Zusammenfassung
- Definition:Zoonose, die durch Nagetiere übertragen wird und ein hämorrhagisches Fieber mit renalem Syndrom (HFRS) verursachen kann. Erreger sind verschiedene Spezies aus der Gruppe der Hantaviren.
- Häufigkeit:Wiederkehrende Ausbrüche in Europa, v. a. in Finnland und Deutschland.
- Symptome:Grippeähnlich in der akuten Phase. Nach mehreren fieberfreien Tagen kann es zu einem erneuten Krankheitsschub mit Nierenbeteiligung kommen.
- Befunde:Mögliche klinische Befunde sind ein reduzierter Allgemeinzustand, Fieber, Thrombozytopenie, milde hämorrhagische Symptome (Nasenbluten).
- Diagnostik:Serologischer Nachweis von IgM- oder IgG-Antikörpern.
- Therapie:Keine spezifische Therapie vorhanden. Die Krankheit heilt spontan aus; in Ausnahmefällen Dialysebedarf in der Akutphase.
Allgemeine Informationen
Definition
- Nephropathia epidemica (NE) ist eine zoonotische Erkrankung, die durch Hantaviren ausgelöst wird und mit einer akuten Niereninsuffizienz, Thrombozytopenie sowie häufig einer Proteinurie einhergeht.1
- Hantaviren verursachen beim Menschen, abhängig von der Subspezies, vorrangig folgende klinische Syndrome:1-2
- Das hämorrhagische Fieber mit renalem Syndrom (HFRS), das hauptsächlich in Europa und Asien auftritt.
- Das hantavirusinduzierte (kardio-)pulmonale Syndrom (HPS bzw. HCPS), das vor allem in Nord- und Südamerika auftritt.
- Bei der Nephropathia epidemica handelt es sich um eine milde Verlaufsform des hämorrhagischen Fiebers mit renalem Syndrom (HFRS).1
- Die Erreger werden von Nagetieren übertragen, wobei jede Hantavirus-Spezies ihren bestimmten Reservoirwirt hat.
- Für Europa relevante Reservoirtiere sind vorwiegend die Rötelmaus (Myodes glareolus) für das Puumalavirus und die Brandmaus (Apodemus agrarius) für das Dobrava-Belgrad-Virus Typ Kurkino.
Häufigkeit
- Hantaviren sind weltweit verbreitet. Aufgrund der unterschiedlichen Verbreitung der jeweiligen Reservoirwirte sind die verschiedenen Hantavirus-Spezies ebenfalls geografisch unterschiedlich verteilt.
- In Mitteleuropa sind Infektionen mit dem Puumalavirus und einer genetischen Variante des Dobrava-Belgrad-Virus, genannt DOBV-Kurkino vorherrschend.
- Infektionen mit dem Puumalavirus haben unter den gemeldeten Erkrankungen mit Angaben zum Virustyp den weitaus größten Anteil.
- Eine starke Zunahme der Puumalavirus-Infektionszahlen kann etwa alle 2–3 Jahre beobachtet werden („Ausbruchsjahre“), wobei die meisten Krankheitsfälle auf bestimmte Regionen konzentriert sind.
- Europaweit wurden 2020 insgesamt 1.647 Fälle von Hantavirusinfektionen aus 28 Ländern gemeldet, die hauptsächlich (98 %) auf das Puumalavirus zurückzuführen waren.3
- 85 % der Fälle wurden aus Finnland und Deutschland gemeldet.
- Hantavirus-Infektionen gehören in Deutschland zu den fünf häufigsten meldepflichtigen Erkrankungen (neben der Norovirus-Infektion, Influenza, Hepatitis C und der Rotavirus-Infektion).1
- Geschlechterverteilung
- Mehr als 2/3 der Erkrankten sind Männer, und von diesen gehört wiederum mehr als die Hälfte der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen an.
Ätiologie und Pathogenese
- Erreger der Nephropathia epidemica sind das Puumalavirus und das Dobrava-Belgrad-Virus aus der Familie der Hantaviren.1
- Es handelt sich um umhüllte, einzelsträngige RNA-Viren mit einem Durchmesser von ca. 80–120 nm.
- Die einzelnen Hantaviren sind in der Regel mit jeweils bestimmten Nagetierspezies als Reservoirwirte assoziiert. Beim Puumalavirus ist dies die Rötelmaus, beim Dobrava-Belgrad-Virus die Brandmaus.
- Die Viren werden von infizierten Nagetieren über Speichel, Urin und Kot ausgeschieden und können darin mehrere Tage, auch in getrocknetem Zustand, infektiös bleiben.
- Die Übertragung auf den Menschen erfolgt durch
- die Inhalation (Eintrittspforte Lunge) virushaltiger Aerosole (z. B. aufgewirbelter Staub)
- den Kontakt der verletzten Haut mit kontaminierten Materialien (z. B. Staub, Böden) oder durch Bisse
- Lebensmittel (Eintrittspforte Gastrointestinaltrakt), die mit Ausscheidungen infizierter Nagetiere kontaminiert wurden.
- Eine Übertragung von Hantaviren von Mensch zu Mensch findet bei den in Europa und Asien prävalenten Virustypen nicht statt.
- Bisher gibt es nur bei dem hochvirulenten, in Südamerika vorkommenden Hantaviren einen Hinweis auf eine mögliche Mensch-zu-Mensch-Übertragungen.
- In der Pathogenese der Nierenschädigung bei HFRS spielen eine generalisiert erhöhte Gefäßpermeabilität, die Aktivierung des Komplementsystems und des humoralen Immunsystems eine zentrale Rolle.4
- Die tubulointerstitielle Schädigung durch Zytokine und andere humorale Faktoren kann zu einer akuten tubulointerstitiellen Nephritis führen.
- Eine überstandene Infektion führt wahrscheinlich zu einer lebenslangen, Virustyp-spezifischen Immunität.
Begünstigende Faktoren
- Infektionsgefährdet sind insbesondere Personen, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen einen Kontakt zu infizierten Nagern und deren Exkrementen begünstigen oder die in direktem Kontakt mit dem Virus stehen, z. B. Waldarbeiter*innen, Beschäftigte in der Landwirtschaft und Laborpersonal.
- In Jahren, in denen die Rötelmaus-Population stark ansteigt, ist die Expositionsgefahr bei Aktivitäten im Garten oder Wald, z. B. beim Reinigen von Gartenhäuschen, deutlich erhöht.
- Rauchen ist ein Risikofaktor für die Infektion mit dem Puumalavirus, vermutlich durch die Affektion der Atemwege.4
- Bestimmte genetische Faktoren scheinen für eine schwere Nierenschädigung bei HFRS durch eine verstärkte Immunantwort auf das Puumalavirus zu prädisponieren.4
ICD-10
- A98.5 Hämorrhagisches Fieber mit renalem Syndrom
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Das gemeinsame Auftreten mehrerer der folgenden Befunde weist auf eine mögliche Hantavirus-Erkrankung hin und sollte diagnostisch abgeklärt werden:
- akuter Krankheitsbeginn mit Fieber > 38,5 °C
- Rücken- und/oder Kopf- und/oder Abdominalschmerz
- Proteinurie und/oder Hämaturie
- Thrombozytopenie
- Serumkreatinin-Erhöhung
- im Krankheitsverlauf Oligurie bzw. nachfolgend Polyurie
- Die Diagnosesicherung erfolgt in der Regel serologisch durch den Nachweis spezifischer IgM- und IgG-Antikörper mittels Enzymimmunoassay (ELISA) oder Immunblot.
- In der Regel haben Hantavirus-infizierte Patient*innen bereits bei Beginn der klinischen Symptome nachweisbare IgM-Antikörper.4
- IgG-Antikörper werden in 80–90 % der in den ersten fünf Tagen entnommenen Serumproben gefunden, sie persistieren wahrscheinlich lebenslang.
- In Endemiegebieten wird die akute Infektion durch den simultanen Nachweis von IgM und IgG oder den signifikanten Titeranstieg von IgG diagnostiziert.
- In Nicht-Endemiegebieten wird schon der einmalige gesicherte Nachweis von IgG im Zusammenhang mit der klinischen Symptomatik als beweisend für die Infektion angesehen.
- Die Bestätigung von ELISA-Daten durch ein unabhängiges Verfahren zum Antikörpernachweis (Immunblot, IFA) wird empfohlen.
- Der RNA-Nachweis im Blut mittels PCR ist, aufgrund der kurzen virämischen Phase von nur wenigen Tagen nach Erkrankungsbeginn, nur in der frühen Phase der Erkrankung erfolgversprechend. Ein isoliertes negatives PCR-Ergebnis schließt eine Hantavirus-Infektion nicht aus.
Differenzialdiagnosen
- Akute Glomerulonephritis
- Leptospirose (hier kann die Exposition – Garten, Feld, Wald – identisch sein)
- Medikamentös induzierte interstitielle Nephritis
- Granulomatose mit Polyangiitis
- Goodpasture-Syndrom
- Nierenerkrankungen anderer Genese
Anamnese
- Erhöhtes Risiko einer Exposition gegenüber infizierten Nagetieren, z. B. durch Arbeiten in der Landwirtschaft, Waldarbeiten, Camping, Reinigung von Geräteschuppen von Mäusekot etc.
- Häufige Symptome im Anfangsstadium sind:1
- Fieber
- kolikartige, oft einseitige Flankenschmerzen
- Übelkeit und Diarrhö
- Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit
- Sehstörungen (Myopie, Fotophobie)
- konjunktivale Einblutungen
- Generalisierte Blutungsneigungen sind extrem selten.
- Ggf. Oligurie bzw. nachfolgend Polyurie als Zeichen einer akuten Nierenfunktionseinschränkung, die im Mittel 7 Tage nach Erkrankungsbeginn auftritt.
Klinische Untersuchung
- Fieber (ca. 90 % der Patient*innen)1
- Ggf. allgemeine Anzeichen eines akuten Nierenversagens: Empfindlichkeit der Nierenlogen und Oligurie
- Ggf. milde hämorrhagische Symptome wie Nasenbluten (ca. 7 % der Patient*innen)1
- Ggf. Hypertonie (ca. 15 % der Patient*innen) oder Hypotonie (ca. 10 % der Patient*innen)1
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Blutuntersuchungen
- frühzeitig erhöhtes CRP (ca. 96 % der Patient*innen)1
- Thrombozytopenie (ca. 61 % der Patient*innen)1
- Lymphozytopenie (ca. 55 % der Patient*innen)1
- Serum-Kreatinin-Anstieg um das 2- bis 3-Fache (ca. 70 % der Patient*innen)1
- spezifische IgG- und IgM-Antikörper
- Harnstreifentest
- Mikrohämaturie und transiente Proteinurie sind fast immer vorhanden.
- Sonografie der Nieren
- ggf. unspezifische Befunde wie Vergrößerung der Nieren und perirenale Flüssigkeitsansammlung4
Indikationen zur Klinikeinweisung
- Bei Verdacht auf akutes Nierenversagen
- Vorliegen einer schweren Thrombozytopenie oder generalisierte Blutungsneigung
- Ausbleibender Besserung der Nierenfunktion
Therapie
Therapieziele
- Normalisierung der Nierenfunktion
- Vermeidung und Behandlung von Komplikationen
Allgemeines zur Therapie
- Aktuell stehen weder ein zugelassener Impfstoff noch eine spezifisch gegen den Erreger gerichtete Therapie zur Verfügung.
- Expositionsprophylaxe ist die wichtigste Maßnahme zur Verhütung von Hantavirus-Infektionen.
- Die Erkrankung heilt in der Regel spontan aus, eine symptomatische Therapie ist meist ausreichend.4
- Als Analgetika sollen NSAR vermieden werden.
- Die Gabe von Ibuprofen und Diclofenac scheint, insbesondere bei Infektionen mit dem Puumalavirus, eine schwere akute Niereninsuffizienz zu begünstigen.4
- Als Analgetika sollen NSAR vermieden werden.
Weitere Therapien
- Keine spezielle Behandlung, allerdings kann bei einer kleinen Anzahl von Patient*innen (< 10 %1) eine Dialyse erforderlich werden.
- In einzelnen Fällen erwies sich bei einem HFRS die frühzeitige antivirale Chemotherapie mit Ribavirin als erfolgreich, die Wirksamkeit wird allerdings kontrovers diskutiert und konnte in weiteren Studien nicht bestätigt werden.4
- Medikamente, die die kapillare Permeabilität beeinflussen, befinden sich in klinischen Studien für andere Indikationen und könnten möglicherweise auch in der Behandlung schwerer Hantavirus-Infektion zum Einsatz kommen.4
Prävention
- Vermeiden von Kontakten mit den Ausscheidungen von Nagetieren
- Im Umfeld menschlicher Wohnbereiche (insbesondere Keller, Dachböden, Schuppen etc.) sollten Nagetiere intensiv bekämpft und die allgemeinen Hygienemaßnahmen eingehalten werden.
- Wichtig ist vor allem die sichere Aufbewahrung von Lebensmitteln, damit Nagetiere sich nicht im Umfeld von Häusern oder Wohnungen aufhalten.
- Beim Umgang mit toten Nagetieren oder dem Aufenthalt in von Mäusen verunreinigten Räumen sollen Schutzmaßnahmen eingehalten werden, z. B. kann eine mögliche Staubentwicklung in kontaminierten Bereichen durch Befeuchten vermieden werden.
- Bei zu erwartender Staubentwicklung sollten Atemschutzmasken und Handschuhe getragen werden.
- Mäusekadaver und Exkremente sollten vor der Entsorgung mit einem handelsüblichen Reinigungsmittel benetzt werden.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die Inkubationszeit beträgt üblicherweise 2–4 Wochen.
- Ein großer Teil der Hantavirus-Infektionen verläuft asymptomatisch bzw. mit unspezifischen Symptomen.
- Der typische Verlauf des HFRS ist meist fünfphasig:5
- febrile Phase (3–5 Tage)
- hypotensive Phase (< 2 Tage)
- oligurische Phase (3–5 Tage)
- polyurische Phase (7–10 Tage)
- Rekonvaleszenz (Monate)
- Bei der milder verlaufenden Nephropathia epidemica zeigt sich meist eine zweiphasige grippeähnliche Krankheit.
- Häufige Symptome sind Fieber, kolikartige, oft einseitige Flankenschmerzen, Übelkeit und Diarrhö, Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit, oft mit Sehstörungen (Myopie, Fotophobie) und konjunktivalen Einblutungen.
- Eine Nierenfunktionsstörung tritt im Mittel nach 7 Tagen auf.
Komplikationen
- Ein großer Teil der erkrankten Personen entwickelt eine vorübergehend verminderte Nierenfunktion (86 % der Patient*innen).1
- In den ersten Krankheitswochen ist das Risiko für kardiovaskuläre Ereignissen (TVT/LE, Herzinfarkt) erhöht.6-7
- In einigen Fällen lassen sich bei HFRS-Patient*innen auch extrarenale Manifestationen beobachten, z. B. eine Begleit-Hepatitis sowie vereinzelt Myokarditis, Thyreoiditis oder Beteiligung des zentralen Nervensystems.
Prognose
- Im Allgemeinen gut durch selbstlimitierenden Charakter
- Die Letalität liegt bei Erkrankungen durch Puumalavirus-Infektionen deutlich unter 0,1 %, bei solchen durch Dobrava-Belgrad-Virus-Infektionen (Genotyp Kurkino) bei 0,3–0,9 %.
- Die Letalität der moderaten bis schweren Formen des HFRS durch andere Hantavirus-Subtypen beträgt 5–15 %.5
- Für Puumala- und Dobrava-Belgrad-Subtypen sind keine renalen Folgeschäden bekannt.
- In einer prospektiven Studie wurde bei einer Kontrolluntersuchung ca. 1,5 Jahre nach Diagnosestellung bei ca. 23 % aller Patient*innen eine bleibende Hypertonie beobachtet.1
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Latus J, Schwab M, Tacconelli E, et al. Clinical Course and Long-Term Outcome of Hantavirus-Associated Nephropathia Epidemica, Germany. Emerg Infect Dis. 2015 Jan; 21(1): 76–83. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Centers For Disease Control and Prevention. Hantavirus. November 2021. www.cdc.gov
- European Centre for Disease Prevention and Control. Hantavirus infection. In: ECDC. Annual epidemiological report for 2020. Stockholm: ECDC; 2023. www.ecdc.europa.eu
- Mustonen J, et al. Kidney involvement in hantavirus infections. UpToDate. www.uptodate.com
- Avšič-Županc T, Saksida A, Korva M. Hantavirus infections. Clin Microbiol Infect. 2019 Apr;21S:e6-e16. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Connolly-Andersen A-M, Whitaker H, Klingström J, Ahlm C. Risk of Venous Thromboembolism Following Hemorrhagic Fever With Renal Syndrome: A Self-controlled Case Series Study. Clin Infect Dis 2017. pmid:29020303 PubMed
- Connolly-Andersen A-M, Hammargren E, Whitaker H, et al. Increased Risk of Acute Myocardial Infarction and Stroke During Hemorrhagic Fever with Renal Syndrome: A Self-Controlled Case Series Study. Circulation 2014; 129(12): 1295-302. pmid:24398017 PubMed
Autor*innen
- Christina Weingartner, Dr. med., Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, München