Zusammenfassung
- Definition:Die Hypospadie ist eine häufige Fehlbildung bei Jungen und führt zu einer Unterentwicklung der Harnröhre.
- Häufigkeit:Häufigste angeborene Fehlbildung des männlichen Geschlechts. Etwa 1 von 200 bis 300 Kindern sind betroffen.
- Symptome:Beschwerden beim Wasserlassen, Schmerzen, psychosexuelle Belastungen; weitere gleichzeitig auftretende Anomalien sind keine Seltenheit.
- Befunde:Im Rahmen der klinischen Untersuchung von Neugeborenen fällt häufig eine Verlagerung des Meatus urethrae externus nach ventral/proximal auf.
- Diagnostik:Klinische Diagnose. In bestimmten Fällen können eine radiologische Untersuchung der Harnwege sowie eine Hormon- und Chromosomenanalyse erforderlich sein.
- Therapie:Die Behandlung besteht in einer operativen Korrektur.
Allgemeine Informationen
Definition und Häufigkeit
- Die Hypospadie ist eine häufige Fehlbildung bei Jungen mit einem Vorkommen von etwa 1:200–300 Lebendgeburten.1
- Die Erkrankung führt zu einer Unterentwicklung der Urethra.
- Eine Zunahme der Inzidenz wird diskutiert, ist jedoch nicht gesichert.
Ätiologie und Pathogenese
- Die Ätiologie ist nach wie vor nicht geklärt, bekannt sind familiäre Häufungen.
- Falls der Vater betroffen ist, kann das Risiko für seinen Sohn zwischen 6 % und 8 % liegen.
- Bei Zwillingen liegt das Risiko bei etwa 14 %.
- Die Hypospadie kommt in verschiedenen Schweregraden vor und bedarf daher einer unterschiedlich aufwändigen Korrektur.
- Endokrine Faktoren
- Ein defekter Androgenrezeptor kann eine Rolle spielen.
- Eine Mutation des Rezeptors der luteinisierenden Hormone im Hoden wird ebenfalls diskutiert.
- Eine inadäquate Testosteron-Reaktion infolge hCG-Stimulation könnte ebenfalls zur Krankheitsentstehung beitragen.
- Genetische Faktoren2
- Einfache Mutationen sind nicht regelhaft ursächlich, meistens sind die genetischen Ursachen vielfältig.
- Diskutiert wird der Zusammenhang einer „Müllerian-inhibiting Substance“ (MIS) mit der Entwicklung einer Hypospadie.
- Diese MIS kann durch die Unterdrückung des CYP17A1-Gens die Produktion von Testosteron behindern.
- Auch die Anomalie bestimmter Gene – z. B. des Fibroblasten-Wachstumsfaktors 10 – sind mögliche ätiologische Faktoren.
- Umweltfaktoren2
- Häufig assoziiert mit dem Auftreten einer Hypospadie sind:
- geringes Geburtsgewicht, maternale Hypertonie/Präeklampsie und hohes Alter der Mutter
- Möglicherweise spielt eine Plazentainsuffizienz eine zentrale Rolle.
- exogene Chemikalien
- Häufig assoziiert mit dem Auftreten einer Hypospadie sind:
Pathophysiologie
- Das äußere Genitale entwickelt sich aus dem Sinus urogenitalis, den Geschlechtsfalten und den Geschlechtswülsten.
- Die Hypospadie als Hemmungsfehlbildung betrifft sowohl die Urethra als auch die umgebenden Strukturen.
- Die Ausprägung der Hypospadie ist abhängig von der Hemmung der Verschmelzung der Urethralfalten.
- Ein intrauteriner Androgenmangel ab der 14. Schwangerschaftswoche (SSW), die der kritischen Phase der Morphogenese der Urethra entspricht, wird als ursächlich angenommen.
- In dieser Phase wird das Mesenchym zum Corpus spongiosum der Urethra umgewandelt.
- Die Umwandlung findet bei der Erkrankung distal um den hypospaden Meatus nicht statt.
- Vielmehr entsteht aus dem Mesenchym das als „Chorda" bezeichnete peri- und retrourethral lokalisierte Gewebe.
- Ein hypospader Penis weist von der Spitze bis zur Basis folgendes auf:
- Einen ventral gespaltenen Meatus und das ventral fehlende Segment der Harnröhrenzirkumferenz, das dorsal durch die Harnröhrenplatte ersetzt wird, die sich vom ektopen Meatus bis zur Glans erstreckt.
- Die tubuläre Harnröhre proximal des ektopen Meatus ist hypoplastisch ohne umgebendes Corpus spongiosum und von einer dünnen, fest anhaftenden Hautschicht bedeckt.
ICPC-2
- A90 Angeborene Anomalie/NNB
- U85 Angeborene Anomalie Harnorgane
- Y84 Angeborene Anomalie männlichen Genitale
ICD-10
- Q54 Hypospadie
- Q54.0 Glanduläre Hypospadie
- Q54.1 Penile Hypospadie
- Q54.2 Penoskrotale Hypospadie
- Q54.3 Perineale Hypospadie
- Q54.4 Angeborene Ventralverkrümmung des Penis
- Q54.8 Sonstige Formen der Hypospadie
- Q54.9 Hypospadie, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Die Diagnose wird klinisch gestellt, häufig im Rahmen einer Untersuchung nach der Geburt.
Klassifikation
- Nach Lage des Meatus
- distale-anteriore Hypospadie (70–80 %)
- Der Meatus befindet sich an der Glans oder am distalen Penisschaft.
- mittlere Hypospadie (15–20 %)
- Der Meatus befindet sich penil zwischen dem penoskrotalen Übergang.
- proximale-posteriore Hypospadie (selten)
- Der Meatus befindet sich penoskrotal, skrotal oder perineal.
- distale-anteriore Hypospadie (70–80 %)
- Sonderformen
- Hypospadia sine Hypospadia: Der Meatus befindet sich orthotop glandulär und ist physiologisch konfiguriert; minimal ausgeprägte Hypospadie, nicht geschlossene Päputium (sog. Vorhautschürze).
- Megalomeatus: Der Meatus befindet sich orthotop glandulär, ist aber wesentlich zu groß und reicht proximal an die Kranzfurche.
Begleitanomalien
- Die häufigsten Begleitanomalien sind der Maldescensus testis und inguinale Hernien.
- Leicht erhöhte Inzidenz zur Ureterabgangsstenose, zu vesikorenalen Refluxen und zur Nierenagenesie.
- Es sind auch Wilms-Tumoren, Becken- und Nierentumoren und Nierenektopien als Begleitanomalien beschrieben.
- Einseitiger oder beidseitiger Kryptorchismus bei 7–9 % aller Patienten und bei 22 % der isoliert proximalen Hypospadien.
Anamnese
- Hypospadie1
- Eine unvollständig entwickelte Harnröhre, deren Öffnung (Meatus) sich, bedingt durch die Fehlanlage, an unterschiedlichen Stellen an der Unterseite von Penis, Skrotum oder Perineum befinden kann.
- Weitere gleichzeitig auftretende Anomalien
- nicht ausreichend deszendierte Hoden
- Inguinalhernie (9–15 %).
- vergrößerter Utriculus prostaticus (14 %) mit den daraus folgenden Harnwegsinfektionen, Nierensteinbildung, Pseudoinkontinenz und behinderter Katheterisierung
- Anomalien im oberen Teil der Harnröhre sind selten.
- Penisschaftkrümmung nach unten (Chorda)3
- verursacht durch eine Art Verwachsung der Haut mit der Dartos-Faszie
- Kann auch ohne Hypospadie auftreten, allerdings sehr selten (< 1 %).
- Je weiter proximal sich der Meatus befindet, umso ausgeprägter ist die Krümmung des Penis.
- Je weiter distal sich der Meatus befindet, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Meatusstenose.
- Die Diagnose wird häufig gestellt, weil die Eltern beobachtet haben, dass der Harnstrahl nach hinten abgelenkt wird.
Klinische Untersuchung
- Eine anomale dorsale Vorhaut und eine ventrale Verziehung der Eichel weckt den Verdacht auf Hypospadie.
- Die ausführliche klinische Untersuchung sollte in einer pädiatrischen oder kinderurologischen Praxis erfolgen.
- In der Hausarztpraxis durch Inspektion feststellbar: Lage, Form und Weite des Meatus
Diagnostik bei Pädiater*in oder Kinderurolog*in
- Eine klinische Untersuchung ist in den meisten Fällen ausreichend und umfasst:
- Größe der Glans
- Konfiguration des Präputiums (als „Schürze“ oder zirkulär geschlossen)
- Vorhandensein einer hypoplastischen Urethra und deren Länge
- Qualität (Hypoplasie) der distalen Harnröhre (nach Teilung des Corpus spongiosum)
- die Teilung des distalen Corpus spongiosum (Lokalisation)
- Länge der Corpora cavernosa und damit des Penisschaftes
- ventrale Penisschafthaut (häufig hypoplastisch) und Verlauf der Raphe (häufig asymmetrisch)
- das Aussehen des Scrotums (ggf. bipart)
- Position der Hoden
- Präoperativ dokumentiert werden sollten:
- Meatusposition
- eine mögliche Verkrümmung des Penis
- eine mögliche Rotation des Penis
- eine mögliche penoskrotale Transposition
- begleitende Erkrankungen (wie Hodenhochstand und/oder Leistenhernie).
- Bei den proximalen Formen sind eine radiologische Untersuchung der Harnwege sowie hormonelle und Chromosomenanalysen indiziert.
- Bei diesen ausgeprägten Graden von Hypospadie liegen häufig andere damit verbundene urogenitale Anomalien vor, am häufigsten eine Hodenretention.
- Eine isolierte penoskrotale oder perineale Hypospadie kann ein Leitsymptom und ein klinischer Hinweis für das Vorliegen einer 46, XY-DSD (Disorder of Sexual Development, Störung der Geschlechtsentwicklung, besser Variante der Geschlechtsentwicklung) nach der Geburt sein.
- Bildaufnahmen der oberen Harnwege
- Bei gleichzeitigem Vorliegen weiterer kongenitaler Anomalien (z. B. Herzvitium, Analatresie, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte etc.) ist das Risiko assoziierter Harntraktanomalien erhöht und deshalb eine Uro-Sonografie empfehlenswert.
- Die Inzidenz der Fehlbildungen der oberen Harnwege ist sehr gering.
- Bei schweren proximalen Hypospadien wird oftmals das Screening der oberen Harnwege empfohlen.
Indikationen zur Überweisung
- Überweisung bei klinischem Verdacht zur pädiatrischen/kinderurologischen Mitbeurteilung
Therapie
Therapieziele
- Normalisierung des äußeren Teils der Harnröhre
- Uneingeschränkte Funktion als Geschlechtsorgan
- Aufhebung der Penisschaftdeviation oder –torsion auch bei Erektion
- Ermöglichen des Wasserlassens im Stehen
- Ästhetisch ansprechender Aspekt, ggf. mit Skrotalplastik und Aufhebung der penoskrotalen Transposition
Allgemeines zur Therapie
- Chirurgische Korrektur
- Bei ausgeprägten Formen können die Operationsziele nicht immer einzeitig erreicht werden.
- Wenn keine behandlungsbedürftige Meatusstenose vorliegt, ist es am besten, die Behandlung bis nach dem ersten Lebensjahr hinauszuschieben.
Operative Therapie
- Eindeutige Operationsindikation bei:
- allen mittleren und proximalen Hypospadien
- den distalen Formen mit einer Meatusstenose, Penisverkrümmung oder/und Penistorsion.
- Das Anästhesierisiko ist umso höher, je jünger das Kind ist.
- Therapeutisches Fenster für den Eingriff zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat, bevorzugt zwischen 11. und 18. Lebensmonat.
- Aufgrund der Komplexität des operativen Eingriffes sowie der Variabilität der Fehlbildung selbst hat sich bis heute kein standardisiertes Verfahren zur Behandlung etabliert.
- Annähernd 250 verschiedene operative Techniken sind bekannt.
- Ziele der Operation sind: ein funktionell und kosmetisch möglichst optimales Ergebnis, mit einem möglichst geringen Risiko für Komplikationen.
- Begradigung des Penis, Rekonstruktion der Lage des Meatus und der Gewebeabdeckung.
- Die isolierte Entfernung der Vorhaut bei Kindern mit einer Hypospadie soll vermieden werden, da diese in der Regel für die operative Korrektur der Hypospadie benötigt wird.1-4
- Bei einem kleinen Penis/kleiner Glans und/oder proximalen Hypospadien kann die präoperative lokale Androgenbehandlung vorzugsweise mit Dihydrotestosteron-Salbe von Vorteil sein.
- Die Indikation soll sehr sorgfältig gestellt werden, da eine spätere Störung der Fertilität nicht ausgeschlossen ist.
- Eine eindeutige Stellungnahme zur postoperativen Antibiotikagabe kann aufgrund der geringen Evidenzlage der Studien aktuell nicht gegeben werden.
- Urethrale kutane Fisteln, Strikturen und Restkrümmungen sind weiterhin die am häufigsten auftretenden Beschwerden nach einer Operation.
- Die Untersuchungen des psychosozialen und psychosexuellen Status zeigen keine einheitlichen Ergebnisse.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Urethrale kutane Fisteln können nach der Operation bei etwa 5 % der distalen Formen und bei etwa 50 % der proximalen Formen entstehen.56
- Strikturenbildung oder Meatusstenose mit Beschwerden beim Wasserlassen sowie die Notwendigkeit wiederholter Operationen7
- Infertilität
- Kosmetisch störende und belastende Ergebnisse
- Psychosoziale und psychosexuelle Probleme
Prognose
- Eine Untersuchung von Erwachsenen, die als Kinder bei Hypospadie operiert wurden, zeigt, dass mehr als die Hälfte mehrmals operiert werden musste.6
- Etwa 30 % der Patienten, die als Kind erfolgreich operiert wurden, hatten wiederkehrende Beschwerden im Erwachsenenalter.
Verlaufskontrolle
- Kein systematisches Follow-up in der medizinischen Grundversorgung
- Auch lange Zeit nach der Operation können Komplikationen wie Infertilität und sexuelle Dysfunktion auftreten.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Kraft KH, Shukla AR, Canning DA. Hypospadias. Urol Clin North Am 2010; 37: 167-81. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- van der Zanden LF, van Rooij IA, Feitz WF. Aetiology of hypospadias: a systematic review of genes and environment. Hum Reprod Update 2012; 18: 206-83. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Montag S, Palmer LS. Abnormalities of penile curvature: chordee and penile torsion. ScientificWorldJournal 2011; 28: 1470-8. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Mir T, Simpson RL, Hanna MK. The use of tissue expanders for resurfacing of the penis for hypospadias cripples. Urology 2011; 78: 1424-9. PubMed
- Aigrain Y, Cheikhelard A, Lottmann H, Lortat-Jacob S. Hypospadias: surgery and complications. Horm Res Paediatr 2010; 74: 218-22. PubMed
- Ching CB, Wood HM, Ross JH, et al. The Cleveland Clinic experience with adult hypospadias patients undergoing repair: their presentation and a new classification system. BJU Int 2011; 107: 1142-6. PubMed
- González R, Ludwikowski BM. Importance of urinary flow studies after hypospadias repair: a systematic review. Int J Urol 2011; 18: 757-61. PubMed
Autor*innen
- Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster