Azoospermie

Zusammenfassung

  • Definition:Eine Azoospermie liegt vor, wenn in mindestens zwei Spermaproben keine Spermien im Ejakulat nachgewiesen werden.
  • Häufigkeit:Ca. 1 % aller Männer betroffen, bei Männern mit Fertilitätsstörungen bis zu 10 %.
  • Symptome:Unerfüllter Kinderwunsch; Anamneseerhebung essenziell.
  • Befunde:In der Regel unauffälliger körperlicher Untersuchungsbefund, evtl. Hinweise auf eine genetisch bedingte Erkrankung (Klinefelter-Syndrom, Mukoviszidose).
  • Diagnostik:Als Untersuchungsmethoden werden Hormonanalysen und ggf. eine humangenetische Untersuchung eingesetzt.
  • Therapie:Ursachenbezogen. Bei Kinderwunsch ggf. invasive Gewinnung von Spermien aus dem Hoden. Werden bei der Untersuchung reife Samenzellen entdeckt, kann zu einem späteren Zeitpunkt eine In-vitro-Fertilisation mittels intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) durchgeführt werden.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.1-2

Definition

  • Eine Azoospermie liegt vor, wenn bei mindestens zwei Spermaproben keine Spermien im Ejakulat nachgewiesen werden.

Häufigkeit

  • Etwa 1 % aller Männer sind von Azoospermie betroffen, bei Männern mit verminderter Fertilität und Infertilitätsproblemen sind es bis zu 10 %.
  • Rund 2/3 aller Azoospermien sind durch einen Verlust der Spermatogenese bedingt.

Ätiologie und Pathogenese

  • Man unterscheidet die prätestikuläre, testikuläre oder posttestikuläre Azoospermie.

Prätestikuläre Azoospermie

  • Typischerweise besteht ein hypogonadotroper Hypogonadismus, bei dem eine unzureichende Ausscheidung von gonadotropinfreisetzendem Hormon (GnRH) aus dem Hypothalamus oder von Gonadotropinen aus der Hypophyse vorliegt.
  • Männer mit prätestikulärer Azoospermie haben einen sehr niedrigen Serumspiegel des follikelstimulierenden Hormons (FSH) und des luteinisierenden Hormons (LH), während gleichzeitig eine niedrige Testosteronkonzentration zu verzeichnen ist.
  • Eine Behandlung mit einem GnRH-Analogon oder einem Gonadotropinpräparat verbessert in der Regel die Spermienqualität bei diesen Männern.

Testikuläre Azoospermie

  • Wird auch nichtobstruktive Azoospermie genannt.
  • Typischerweise liegt ein hypergonadotroper Hypogonadismus vor, wobei nur eine sehr schwache oder gar keine Spermienproduktion vorhanden ist.
  • Die Spermienzahl im Ejakulat liegt unter der Nachweisgrenze.
  • Die histologische Untersuchung des Hodengewebes zeigt entweder eine Aplasie der Keimzellen (Sertoli-cell-only-Syndrom), eine Fehlentwicklung der reifen Spermien (Maturation Arrest) oder eine Sklerose/Atrophie der Hodentubuli.
    • Bei all diesen Diagnosen kann eine fokale Spermatogenese vorliegen.
  • Hodenhochstand (Maldescensus testis/Hodenretention)
    • Hauptursache für testikuläre Azoospermie (3–5 % aller männlichen Neugeborenen)
    • ursächlich für 20 % aller Fälle, bei denen keine Spermien im Ejakulat nachgewiesen werden
    • führt zur Fehlentwicklung der sehr temperaturempfindlichen Keimzellen
    • Infertilität tritt bei etwa 50 % der Männer mit einem einseitigen Hodenhochstand und bei bis zu 75 % der Männer mit einem bilateralen Hodenhochstand auf.
    • Das Risiko von Hodenkrebs liegt bei Männern mit unbehandeltem Hodenhochstand um das 5- bis 10-Fache höher als bei der Normalbevölkerung.
  • Postpubertäre Parotitis
    • Bei etwa 25 % der Männer, die an postpubertärer Parotitis erkranken, tritt gleichzeitig eine Orchitis auf, die die Keimzellen in einem solchen Ausmaß schädigen kann, dass daraus eine Azoospermie resultiert.
  • Verschiedene Chromosomenanomalien
    • Liegen bei 8–14 % aller Männer mit testikulärer Azoospermie vor, im Vergleich zu weniger als 1 % in der Normalbevölkerung.
    • Die häufigste Variante in dieser Gruppe ist das Klinefelter-Syndrom (47,XXY).
    • Zusätzlich stehen mehrere Mikrodeletionen auf dem männlichen Y-Chromosom mit Azoospermie in Verbindung. Ein bestimmter Bereich auf dem langen Arm des Y-Chromosoms kodiert Gene, die für eine normale Spermatogenese benötigt werden.
  • Hodenchirurgie, Strahlentherapie oder Chemotherapie können Azoospermie verursachen.
    • Männer, bei denen eine solche Behandlung geplant ist, sollten vor Beginn der Behandlung über die Möglichkeit der Kryokonservierung von Spermien aufgeklärt werden.
    • Als Alternative bei bereits bestehender Azoospermie oder wenn eine Ejakulation (noch) nicht möglich ist, sollte die testikuläre Spermienextraktion angeboten werden. In 60–70 % der Fälle können mit dieser Methode fertilisierungsfähige Spermien gewonnen und kryokonserviert werden.
      • Für präpubertäre Jungen kann das experimentelle Verfahren der Hodenbiopsie zur Entnahme von spermatogonialen Stammzellen angeboten werden. Das Verfahren sollte nur in Zusammenarbeit mit darauf spezialisierten Zentren angeboten bzw. durchgeführt werden.
      • Beim Jugendlichen > 12 Jahre sollte eine testikuläre Spermienextraktion angestrebt werden und auch Gewebe für das experimentelle Verfahren der Kryokonservierung von spermatogonialen Stammzellen gewonnen werden.
  • Andere Gonadotoxine
    • Systemisch verabreichte anabole Steroide einschließlich Testosteron, etwa im Rahmen einer Testosteronersatztherapie zur Behandlung eines Hypogonadismus, supprimieren die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Dadurch bleiben die für die Spermatogenese essenziellen intratestikulären Testosteronkonzentrationen niedrig.
    • Vermutlich von Bedeutung, aber noch unzureichend untersucht:3
      • Schwermetalle und andere anorganische Substanzen, z. B. Blei, Quecksilber, Kupfer, Arsen
      • Xenoöstrogene (endokrine Disruptoren), z. B. aus schadstoffbelasteten Nahrungsmitteln und Trinkwasser, Industriemissionen, Pestizide, Tabakrauch, Kosmetika
  • Hodentumoren
    • Azoospermie kann auf eine Tumorerkrankung des Hodens hinweisen.
    • Jeder 6. Patient mit Hodentumor ist zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits azoosperm.
    • Hodentumorpatienten mit einer Azoospermie oder einer fehlenden antegraden Ejakulation vor Therapiebeginn soll die Gewinnung von Spermien aus dem Hoden mittels testikulärer Spermienextraktion (TESE) und nachfolgende Kryokonservierung angeboten werden.
      • Der Eingriff sollte möglichst zusammen mit der geplanten Ablatio testis erfolgen.
  • Stress?4
    • Hinweise aus klinischen Studien auf die Beeinträchtigung der männlichen Fertilität und die Spermaqualität unter psychischer Belastung
    • Interferenzen zwischen der bei Stress verstärkt aktivierten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse und der fertilitätsrelevanten Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse scheinen dabei eine zentrale Rolle zu spielen.
    • Wie ausgeprägt diese Effekte sind, ist schwer zu evaluieren. Dennoch ist die Berücksichtigung psychischer Faktoren in der Fertilitätsbehandlung unverzichtbar, auch bei nachgewiesener Azoospermie oder anderen organischen Ursachen.

Posttestikuläre Azoospermie

  • Männer mit posttestikulärer Azoospermie sind normogonadotrop und weisen eine normale Spermienproduktion auf.
  • Obstruktive posttestikuläre Azoospermie
    • Hier liegen für die Spermien auf dem Weg aus den Hoden in die Samenblase angeborene oder erworbene anatomische Hindernisse vor, die dazu führen, dass das Ejakulat keine Spermien enthält.
    • Bei der Mukoviszidose/zystischen Fibrose liegt z. B. ein angeborenes, beidseitiges Fehlen normaler Samenleiter vor (Congenital Bilateral Absence of the Vas Deferens, CBAVD).
      • Mutationen des Zystische-Fibrose-Gens treten auch bei isoliert bilateralem Fehlen normaler Samenleiter auf, weshalb ein umfassendes genetisches Screening in solchen Fällen vor jeder Fertilitätsbehandlung durchgeführt werden sollte.
    • erfolgreiche Vasektomie 
  • Dysfunktionale Aspermie/Azoospermie
    • Dabei wird kein Sperma aus der Harnröhrenöffnung ejakuliert.
    • mögliche Ursachen
      • Anejakulation: Trotz Orgasmus tritt keine Ejakulation ein.
      • Retrograde Ejakulation: Spermien werden in die Harnblase ejakuliert.

ICD-10

  • N46 Sterilität beim Mann

Diagnostik

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.1-2

Diagnostische Kriterien

  • Spermiogramm: keine Spermien im Ejakulat bei mindestens zwei unabhängigen Ejakulatproben im Abstand von 2–3 Wochen
    • Die Proben werden soweit möglich durch Masturbation gewonnen,
      • nach 2–7 Tagen sexueller Enthaltsamkeit, da sowohl das Volumen der Samenflüssigkeit als auch die Spermatozoenkonzentration während der Abstinenz 3–4 Tage lang ansteigen.
    • Die Proben sollen innerhalb 1 Stunde analysiert werden.
    • Es werden Aussehen, Textur, Volumen, Ausprägung der Leukozytospermie und Spermatozoenkonzentration des Ejakulats sowie Motilität und Morphologie der Spermien bewertet.
    • Die Probe kann zu Hause gewonnen werden, sofern sie bei Körpertemperatur gelagert und innerhalb 1 Stunde zum Labor gebracht wird.
  • Ziele der Untersuchung
    • Welche Form der Azoospermie liegt vor?
    • Sind Spermien vorhanden, die für eine In-vitro-Fertilisation mittels Mikroinjektion (intrazytoplasmatische Spermieninjektion, ICSI) geeignet sind?
  • Selbst wenn die Fertilitätsuntersuchung zunächst eine Azoospermie des Mannes nachweist, sollte eine umfassende Untersuchung der Partnerin durchgeführt werden. Näheres siehe Artikel Unerfüllter Kinderwunsch.
  • Werden Spermien nachgewiesen, ist der wichtigste prognostische Faktor für eine erfolgreiche Fertilitätsbehandlung das Alter der Partnerin.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Unerfüllter Kinderwunsch seit wann?
  • Aktueller somatischer und psychischer Gesundheitszustand
  • Lebensstil (Raucher? Stressfaktoren?)
  • Sexualfunktion und -verhalten, erektile Dysfunktion?
  • Entwicklung in Kindheit und Pubertät (Hodenhochstand? normale Hodengröße?)
  • Frühere Traumata oder Operationen im Urogenitalbereich oder Gehirn?
  • Frühere oder aktuelle Infektionskrankheiten, z. B. sexuell übertragene Krankheiten, Mumps-Orchitis
  • Gonadotoxinexposition, z. B. Anabolika5, Chemotherapie, Testosteronersatztherapie?
  • Familienanamnese

Klinische Untersuchung

  • Inspektion: Bartwuchs, Körperbehaarung, sekundäre Geschlechtsmerkmale, Gynäkomastie, OP-Narben?
  • Körperliche Untersuchung inkl. Größe und Gewicht

 Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Ultraschalluntersuchung der männlichen Geschlechtsorgane: Hoden, Nebenhoden und Samenleiter sollten lokalisiert und deren Struktur und Größe bestimmt werden (Varikozele, Hydrozele, Spermatozele, Raumforderung?).
  • Spermiogramm
  • Serumkonzentrationen von FSH, LH, Prolaktin und Testosteron
  • Weiterführende humangenetische Untersuchungen nach genetischer Beratung (Chromosomenaberrationen, Mukoviszidose)
  • Postejakulatorische Urinprobe (Differenzierung retrograde Ejakulation, obstruktive Azoospermie, Störung der Spermatogenese)
  • Testikuläre Spermienaspiration (nativmikroskopische und histologische Untersuchung)
  • Perkutane Nadelbiopsie: Wenn durch die herkömmliche testikuläre Spermienextraktion (TESE) keine ausreichend große Spermienmenge zu gewinnen ist, kann eine mikrochirurgische epididymale Spermienaspiration (MESA) durchgeführt werden.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei der typischen Anamnese und dem Verdacht auf eine männliche Fertilitätsstörung sollte zeitnah an eine Fachärztin/einen Facharzt für Urologie/Andrologie überwiesen werden.
  • Gleichzeitig ist die Untersuchung der Partnerin bei der Gynäkolog*in (ggf. Fachärzt*in mit Zusatzbezeichnung gynäkologische Endokrinologie/Reproduktionsmedizin) einzuleiten (Faktor Zeit).
  • Eine feste Zusammenarbeit zwischen Hausärzt*in und Spezialist*in ist empfehlenswert.

Infertilitätsbehandlung

Therapieziele

  • Erfüllung des Kinderwunsches

Allgemeines zur Therapie

  • Werden im Hoden reife Samenzellen in ausreichender Zahl gefunden, dann kann zu einem späteren Zeitpunkt eine In-vitro-Fertilisation mittels intrazytoplasmatischer Injektion (ICSI) durchgeführt werden.
  • Ist die Produktion von Samenzellen nachgewiesen, besteht eine gute Prognose, dass bei einem weiteren Eingriff – testikuläre Spermienextraktion (TESE) oder Mikrochirurgische epididymale Spermatozoenaspiration (MESA) ausreichend Samenzellen für eine Fertilitätsbehandlung gewonnen werden können.
  • Bei Vorliegen einer Varikozele kann eine erfolgreiche Operation die Spermienqualität der Patienten verbessern.
  • Obstruktive Azoospermie
    • Die Chance, bei einer obstruktiven Azoospermie Spermien nachzuweisen, liegt nahe 100 %, da hier eine normale Spermatogenese vorliegt.
    • Bei der obstruktiven Azoospermie ist die Implantationsrate nach intrazytoplasmatischer Injektion (ICSI) von Samenzellen die gleiche wie mit anterograd ejakulierten Spermien.
  • Testikuläre Azoospermie
    • Erfolgsquote ICSI: Etwa 2/3 der mit anterograd ejakulierten Spermien erreichten Fertilitätsrate.

Besonderheit Klinefelter-Syndrom

  • Das Klinefelter-Syndrom betrifft etwa 1 von 600 männlichen Neugeborenen.
  • In etwa 80 % dieser Fällen liegt ein Karyotyp ohne Mosaikform vor (47,XXY).
  • Männer mit Klinefelter-Syndrom ohne Mosaikform wurden früher als irreversibel infertil betrachtet. Fast 10 % aller Männer mit Azoospermie weisen diesen Karyotyp auf.
  • Um eine Spermatogenese beim Klinefelter-Syndrom nachzuweisen, ist TESE das aussichtsreichste Verfahren. 
  • Erfolgreiche Fertilitätsbehandlungen nach TESE und ICSI sind beschrieben.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Andrade DL, Viana MC, Esteves SC. Differential Diagnosis of Azoospermia in Men with Infertility. J Clin Med 2021; 10: 3144. PMID: 34300309 PubMed
  2. Esteves SC et al. Clinical management of infertile men with nonobstructive azoospermia. Asian J Androl 2015; 17: 459-70. DOI: 10.4103/1008-682X.148719 DOI
  3. Jurkowska K, Kratz EM, Sawicka E, Piwowar A. The impact of metalloestrogens on the physiology of male reproductive health as a current problem of the XXI century. J Physiol Pharmacol 2019; 70. PMID: 31539881 PubMed
  4. Nargund VH. Effects of psychological stress on male fertility. Nat Rev Urol 2015; 12: 373-82. PMID: 26057063 PubMed
  5. Tatem AJ, Beilan J, Kovac JR, Lipshultz LI. Management of Anabolic Steroid-Induced Infertility: Novel Strategies for Fertility Maintenance and Recovery. World J Mens Health 2019. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Gesa Hansen-Prenz, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Jesteburg

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