Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen

Zusammenfassung

  • Definition:Sexuelle Misshandlung von Kindern oder Jugendlichen. Eine Form der Kindesmisshandlung. Dazu zählen auch alle sexuellen Handlungen die an oder vor einem Kind entweder gegen dessen Willen vorgenommen werden oder denen das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Begriff wird in der Regel nicht für sexuelle Handlungen Minderjähriger untereinander verwendet. Andere Misshandlungen und mangelnde Fürsorge der Eltern erhöhen das Risiko.
  • Häufigkeit:Geschätzt sind ca. 21 % der Mädchen und ca. 6 % der Jungen betroffen.
  • Symptome:Überwiegend unspezifisch. Häufig Verhaltensstörungen und psychische Störungen wie Depression, Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörung. Genitale oder anale Verletzungen sind starke Indizien, kommen jedoch selten vor.
  • Befunde:Nach einem Missbrauch ggf. sofort Urin asservieren, für mikrobiologische Untersuchung sowie ggf. nach Einfrieren für ein Drogenscreening. Unverzügliche Spurensicherung durch Spezialisten, möglichst innerhalb von 24 Stunden. Liegt der Missbrauch länger als 72 Stunden zurück, sind Spuren nur noch schwer zu sichern.
  • Diagnostik:Die Notwendigkeit und Reihenfolge der einzelnen Untersuchungen sollen im multiprofessionellen Team festgelegt werden. Solche Teams schließen ärztliche, sozialpädagogische, psychologische und pflegerische Fachkräfte ein und stehen unter fachärztlicher pädiatrischer, kinderchirurgischer oder kinder- und jugendpsychiatrischer Leitung. Forensisches Interview nur durch entsprechend geschulte Fachkraft. Die körperliche Untersuchung wird in der Regel von Kinderärzt*innen mit Spezialausbildung durchgeführt.
  • Therapie:Ggf. Postexpositionsprophylaxe sexuell übertragbarer Krankheiten und postkoitale Kontrazeption (enge Zeitfenster beachten). Neue Missbrauchsvorfälle verhindern, durch psychosoziale Interventionen, die in der Regel das Jugendamt veranlasst und koordiniert sowie ggf. durch Anzeige und Strafverfolgung der Täter*innen. Ggf. vorübergehende stationäre Aufnahme des Kindes zu dessen Schutz. Psychische Folgen des Missbrauchs erfordern in der Regel eine psychotherapeutische Behandlung mit familientherapeutischer Ausrichtung.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Sexueller Missbrauch ist eine Form der Kindesmisshandlung (Näheres siehe Kindesmisshandlung und Vernachlässigung).
  • Unter sexuellem Missbrauch an Kindern versteht man jede sexuelle Handlung,
    • die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird
    • oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann.
  • Unter sexuellen Missbrauch fallen:
    • Vergewaltigung 
    • sonstiger vaginaler, oraler oder analer Geschlechtsverkehr
    • Penetration mit Fingern oder Gegenständen
  • Daneben zählt dazu körperlicher Kontakt zwischen Kind und Täter*in, wie
    • das Berühren der Genitalien des Kindes.
    • das Zwingen des Kindes, die Täter*innen sexuell zu stimulieren.
    • die sexualisierte, auch flüchtige Berührung anderer Körperstellen, wie z. B. der Brüste.
  • Es handelt sich ebenfalls um sexuellen Missbrauch, wenn
    • ein Kind veranlasst wird, an einer Handlung mit sexuellem Inhalt teilzunehmen.
    • ein Kind veranlasst wird, bei sexuellen Handlungen zwischen anderen Personen anwesend zu sein.
    • sich vor einem Kind in einer Weise entblößt wird, die Unbehagen auslösen kann.
    • verbal oder durch Handlungen eine Person in einer Art und Weise belästigt wird, die die sexuelle Integrität dieser Person verletzen kann, z. B. durch:
      • verbale sexuelle Annäherungen
      • Verbreitung von Pornografie/sexueller Gewalt durch neue Medien, z. B. durch das Versenden von pornografischem und/oder grenzverletzendem Foto- und Videomaterial über Handys oder auch sexuell orientierte Kontaktaufnahme mit Kindern/Jugendlichen in Chatrooms.

Häufigkeit

  • Aus verschiedenen schwedischen Studien geht hervor, dass unter den 18-Jährigen etwa 25 % der Mädchen und 7 % der Jungen in der Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs wurden.
    • Laut diesen Studien waren 10–13 % der Mädchen und 3–6 % der Jungen penetrierenden sexuellen Übergriffen ausgesetzt.1
  • Die Häufigkeit in diesen Befragungen hängt von der Definition des Missbrauchs ab (ob z. B. Entblößung darunter fällt), welches Schutzalter für sexuelle Handlungen gilt (meist 16 oder 18 Jahre) und ob ein Altersunterschied zwischen Opfer und Täter*in erforderlich ist (in der Regel 4–5 Jahre).
  • Internationale Studien, die nur sexuellen Missbrauch mit Berührung der Genitalien und ein Schutzalter von 16 Jahren umfassen, zeigen eine geschätzte Häufigkeit von 21 % unter Mädchen und 6 % unter Jungen.
  • Aus Bevölkerungsstudien geht hervor, dass Entblößung und Berührung der Genitalien am häufigsten vorkommen, gefolgt von Petting und verschiedenen Formen der Penetration.

Ätiologie und Pathogenese

  • Sexueller Missbrauch von Kindern tritt in allen Altersstufen vom Säuglingsalter bis zur Pubertät auf, die meisten Studien deuten jedoch auf ein besonders hohes Risiko für Kinder zwischen 8–12 Jahren hin.

Wer sind die Täter*innen?

  • Die Täter*innen sind in den meisten Fällen Männer.
    • Frauen sind an etwa 5 % der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch beteiligt und vergehen sich meist an Jungen.
  • Die Täter*innen sind in den meisten Fällen Personen, die die Kinder kennen (Missbrauch ohne Körperkontakt, wie Exhibitionismus, ist in der folgenden Schätzung nicht enthalten).
    • In bis zu 30 % der Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern unter 18 Jahren sind Familienangehörige die Täter*innen.
    • In 30–70 % der Fälle kommen die Täter*innen aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis der Familie.
    • In 15–30 % der Fälle sind die Täter*innen Fremde.
  • Bei Mädchen ist das Risiko höher, von Familienangehörigen missbraucht zu werden, während Jungen häufiger durch Fremde missbraucht werden.
  • Der Missbrauch durch Fremde ist in der Regel ein einmaliges Ereignis, während es innerhalb der Familie häufig zu wiederholtem Missbrauch kommt.
  • Im Unterschied zur körperlichen Misshandlung handeln die Täter*innen bei sexueller Gewalt meist in überlegter Absicht. Sexuelle Übergriffe sind eher geplant als nichtsexualisierte körperliche Gewalttaten.

Prädisponierende Faktoren

  • Lebensumstände können Missbrauch begünstigen, z. B.:
    • Kinder mit Eltern, Geschwistern oder Großeltern, die selbst sexuell missbraucht wurden.
    • Kinder mit Stiefeltern
    • Kinder von Frauen, die in der Beziehung misshandelt wurden.
    • Kinder, die zu Hause misshandelt oder vernachlässigt werden.
    • Kinder, die sexuell ausgebeutet wurden.
    • Kinder, die offen oder unreflektiert mit fremden Erwachsenen umgehen.
    • Kinder mit sexualisiertem Verhalten
    • Kinder mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen
    • Kinder, die sozial isoliert sind

Diagnostik

Allgemeines zur Diagnostik

  • Alle Kinder und Jugendlichen mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch sollen geschlechts- und entwicklungsspezifisch untersucht werden.
    • Keine Untersuchung soll gegen den Willen der betroffenen Person durchgeführt werden.
    • Die Notwendigkeit und Festlegung des Datums der u. g. Untersuchungen sind abhängig von der Zeitspanne zwischen dem angegebenen sexuellen Übergriff und dem Untersuchungszeitpunkt.
  • Folgende Untersuchungen sollen erfolgen:
    • Ganzkörperuntersuchung
    • ausführliche Anamnese
    • anogenitale oder kindergynäkologische Untersuchung unter Zuhilfenahme des Videokolposkops
    • Untersuchung auf sexuell übertragbare Erreger
    • Schwangerschaftstest (bei Mädchen im gebärfähigen Alter)
    • Spurensuche (DNA, Sperma)
    • forensisches Interview (4−18 Jahre)
    • Feststellung des psychischen Status
  • Die Notwendigkeit und Reihenfolge der einzelnen Untersuchungen sollen in einem multiprofessionellen Team für jeden Einzelfall festgelegt werden.
    • Die Ergebnisse aller Untersuchungen sollen gemeinsam und im Kontext ausgewertet werden.

Diagnostische Kriterien 

Klassifikation nach ICD-10

  • Die ICD-10 klassifiziert Traumata infolge sexuellen Missbrauchs unter Kapitel XIX („Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen“):
    • T74. Missbrauch von Personen
      • T74.0 Vernachlässigen oder Imstichlassen
      • T74.1 Körperlicher Missbrauch
      • T74.2 Sexueller Missbrauch
      • T74.3 Psychischer Missbrauch
      • T74.8 Sonstige Formen des Missbrauchs von Personen. Mischformen
      • T74.9 Missbrauch von Personen, nicht näher bezeichnet
  • Die ICD-10 ordnet gesundheitliche Probleme aufgrund sexuellen Missbrauchs zusätzlich unter Kapitel XXI ein („Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen“):
    • Z61 Kontaktanlässe mit Bezug auf Kindheitserlebnisse, incl.
      • Ereignisse, die den Verlust des Selbstwertgefühls in der Kindheit zur Folge haben
      • Herauslösen aus dem Elternhaus in der Kindheit
      • Persönliches angsterregendes Erlebnis in der Kindheit
      • Probleme mit Bezug auf vermutete körperliche Misshandlung eines Kindes
      • Probleme mit Bezug auf vermuteten sexuellen Missbrauch eines Kindes
      • Veränderung der Struktur der Familienbeziehungen in der Kindheit
      • Verlust einer nahen Bezugsperson in der Kindheit

Sexueller Missbrauch innerhalb der Familie

  • Sexueller Missbrauch in der Familie umfasst inzestuöse sexuelle Beziehungen (zwischen Familienmitgliedern, die laut Gesetz nicht heiraten dürfen) sowie nichtinzestuöse Beziehungen zwischen dem Kind und einem anderen Mitglied des Haushalts.
  • Darunter fällt also auch der Missbrauch durch biologische Eltern oder Adoptiveltern, Stiefeltern, ältere Geschwister, andere Verwandte im Haushalt, Untermieter*innen und Freund*innen der Familie.
  • Es gibt kulturelle Unterschiede, wie oft Kinder ihre Eltern nackt sehen, bis zu welchem Alter sie von den Eltern gewaschen werden, im Bett der Eltern schlafen dürfen und wann sie ihre eigene Privatsphäre zu Hause bekommen.
  • Es handelt sich jedoch um sexuellen Missbrauch, wenn
    • es zu Kontakt zwischen den Genitalien eines Erwachsenen und des Kindes kommt.
    • Brüste oder Genitalien des Kindes/der Jugendlichen berührt wurden, mit Ausnahme von kulturell akzeptiertem Waschen kleiner Kinder.
    • das Kind gezwungen wurde, Brüste/Genitalien des Erwachsenen zu berühren.
    • das Kind wissentlich der Entblößung von Brüsten oder Genitalien eines Erwachsenen ausgesetzt wurde, mit Ausnahme von Baden oder Anziehen.
    • das Kind/die Jugendliche absichtlich überredet wurde, Brüste oder Genitalien zu entblößen, mit Ausnahme von Baden oder Anziehen.
    • es zu einer anderen Form von Körperkontakt oder Entblößung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind gekommen ist, die zweifellos dazu geführt hat, dass einer der beiden sexuell erregt wurde. Dabei ist es unerheblich, ob das Kind freiwillig an den sexuellen Handlungen mitgewirkt hat.

Sexueller Missbrauch außerhalb der Familie

  • Epidemiologische Daten deuten darauf hin, dass sexuelle Handlungen, an denen Kinder beteiligt sind, sehr häufig vorkommen.
  • Die meisten leichten Übergriffe, z. B. Exhibitionismus, haben vermutlich nur geringe psychische Auswirkungen.
  • Es gibt allerdings keine verlässlichen Daten zum Ausmaß des potenziellen Schadens, den bestimmte Ereignisse beim Kind verursachen können.
  • Je zielgerichteter der sexuelle Übergriff desto größer scheint das Risiko für eine psychische Traumatisierung zu sein.
  • Weitere potenziell psychotraumatische Faktoren sind:
    • Altersunterschied
    • Machtgefälle, Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses
    • Missbrauch einer persönlichen/beruflichen Beziehung (z. B. Lehrer*in, Geistlicher, Therapeut*in)
    • körperliche Nötigung
    • körperliches Trauma
  • Sexuelle Handlungen gelten als Missbrauch, wenn
    • die andere Person deutlich älter als das Kind ist.
    • es aufgrund der Stellung oder Position der anderen Person zu der sexuellen Handlung kam.
    • das Kind nur widerwillig daran teilgenommen hat (ungeachtet, ob der Widerstand aktiv oder passiv war).
    • weitere Kriterien
      • Brüste oder Genitalien des Kindes/der Jugendlichen wurden berührt, oder es wurde versucht.
      • Brüste oder Genitalien der anderen Person wurden berührt, oder es wurde versucht, das Kind zu einer solchen Berührung zu bewegen.
      • die andere Person ihre Genitalien gezeigt hat und versucht hat, das Kind dazu zu bewegen, diese zu berühren, oder Körperkontakt mit dem Kind hatte (Entblößung der Genitalien aus der Ferne oder Entblößung, die sich nicht direkt auf das Kind richtet, fallen nicht darunter).
      • die andere Person in einer Situation, die sozial inakzeptabel ist, versucht hat, das Kind zu entkleiden (oder es gezwungen hat, sich zu entkleiden).
      • die andere Person das Kind unter psychologischer Bedrohung verleitet hat oder verleiten wollte, mitzukommen (in ein Auto oder an einen anderen Ort).

Klinische Untersuchung

  • Die meisten Symptome sind unspezifisch (es gibt kein spezifisches Symptombild für sexuellen Missbrauch).
  • Sexualisiertes Verhalten ist das aussagekräftigste Symptom, einschließlich sexueller Spiele, sexueller Sprache, Interaktion und Zeichnungen (obwohl es auch andere Erklärungen für unangemessenes sexuelles Verhalten von Kindern geben kann, ist sexueller Missbrauch die häufigste Ursache, insbesondere bei Kleinkindern).

Emotionale Reaktionen

  • Schuldgefühle/Gefühl für das Erlebte verantwortlich zu sein: eher bei älteren Kindern
  • Gefühl der Ohnmacht/Hilflosigkeit: Verlust der Kontrolle über das Geschehen
  • Gefühl des Verlusts: z. B. bei Pflegekindern oder wenn die Mutter die Täter*innen schützt
  • Isolation, Einsamkeit
  • Mangel an Vertrauen in andere Menschen oder unreflektiertes Festhalten an anderen

Psychische Symptome

  • Posttraumatische Belastungsstörung
    • unwillkürliches, plötzliches Wiedererleben der traumatischen Situation vor dem inneren Auge (Intrusion)
    • Vermeidungsverhalten
    • Überaktivierung des zentralen und vegetativen Nervensystems (Hyperarousal, Panikattacken) ohne adäquaten Auslöser
  • Depression, äußert sich häufig als:
    • Wut
    • Angst vor der Zukunft
    • geringes Selbstwertgefühl, insbes. in Bezug auf den eigenen Körper und Gleichaltrige
    • körperliche Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Angst um die Gesundheit
  • Angst, äußert sich häufig als:
    • körperliche Beschwerden, Schlaflosigkeit und Alpträume
    • Phobien
    • körperliche Schmerzen (insbes. Bauch-, Kopf-, Muskel- und Unterleibsschmerzen)
    • Zwangshandlungen (z. B. übermäßiges Waschen)

Persönlichkeitsveränderungen

  • Aggressives Verhalten, insbes. bei Jungen
  • Suizidgedanken und -handlungen, insbes. bei Mädchen
  • Selbstverletzendes Verhalten
  • Mehr allgemeine Verhaltensstörungen als die Allgemeinbevölkerung (Ruhelosigkeit, Ungehorsamkeit, Mobbing von anderen, Reizbarkeit)
  • Auffälliges sexuelles Verhalten
    • Prostitution
    • sexuell offensives Verhalten, z. B. Anbieten von Sex im Internet
    • sexualisierte Gewalt gegenüber anderen 
  • Probleme, als Erwachsener ein normales Sexualleben zu führen.

Körperlicher Befund (Spezialist*in)

  • Morphologische anale/genitale Befunde sind oft nur in geringem Maß dazu geeignet, festzustellen, ob ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat.
    • Ausnahme: Missbrauch mit Penetration
  • Ein negativer körperlicher Befund schließt einen Missbrauch nicht aus, da die meisten sexuellen Übergriffe keine physischen Spuren hinterlassen.
  • Wird das Kind kurz nach dem sexuellen Missbrauch von Spezialist*innen untersucht, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass körperliche Verletzungen entdeckt werden (schnelle Heilung).
    • Für einen Befund von forensischer Bedeutung sollte das Kind möglichst schnell untersucht werden (Haare, Sperma, Prellungen usw.).
    • Näheres siehe Abschnitt Diagnostik bei Spezialist*innen.
  • Sicherer körperlicher Befund bei sexuellem Missbrauch:
  • Unspezifische Befunde, die mit einem Missbrauch in Zusammenhang stehen können:
    • Rötungen, Schwellungen um die Vagina, Schmerz und Schmerzempfindlichkeit
    • Ausfluss, Vaginalblutung
    • Hautveränderungen im Schritt, Juckreiz
    • Risse, Wunden, andere Verletzungen im Anal-/Genitalbereich oder im/um den Mund
    • Anzeichen/Verletzungen nach körperlicher Gewalt am restlichen Körper.

Differenzialdiagnosen

  • Sexueller Missbrauch gilt als negative Kindheitserfahrung und kann zu verschiedenen Krankheitsbildern/Symptomen führen.
  • Andere negative Kindheitserfahrungen (z. B. körperliche Misshandlung, mangelnde Fürsorge) können ähnliche Symptome verursachen.
  • Bei unspezifischem körperlichem Befund z. B.:

Anamnese

  • Bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung sollten im Rahmen einer multiprofessionellen Diagnostik zeitnah zum Ereignis oder letzten Übergriff Ersteinlassungen der Kinder und Jugendlichen protokolliert und ggf. durch wenige Nachfragen entsprechend den Prinzipien des NICHD-Protokolls konkretisiert werden.
  • Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung sollte in Absprache mit Institutionen der Strafverfolgung bzw. der Familiengerichtsbarkeit und mit Einverständnis der Kinder und Jugendlichen und Personensorgeberechtigten/des Vormundes ein forensisches Interview angeboten werden, wenn die Aussage der Kinder und Jugendlichen zur Klärung der Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder –vernachlässigung erforderlich erscheint.
  • Das forensische Interview sollte strukturiert mithilfe von evaluierten Protokollen durchgeführt werden. Ein Beispiel eines solchen evaluierten Protokolls ist das revidierte NICHD-Protokoll, das in zahlreichen Sprachen vorliegt.
  • Das forensische Interview sollte anhand von Aufzeichnungen der Interviewenden und durch eine Audio-und Videoaufnahme nachhaltig dokumentiert werden. Dies setzt das informierte Einverständnis der Kinder und Jugendlichen voraus.
  • Interviewende sollten in der Durchführung eines forensischen Interviews geschult und angeleitet sein. Zur Vorbereitung sollten mögliche Hindernisse, fallspezifische Anliegen und Interviewstrategien multiprofessionell besprochen werden. Zur Nachbereitung sollte die Möglichkeit eines Feedbacks gegeben werden.
  • Interviewende sollen das Erinnerungsvermögen des Kindes oder des/der Jugendlichen durch offene Fragen fördern. Interviewende sollen vermeiden, das Kind oder den/die Jugendliche/n zu beeinflussen oder suggestiv zu befragen.
  • Die Offenlegung des Missbrauchs kann ein schwieriger Prozess sein, der von Spezialist*innen begleitet werden sollte (Kinder- und Jugendlichenpsychiater*in, forensisch erfahrene Pädiater*in oder Rechtsmediziner*in).

Konstellationshinweise

  • Vorliegende Befunde, nicht durch Anamnese erklärbar, nicht plausibel
    • Arztbesuch mit deutlicher Verzögerung, häufige Arzt-Wechsel
    • Hinweise von Kindern selbst
    • Anamnese fehlt, ist vage, wechselnd oder unpassend für Alter und Entwicklungsstand
    • Anzeichen von Verwahrlosung oder Unterernährung
  • Verhalten der Eltern
    • mangelnde Zuwendung
    • gestörte Eltern-Kind-Interaktion
    • fordernd-aggressives Verhalten gegenüber den Behandler*innen
    • ggf. erkennbarer Alkohol- und/oder Drogenkonsum

Durchführung

  • Ein forensisches Interview sollte auf jeden Fall psychologisch geschulten Fachkräften überlassen werden, um nicht mit dem späteren Vorwurf suggestiver Befragung oder Beeinflussung die Glaubwürdigkeit der Aussage des Kindes zu erschüttern.
  • Sofern eine Befragung des Kindes möglich ist:
    • nach einfachen, einleitenden Fragen erzählen lassen
    • suggestive Fragen unbedingt vermeiden
    • Die Darstellung des Geschehenen durch das Kind ist der wichtigste Teil der Diagnostik.
  • Vollständige anamnestische Angaben zu:
    • Schwangerschaft
    • Geburt
    • Neugeborenen- und Säuglingsalter
    • Ernährung
    • Impfungen
    • schweren Erkrankungen
    • Meilensteinen in der Entwicklung
    • Krankenhausaufenthalte
    • früheren Arztbesuchen
    • Risikofaktoren
  • Psychosoziale Anamnese
    • Familienzusammensetzung
    • Gewalt in der Familie
    • Beschäftigungssituation
    • Konsum von Drogen oder Alkohol in der Familie
  • Zeugen?
    • Wer hat das Kind beaufsichtigt?
    • Weitere Personen, die das Geschehene mitbekommen haben, z. B. Familienangehörige, Nachbarn, andere Kinder?
  • Bei Verletzungen
    • Angemessene Reaktion der Eltern?
    • Erste Hilfe?
    • Prompter Arztbesuch?
    • Aussagen zur Verletzungsentstehung kritisch überprüfen, besonders bei Säuglingen und Kleinkindern
    • Frage nach adäquatem Verletzungsmechanismus
  • Zu beachten: Auch ältere Kinder machen häufig unkorrekte Angaben, oft aus Angst vor weiteren Misshandlungen oder anderen Folgen, die evtl. von den Täter*innen angedroht wurden.
  • Selten somatische Erkrankungen, z. B.:
  • Teenager-Schwangerschaft?

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Evtl. Urinprobe einfrieren zur Probensicherung für ein Drogenscreening (s. u.).
  • Alle weiteren Untersuchungen einschließlich Spurensicherung sollten unbedingt ohne zeitlichen Verzug und möglichst beim Spezialisten erfolgen.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Eine körperliche (anale/genitale) Untersuchung wird durch Spezialist*innen durchgeführt, möglichst durch forensisch erfahrene Pädiater*innen, (Kinder-)Gynäkolog*innen oder Rechtsmediziner*innen.
  • Die Untersuchung bei einem Missbrauch kann ein psychosozial schwieriger Prozess sein, der von Spezialist*innen auf dem Gebiet begleitet werden sollte (in der Regel Kinder- und Jugendpsychiater*in).
  • Forensische Abstriche je nach Befund und Vorgeschichte invasiven sexuellen Übergriffs:
    • möglichst innerhalb von 24 h nach dem Übergriff
    • Hautabstriche
      • am und um den äußeren Anogenitalbereich
      • Innenseite Oberschenkel
      • vaginal (Vestibulum, retrohymenal)
      • anal
      • perioral
      • im Wood-Licht fluoreszierende Bereiche (nicht spezifisch)
    • sterile Watte-Tupfer und NaCl-Lösung
      • vollständig lufttrocknen
      • in Papierumschläge, kein Plastik
    • Abstriche einzeln beschriften
      • Patientendaten
      • Abstrichort eindeutig zuordnen
      • Unterschrift der entnehmenden Person
    • Mundhöhlenabstrich zum Vergleich
      • zusätzlich auf Objektträger Ausstriche ausrollen, nicht abstreichen
    • Größte Bedeutung hat die Sicherung der Bekleidung.
    • Weitere Spuren sichern:
      • Fremde (Scham-)Haare (Pubes auskämmen)
      • Fingernagelränder abschaben
    • Infektiologie: Ausgangsstatus, Kontrolle nach 3–4 Wochen (HIV nach 6 Monaten)
    • Drogen- und Medikamentenscreening
      • vorzugsweise Urin; speziell für Gamma-OH-Buttersäure (Partydroge, „KO-Tropfen“)
      • Urin sofort einfrieren und ins forensische Speziallabor

Therapie

Therapieziele

  • Fürsorge für das Kind
  • Unterstützung der primären Erziehungsberechtigten bei der Wahrnehmung ihrer Fürsorge- und Erziehungsaufgaben
  • Sicherstellung, dass das Kind keinem weiteren Missbrauch ausgesetzt ist (evtl. mithilfe des Jugendamts).
  • Feststellung des Therapiebedarfs
  • Ggf. Postexpositionprophylaxe sexuell übertragbarer Krankheiten, z. B. HIV (Zeitfenster beachten!)
  • Ggf. postkoitale Kontrazeption (Zeitfenster beachten!)

Allgemeines zur Therapie

Helferkonferenz

  • Nach einer Kontaktaufnahme mit Einrichtungen der Jugendhilfe, Kinderschutzzentren, Beratungsstellen oder Familiengericht sollte möglichst bald eine erste gemeinsame Helferkonferenz zusammenkommen.
    • Mit Kenntnis der Eltern treffen sich alle professionellen Helfer*innen, die mit der Familie zusammengearbeitet haben oder zusammenarbeiten werden.
    • Organisation des Gesprächs in der Regel durch die Mitarbeiter*innen der Jugendhilfe oder im Falle stationärer Behandlung durch Sozialdienste in den Krankenhäusern

Verschiedene Formen der psychosozialen Intervention

  • Einzeltherapie
  • Gruppentherapie
  • Familientherapie
  • Networking
  • Fachübergreifende Therapie bei Bedarf
  • Zusammenarbeit zwischen den Behörden

Medikamentöse Therapie

Prävention

Primäre Prävention

  • Politische und gesellschaftliche Aktivitäten, die das Ausmaß von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung senken.
  • Fördert Umgebungen und gesellschaftliche Einstellungen, die die Entwicklung von Risikofaktoren für Kindesmisshandlung vermeiden.
  • Erfahrungsgemäß sind Familien zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes besonders zugänglich für Unterstützung und offen für Veränderungen.
    • Ein Schwerpunkt primär präventiver Bemühungen sollte daher im Bereich der frühen Elternschaft liegen.
  • Unterstützung der Eltern in ihrer Fürsorge- und Erziehungsaufgabe, z. B. durch Informationen über:
    • Ernährung
    • Sicherheit
    • Vorbeugung von Verletzungen
    • Beobachtung von Entwicklungsmeilensteinen
    • Zahngesundheit
    • altersentsprechenden Stimulationsbedarf

Sekundäre Prävention

  • Maßnahmen, die die in frühen Stadien von Misshandlung die Wahrscheinlichkeit für wiederholte oder schwerere Misshandlungen reduzieren.
  • Frühe Identifizierung von Risikofaktoren, z. B.:
    • Früherkennungsuntersuchungen ab dem 2. Lebensjahr mit Schwerpunkt auf der Erkennung von Störungen der emotionalen Entwicklung, des Sozialverhaltens und der Sprachentwicklung
    • Einleitung geeigneter psychosozialer Interventionen zur Risikoreduktion

Tertiäre Prävention

  • Behandlung und Rehabilitation nach bereits stattgefundener Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung
  • Verhindern weiterer Gewalterfahrungen und der Entwicklung von sekundären Folgeschäden wie psychischer Störungen
  • Familientherapeutisch orientierte Beratung oder Behandlung
    • Bearbeitung des Geschehenen ermöglichen
    • misshandelnde und vernachlässigende Eltern darin unterstützen, Verantwortung für das Gewaltproblem zu übernehmen
    • Da die Gewalt gegen das Kind häufig mit biografischen eigenen Erfahrungen der Eltern zusammenhängt, aber von diesen Prozessen abgespalten wird, bedarf es häufig eines längeren Behandlungszeitraumes, um die Zusammenhänge deutlich werden zu lassen.
    • Eine Mindestvoraussetzung ist dabei die Bereitschaft der beteiligten Eltern, sich auf einen solchen Prozess einzulassen, mit dem Ziel, sich zukünftig besser für den Schutz und die Interessen dieses und anderer Kinder einzusetzen und die Motivation, das eigene Verhalten zu verändern.
    • Es ist besonders anfangs manchmal nicht möglich, auf eine völlige Freiwilligkeit der Familien zu setzen, aber auch nicht unmöglich, mit Eltern zu arbeiten, die Widerstand gegen die Angebote zeigen.
    • Voraussetzung ist, dass die beteiligten Helfer*innen die Aufgabenverteilung im Kontext von Empathie und Kontrolle klar im Blick behalten, sich gegenseitig in der Erfüllung der Aufträge unterstützen und gleichzeitig aufrichtig und respektvoll mit den Familien kommunizieren.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Sexuelle Ausbeutung oder sexueller Missbrauch ist keine Krankheit oder Diagnose an sich, sondern ein traumatisches Erlebnis, das evtl. zu kurzfristigen und langfristigen Schädigungen führen kann.
  • Es kann schwierig festzustellen sein, welche psychischen Symptome auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen sind, insbesondere wenn das Kind bereits unter schwierigen Umständen aufgewachsen ist oder es zu anderen Übergriffen vor dem sexuellen Missbrauch kam (fehlende Fürsorge, körperliche Misshandlung usw.) bzw. das Kind an einer anderen zugrunde liegenden psychischen Erkrankung leidet.
  • Der Verlauf und die Auswirkungen sind von Kind zu Kind unterschiedlich.

Die Symptome und Folgeschäden (Schwere und Dauer) hängen wahrscheinlich von einer Reihe von Faktoren ab

  • Alter des Kindes zu Beginn des Missbrauchs (jüngere Kinder können schwerere Schäden davontragen, die Ergebnisse verschiedener Studien sind jedoch nicht eindeutig)
  • Missbrauch durch Drohungen oder Gewalt (eindeutiger Zusammenhang)
  • Art, Häufigkeit und Dauer des Missbrauchs (wiederholter Missbrauch und schwerer Missbrauch mit Penetration haben stärkere Auswirkungen)
  • Emotionale Bindung der Kinder an die Täter*innen
  • Psychische Gesundheit und Entwicklungsstand des Kindes
  • Unterstützung durch Eltern/Erziehungsberechtigte (die nicht am Missbrauch beteiligt waren)
  • Familiäres Klima
  • Bewältigungsstrategien des Kindes

Komplikationen

  • Bleibende psychische Schäden
  • Bleibende Verhaltensstörungen/Anpassungsschwierigkeiten

Psychologische Auswirkungen

  • Wurde ein Kind Opfer sexuellen Missbrauchs, können kurzfristige und langfristige psychische Schäden zurückbleiben.
  • Da das Risiko schwerer psychischer Schäden besteht, sollten missbrauchte Kinder durch psychologisch untersucht und behandelt werden.
  • Kinder, die missbraucht wurden, werden häufig selbst zu Täter*innen.
  • Mögliche Folgen hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab.2-4

Physische Auswirkungen

  • Genitale oder anale Verletzungen5-8
  • Sexuell übertragbare Infektionen
  • Schwangerschaft

Prognose

  • Während der Kindheit
    • Psychische Probleme wurden bei 20–40 % der Kinder festgestellt, die Opfer sexuellen Missbrauchs wurden.
  • Im Erwachsenenalter
    • Das Erlebnis sexuellen Missbrauchs in der Kindheit erhöht das Risiko für psychische Probleme und Anpassungsschwierigkeiten im Erwachsenenalter.
    • Bei etwa 1/5 der Erwachsenen kommt es zu schweren psychischen und verhaltensbezogenen Störungen.

Verlaufskontrolle

  • Planung in Absprache mit allen beteiligten Helfer*innen (siehe Abschnitt Helferkonferenz)
  • Besonders bei Vernachlässigung ggf. regelmäßige Kontrollen von:
    • Verlauf der somatischen Entwicklung
    • Körpermaße
    • Pflegezustand
    • Zahnstatus

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Priebe G & Svedin CG. Prevalence, characteristics and associations of sexual abuse with sociodemographics and consensual sex in a population-based sample of Swedish adolescents. J Child Sex Abuse 2009;18(1):19-39. PubMed
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  8. Ladson S, Johnson CF, Doty RE. Do physicians recognize sexual abuse? Am J Dis Child 1987; 141: 411-15. PubMed

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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