Pharmakologie
- Die Hanfpflanze, Cannabis sativa, enthält – je nach Sorte, Geschlecht und Anbaubedingungen in unterschiedlichem Mengenverhältnis – 85 Cannabinoide, das sind Terpenphenole, die in keiner anderen Pflanze vorkommen.
- Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) kommen in Cannabis sativa in höheren Konzentrationen vor als andere Cannabinoide und sind hinsichtlich ihrer pharmakologischen Effekte bislang am besten untersucht.
Pharmakodynamik1
- Ein Großteil der heute bekannten pharmakologischen Wirkungen von THC wird über die Cannabinoidrezeptoren CB1 und CB2 vermittelt.
- Die höchste CB1-Rezeptordichte findet man im ZNS, besonders in Arealen, die für Schmerzempfinden und Kurzzeitgedächtnis relevant sind.
- CB2-Rezeptoren befinden sich vorwiegend in der Peripherie, häufig auf Immunzellen. Sie können aber auch im ZNS vorkommen, besonders im Rahmen pathologischer Zustände wie Gliom-Erkrankungen, Neuropathien, Alzheimer-Demenz und Atherosklerose.
- Auch in peripheren Nerven, Uterus, Hoden, Knochen und den meisten anderen Körpergeweben kommen CB2- und zu einem viel niedrigeren Anteil auch CB1-Rezeptoren vor.
Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC)
- Die psychotrope Hauptkomponente von Cannabis
- Ein potenter CB1- und CB2-Agonist
- Wirkungen
-
- Analgesie
- Muskelrelaxation
- Appetitstimulation/Antiemese
- Immunmodulation/Entzündungshemmung
- psychotrope Effekte
- stimmungsverändernd
- Angst und psychotische Symptome induzierend
- sedierend
Cannabidiol (CBD)
- Hat eine niedrige Affinität zu CB1- und CB2-Rezeptoren und wirkt dort antagonistisch.
- Ein großer Teil seiner pharmakodynamischen Effekte wird jedoch über andere Mechanismen vermittelt, z. B. über die Wiederaufnahmehemmung des endogenen CB-Rezeptor-Agonisten N-Arachidonoyl-Ethanolamid (AEA).
- Wirkungen
- angstlösend
- antipsychotisch
- antidepressiv
- antiinflammatorisch
- antiemetisch
- spasmolytisch
- gefäßerweiternd
- antioxidativ
- weniger stark analgetisch als THC
- Scheint die unerwünschten Effekte von THC zu reduzieren, wie:
- Sedierung
- Angst
- psychotische Symptome
- Tachykardie
- verminderte Standsicherheit
Arzneiformen
- Nach den im Abschnitt Rechtliche Grundlagen genannten Voraussetzungen sind in Deutschland folgende Cannabinoid-haltige Arzneiformen verordnungsfähig:
- Blüten definierter Cannabis-Sorten
- Das THC/CBD-Verhältnis kann je nach Sorte zwischen 1/10 und > 300/1 liegen.
- Cannabisextrakt (ölige Cannabisölharzlösung)
- Rezepturarzneimittel mit Dronabinol (THC)
- Fertigarzneimittel
- Nabiximols-Mundspray: ethanolischer Extrakt aus Cannabis (THC/CBD ca. 1/1)
- Nabilon-Kapseln: synthetisches THC-Derivat
- Dronabinol-Kapseln: synthetisches Dronabinol (THC), nur als Import (in den USA nur zur Behandlung von Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei AIDS-Patient*innen und als Ersatzmedikament gegen Chemotherapie-induzierte Übelkeit zugelassen)
Einnahmeart
- Welche Einnahmeart gewählt wird, hängt ab von:
- Patientenwunsch
- Indikation
- evtl. Begleiterkrankungen.
- U. U. können auch verschiedene Einnahmearten kombiniert werden.
Cannabisblüten
- Inhalation nach Vaporisation
- Einbacken in Gebäck
- Dosis pro Anwendung ist schwer steuerbar.
- Aus Sicherheitsgründen nicht zu empfehlen.
- Rauchen, z. B. als Joint
- Wegen möglicher Gesundheitsschäden nicht zu empfehlen.
Cannabisextrakte
- Zur oralen Anwendung, z. B. als ölige Dronabinol-Lösung
Dronabinol
- Ethanolische Lösung 10 mg/ml zur Inhalation
- Kapseln 2,5 mg/5 mg/10 mg
- Ölige Tropfen 25 mg/ml
Nabiximols
- Mundspray als Fertigarzneimittel erhältlich
Nabilon
- In Kapselform als Fertigarzneimittel erhältlich
Pharmakokinetik
Wirkeintritt
- Inhalation: < 5 min
- Oral: 30–90 min
Maximaler Effekt
- Inhalation: < 15 min
- Oral: 2–3 h
Wirkdauer
- Inhalation: 3–4 h
- Oral: 4–8 h
Dosierung
- Bislang können keine allgemein gültigen Empfehlungen zur Dosierung gegeben werden.
- Alle Cannabinoid-haltigen Medikamente sind einschleichend zu dosieren.
- Wie häufig die Einnahme pro Tag erfolgen soll, orientiert sich an:
- Einnahmeart
- Indikation
- Wirkdauer
- Empfohlen werden folgende Anfangs- und maximalen Tagesdosierungen:
- Cannabisblüten
- Anfangsdosis: 0,05–0,1 g/d
- max. Tagesdosis: 3 g/d
- Dronabinol
- Anfangsdosis: 1,7–2,5 mg/d
- max. Tagesdosis: 30 mg/d
- Nabilon
- Anfangsdosis: 1 mg/d
- max. Tagesdosis: 6 mg/d
- Nabiximols
- Anfangsdosis: 1 Sprühstoß (2,7 mg THC + 2,5 mg CBD)
- max. Tagesdosis: 12 Sprühstöße
- Cannabisblüten
Indikationen
- Cannabinoid-haltige Arzneimittel werden in einem großen Indikationsspektrum eingesetzt. In einem großen Teil der Anwendungsgebiete ist die Wirksamkeit jedoch nicht ausreichend durch geeignete Studien belegt.
- Diskutierte Anwendungsgebiete2
- chronische Schmerzen, z. B. neuropathische Schmerzen
- psychische Störungen, z. B.:
- neurologische Erkrankungen, z. B.:
- Spastik, z. B. bei multipler Sklerose
- Epilepsie
- hyperkinetische Störungen, z. B.:
-
- Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen, Kachexie
- Darmerkrankungen, z. B.:
- Schlafstörungen
- Hautkrankheiten und -symptome, z. B.:
- Neurodermitis
- Psoriasis
- Akne inversa
- Hyperhidrosis
- Augenkrankheiten, z. B. Glaukom
- rheumatische Erkrankungen, z. B. rheumatoide Arthritis
- onkologische Erkrankungen
Wirksamkeitsnachweise
National Academy of Sciences (NAS)
- In einer umfassenden systematischen Metaanalyse aus dem Jahr 2017 bewertet die US-amerikanische National Academy of Sciences die Beweislage (Evidence) zur Wirksamkeit verschiedener Cannabinoid-haltiger Arzneimittel, differenziert nach Indikationsgebieten, wie folgt:2
- Eindeutig oder im Wesentlichen belegte Wirksamkeit
- chronische Schmerzen (Cannabis)
- Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie (orale Cannabinoide)
- Beschwerden infolge von Spastik bei multipler Sklerose (orale Cannabinoide)
- Wirksamkeitsbelege moderater Qualität
- Kurzfristige Verbesserung von Schlafstörungen, die im Zusammenhang mit einer der folgenden Erkrankungen aufgetreten sind (Cannabinoide, vor allem Nabiximols):
- Begrenzte Hinweise auf Wirksamkeit
- Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei HIV und AIDS (Cannabis und orale Cannabinoide)
- untersucherbeurteilte Spastik bei multipler Sklerose (orale Cannabinoide)
- Tourette-Syndrom (orales THC)
- Angst (orales CBD)
- Untersucht mithilfe eines Tests, in dem Patient*innen mit sozialer Phobie vor Publikum sprechen sollten.
- posttraumatische Belastungsstörung (Nabilon)
Pro und Contra
- Häufig vorgebrachte Argumente für oder gegen die Verordnung von Cannabinoid-haltigen Arzneimitteln:
- pro
- Wirksamkeitsbelege in einigen Indikationen
- Verträglichkeit besser als die Standardbehandlung (z. B. NSAR oder Opioide in der Schmerztherapie)
- Patientenpräferenz (z. B. bei chemotherapieinduzierter Übelkeit)
- weitere Therapieoption bei „austherapierten“ Patient*innen
- bislang keine ausgeprägte Abhängigkeitsproblematik bei medizinischer Anwendung
- contra
- unzureichende nachgewiesene Wirksamkeit
- fehlende Daten zur Dosierung
- Verträglichkeit schlechter als die Standardbehandlung (z. B. die aktuell empfohlenen Antiemetika)
- Gefahr der Grenzverwischung zwischen medizinischer Anwendung und illegalem Drogenkonsum
- höhere Kosten gegenüber der Standardbehandlung
- pro
Indikationsspezifische Bewertung
- Näheres zur Datenlage in einzelnen Anwendungsgebieten und zur Kontroverse um deren Bewertung siehe die Artikel zu den entsprechenden Krankheitsbildern:
Verträglichkeit und Sicherheit
Mögliche Nebenwirkungen
- Unter regelmäßiger Einnahme tritt in der Regel eine Gewöhnung ein. Daher gelten Cannabinoide als gut verträglich.
- Psyche, Kognition und Psychomotorik
- Euphorie, seltener Depressivität
- Angst
- Müdigkeit
- Benommenheit
- Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen
- Herz und Kreislauf
- Verminderter Muskeltonus
- Verwirrtheits- und Unruhezustände
- Möglicherweise erwünschte spasmolytische und antiemetische Begleiteffekte
- Es gibt Hinweise darauf, dass CBD, das selbst nicht psychotrop und vermutlich auch nicht analgetisch wirkt, unerwünschte Effekte von THC neutralisiert, wie:
- Sedierung
- Angst
- psychotische Symptome
- Tachykardie
- verminderte Standsicherheit
Kontraindikationen
- Schwere Persönlichkeitsstörung
- Psychose
- Schwere Herz-Kreislauf-Erkrankung
- Schwangerschaft und Stillzeit
- Die Behandlung von Kindern und von Jugendlichen vor der Pubertät sollte besonders sorgfältig abgewogen werden.
- Besonders bei älteren Patient*innen können stärkere zentralnervöse und kardiovaskuläre Nebenwirkungen auftreten.
Interaktionen
- Interaktionen von Cannabinoiden mit folgenden Substanzen wurden beobachtet:
- Sympathomimetika, z. B.:
- Amphetamine
- Kokain
- Anticholinergika, z. B.:
- Atropin
- Scopolamin
- Antihistaminika
- Antidepressiva, z. B.:
- Amitriptylin
- Desipramin
- Fluoxetin
- Lithium
- Hypnotika, z. B.:
- Barbiturate
- Benzodiazepine
- Opioide
- Naltrexon
- Buspiron
- Muskelrelaxanzien
- Phenazon
- Theophyllin
- Sympathomimetika, z. B.:
Fahrtauglichkeit und Arbeitssicherheit
- Möglicherweise ist die Fahrtauglichkeit und Arbeitssicherheit unter der Einnahme von Cannabinoiden eingeschränkt.
- Insbesondere zu Beginn der Therapie sowie in der Eindosierungsphase ist von einer aktiven Teilnahme am Straßenverkehr und von der Arbeit an gefährlichen Maschinen abzuraten.
- Ob bei stabiler Dosierung die Teilnahme am Straßenverkehr möglich ist, soll in jedem Einzelfall nach Rücksprache mit den Patient*innen entschieden werden.
Quellen
Literatur
- Marco EM, García-Gutiérrez MS, Bermúdez-Silva FJ et al. Endocannabinoid system and psychiatry: in search of a neurobiological basis for detrimental and potential therapeutic effects. Front Behav Neurosci. 2011;5:63. PMID: 22007164 PubMed
- National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine. The health effects of cannabis and cannabinoids. Januar 2017; letzter Zugriff 23.10.2017 www.nap.edu
- National Institute for Health and Care Excellence. Cannabis-based medicinal products. NICE guideline. 11 November 2019. www.nice.org.uk
Autor
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg