles Geschehen auf dem Boden einer vorbestehenden strukturellen oder entzündlichen Erkrankung der Gefäße
  • Ein Zusammenspiel von prädisponierenden und Triggerfaktoren ist für die Auslösung einer Dissektion erforderlich.  
  • Ausgangspunkt der Dissektion ist eine Hämatombildung in der Gefäßwand, wahrscheinlich durch Ruptur der Vasa vasorum, mit anschließender Ausbreitung entlang des Gefäßverlaufs.
  • Die extrakranielle A. carotis und die Vertebralarterien sind aufgrund ihrer Mobilität sowie ihrer Nähe zu knöchernen Strukturen am häufigsten von Dissektionen betroffen.
  • Prädilektionsstellen sind für die A. carotis interna der Eintrittsbereich in die Schädelbasis und für die A. vertebralis die Atlasschlinge.
    • bei Vertebralisdissektion häufiger vorangegangene Bagatelltraumen als bei Karotisdissektion4
    • bilaterale Veränderungen häufiger bei Vertebralisdissektion als bei Karotisdissektion5
  • Mögliche Folgen des Gefäßwandhämatoms sind:
    • Kompression des Gefäßlumens mit Flussminderung bis hin zum Verschluss
    • Thrombusbildung aufgrund der gestörten Zirkulation mit arterioarterieller Embolie
  • Klinisch äußert sich die Dissektion letztlich als:
    • akutes Schmerzsyndrom
      • im lateralen Halsdreieck und zervikal bei Karotisdissektion (Karotidodynie), evtl. mit Ausstrahlung in Gesicht, Ohr oder Augen
      • nuchal bei Vertebralisdissektion
    • lokales Kompressionssyndrom (kaudale Hirnnervenparesen, Horner-Syndrom)
    • Schlaganfall

Prädisponierende Faktoren

  • Prädisponierende Faktoren und mögliche Auslöser6-10
  • Bindegewebserkrankungen
  • Traumen
    • Minitraumen durch plötzliche Kopfbewegungen, Hyperextensionen etc. im Rahmen täglicher Verrichtungen, beim Sport, bei der Arbeit
    • chiropraktische Manöver
    • Schwere Traumen sind nur für einen kleinen Teil der Dissektionen verantwortlich.
  • Vorangegangene Infektionen
    • saisonale Häufung im Herbst und Winter
  • Migräne
  • Erhöhter Homozysteinspiegel
  • Genetische Varianten verschiedener Gene (Proteine ICAM1, COL3A1, MTHFR)

ICD-10

  • I72.0 Aneurysma und Dissektion der A. carotis
  • I72.5 Aneurysma und Dissektion sonstiger präzerebraler Arterien

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Klinische Leitsymptome
    • Schmerzen (Nacken, Hals, Gesicht, Kopf), Hirnnervenausfälle, Schlaganfall
  • Bildgebung
    • Nachweis der Dissektion durch MR-Angiografie, CT-Angiografie oder Sonografie

Differenzialdiagnosen

Anamnese und klinische Untersuchung

  • Beginn zumeist mit akuten Schmerzen, diese können weiteren neurologischen Symptomen Stunden oder Tage vorausgehen.
    • Karotisdissektion
      • seitliche Halsschmerzen ipsilateral (Karotidodynie)
      • evtl. Ausstrahlung in Gesicht, Augen, Ohren, Kopf
    • Verebralisdissektion
  • Horner-Syndrom (Ptosis, Myosis, Enophtalmus) durch Schädigung sympathischer Fasern
  • Symptome und Befunde von Hirnnervenausfällen
    • vorwiegende kaudale Hirnnerven, vor allem N. hypoglossus
  • Symptome und Befunde einer zerebralen Ischämie
  • Amaurosis fugax
  • Pulssynchroner Tinnitus möglich

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Keine zusätzlichen Untersuchungen im hausärztlichen Leistungsspektrum erforderlich

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Zur Sicherung der Diagnose am besten initiale MR-Diagnostik (alternativ CT-Diagnostik) in Kombination mit anschließender Ultraschalluntersuchung der hirnversorgenden Arterien (Letztere auch als Basisuntersuchung für Verlaufskontrollen)

MRT

  • Das aussagekräftigste Verfahren ist die kontrastmittelgestützte MR-Angiografie.,

CT

  • Die CT-Angiografie ist eine Alternative zur MR-Angiografie mit ebenfalls hoher Sensitivität in der Darstellung von Dissektionen.

Farbduplexsonografie

  • Schnell durchführbar, weit verbreitet
  • Allerdings etwas weniger sensitiv, daher zur Primärdiagnostik u. U. nicht ausreichend, wichtig vor allem auch für die Verlaufskontrollen

Digitale Subtraktionsangiografie (DSA)

  • Nur indiziert, wenn die nichtinvasiven Verfahren keine klare Diagnose ermöglichen oder ein katheterinterventioneller Eingriff durchgeführt werden soll.

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung

Therapie

Therapieziele

Allgemeines zur Therapie

  • Patient*innen mit ischämischem Insult können mit systemischer oder lokal-arterieller Lyse behandelt werden. 
  • Aufgrund des hohen Hirninfarktrisikos bei V. a. Dissektion unverzügliche insultpräventive Therapie
    • Es gibt allerdings bislang keine Daten aus prospektiven randomisierten Studien.11

Akuttherapie bei zerebraler Ischämie

  • Systemische Thrombolyse innerhalb des üblichen Zeitfensters (4,5 Stunden) auch bei Patient*innen mit Dissektion ohne erhöhtes Risiko möglich

Medikamentöse Sekundärprophylaxe

  • Bisherige Daten ohne eindeutigen Unterschied zwischen einer Sekundärprophylaxe mit Thromboyztenaggregationshemmern bzw. oraler Antikoagulation (OAK)
  • Thrombozytenaggregationshemmung
    • Schlaganfall oder ausschließlich lokale Symptomatik (insbes. bei erhöhtem Blutungsrisiko)
  • Antikoagulation
    • multiple, rezidivierende embolische Infarkte
    • flottierender Thrombus
    • Gefäßverschluss oder Pseudookklusion mit starker Flussminderung
    • klinisch stumme Mikroemboliesignale im Ultraschall trotz Thrombozytenaggregationshemmung 
    • Art der Antikoagulation: in der Akutphase unfraktioniertes oder niedermolekulares Heparin mit anschließender Umstellung auf Vit-K-Antagonist (INR 2–3)
      • neue orale Antikoagulanzien (NOAK) für diese Indikation nicht zugelassen
  • Therapiedauer
    • Dauer der Thrombozytenaggregationshemmung bzw. OAK zunächst 6 Monate (spontane Rekanalisation disseziierter Gefäße bei 2/3 der Patient*innen) mit anschließender Bildgebung (MRT, Ultraschall)
    • bei Restitutio ad integrum des Gefäßes ohne Insult: keine weitere Therapie notwendig
    • Bei persistierenden Gefäßläsionen ohne Insult: Fortführung der Thrombozytenaggregationshemmung für mindestens 6 Monate, abhängig von der Bildgebung ggf. dauerhaft
    • bei St.n. Insult mit und ohne Restituatio ad integrum des Gefäßes: dauerhafte Thrombozytenaggregationshemmung empfohlen

Weitere Therapien

  • Bei rezidivierenden ischämischen Insulten unter konservativer Therapie im Einzelfall interventionelle, rekanalisierende oder thrombusstabilisierende Therapie als Option (z. B. Stenting, mechanische Thrombektomie)
  • Chirurgischer Eingriff nur selten notwendig, hohes Risiko für Embolien und andere Komplikationen11

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Ischämischer Schlaganfall
    • Auftreten überwiegend in den ersten 2 Wochen nach Dissektion12
  • Blutungen unter blutgerinnungshemmender Therapie
  • Pseudoaneurysmata in 20–40 % der Fälle (insgesamt geringes thrombembolisches Risiko, insbesondere unter Thrombozytenaggregationshemmung oder OAK)

Verlauf und Prognose

  • Die Prognose ist bei der Mehrheit der Patient*innen gut.13
    • in über 80 % der Fälle komplette Erholung6
  • Dissektionsbedingter lokaler Schmerz in 90 % der Fälle innerhalb einer Woche rückläufig
  • Die Mehrzahl der Patient*innen mit Karotis- oder Vertebralisdissektion weist keine oder geringe neurologische Defizite auf.
  • Patient*innen mit Schlaganfall in 75 % der Fälle mit gutem neurologischem Outcome
  • Mortalität < 5 %
  • Rezidivrisiko vor allem in den ersten Wochen und Monaten erhöht
    • in den ersten 4 Wochen 19–26 %
    • Langzeitrezidivrisiko ca. 1 %/Jahr14
  • Innerhalb des ersten Jahres auch erhöhtes Risiko für erneuten ischämischen Insult

 

Verlaufskontrolle

  • Neben klinischen sollten bildgebende Verlaufskontrollen zur Beurteilung des Gefäßes erfolgen (vor allem mittels Farbduplex-Sonografie, ggf. MRT oder CT)

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Völker W, Dittrich R, Grewe S, et al. The outer arterial wall layers are primarily affected in spontaneous cervical artery dissection. Neurology 2011; 76: 1463-1471. doi:10.1212/WNL.0b013e318217e71c DOI
  2. Micheli S, Paciaroni M, Corea F, et al. Cervical artery dissection: emerging risk factors. Open Neurol J 2010; 4: 50-55. PubMed
  3. Traenka C, Dougoud D, Simonetti BG, et al. Cervical artery dissection in patients ≥60 years: Often painless, few mechanical triggers. Neurology 2017; 88: 1313. pmid:28258079 PubMed
  4. Debette S, Grond-Ginsbach C, Bodemant M, et al. Differential features of carotid and vertebral artery dissections: The CADISP study. Neurology 2011; 77: 1174-81. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Dziewas R, Konrad C, Dräger B, et al. Cervical artery dissection - clinical features, risk factors, therapy and outcome in 126 patients. J Neurol 2003; 250: 1179-84. PubMed
  6. Lang E. Vertebral artery dissection. Medscape, updated Feb 21, 2019. Zugriff 30.12.20. emedicine.medscape.com
  7. Brandt T, Orberk E, Weber R, et al. Pathogenesis of cervical artery dissection: association with connective tissue abnormalities. Neurology 2001; 57: 24-30. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Schiewink VI, Michels VV, Piepgras DG. Neurovascular manifestations of heritable connective tissue disorders. A review . Stroke 1994; 25: 889-903. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  9. Smith WS, Johnston SC, Skalabrin EJ, et al. Spinal manipulative therapy is a risk factor for vertebral artery dissection. Neurology 2003; 13: 1424-8. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Rubinstein SM, Peerdeman SM, van Tulder MW, et al. A systematic review of the risk factors for cervical artery dissection. Stroke 2005; 36: 1575-80. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Menon R, Kerry S, Norris JW, Markus HS. Treatment of cervical artery dissection: a systematic review and meta-analysis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2008; 79: 1122-7. PubMed
  12. Blum C, Yaghi S. Cervical Artery Dissection: A Review of the Epidemiology, Pathophysiology, Treatment, and Outcome. Arch Neurosci 2015; 2: 1-12. doi:10.5812/archneurosci.26670 DOI
  13. Lee VH, Brown RD Jr, Mandrekar JN, Mokri B. Incidence and outcome of cervical artery dissection: a population-based study. Neurology 2006; 67: 1809-12. PubMed
  14. Park K, Park J, Hwang S, et al. Vertebral Artery Dissection: Natural History, Clinical Features and Therapeutic Considerations. J Korean Neurosurg Soc 2008; 44: 109-115. doi:10.3340/jkns.2008.44.3.109 DOI

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.

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