Allgemeine Informationen

Definition

• Sekundäre (symptomatische) Kopfschmerzen durch vielseitige Störungen im Bereich der Halswirbelsäule¹
  • oft aber nicht zwangsläufig mit Nackenschmerzen¹
• Definition entsprechend der ICHD-3-Klassifikation von Kopfschmerzen
  • in der Vergangenheit z. T. umstrittenes Krankheitsbild^2-3
  • Die aktuellen ICHD-3-Kriterien sind strenger hinsichtlich Kausalität als in früheren Fassungen.
• Abzugrenzen sind Kopfschmerzen im Rahmen eines zervikomyofaszialen Schmerzsyndroms, also Kopfschmerz durch „Nackenverspannungen“.¹

Häufigkeit

• Prävalenz etwa 0,4–4 % der Allgemeinbevölkerung^3-4
• Mittleres Erkrankungsalter 33 Jahre³
• Frauen sind häufiger betroffen als Männer.³

Ätiologie und Pathogenese

Ursachen im HWS-Bereich

• Entwicklungsstörungen des kraniovertebralen Überganges und der oberen HWS¹
• Tumoren des kraniozervikalen Überganges und der oberen HWS¹
  • primäre Tumoren, aber auch z. B. multiples Myelom
• Morbus Paget des Schädels mit sekundärer basilärer Impression
• Rheumatoide Arthritis der oberen HWS¹
• Morbus Bechterew der oberen HWS¹
• Zervikale Spondylose¹
• Frakturen der oberen HWS¹
• HWS-Schleudertrauma⁵
• Osteomyelitis der oberen zervikalen Wirbelkörper¹
• Verletzungen oder degenerative Veränderungen des Atlantoaxialgelenks oder C2/C3-Wirbelbogengelenks^5-6
• Retropharyngeale Tendinitis (getrennt klassifiziert nach ICHD-3)¹
• Kraniozervikale Dystonien (getrennt klassifiziert nach ICHD-3)¹

Pathogenese

• Schmerzentstehung
  • Reizung der sensiblen Nervenwurzel C2 (N. occipitalis major, N. occipitalis minor), seltener C3 (N. occipitalis tertius)^1,7
  • Hinterkopf und Nacken als sensibles Versorgungsgebiet der sensiblen Anteile der Spinalnerven C2 und C3
    • Der Spinalnerv C1 ist rein motorisch.
• Schmerzausstrahlung (nach frontal)
  • Interaktion zwischen der oberen zervikalen und der trigeminalen Schmerzwahrnehmung (trigeminozervikaler Komplex)^1,5,7
  • Die Folge ist eine Projektion des Schmerzes in Versorgungsgebiete des N. trigeminus (V).

Prädisponierende Faktoren

• Entwicklungsstörungen des kraniovertebralen Überganges
• Vorangegangene Verletzungen bzw. Traumata⁸
• Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule

ICPC-2

• N01 Kopfschmerz
• L83 Halswirbelsäulensyndrom

ICD-10

• G44 Sonstige Kopfschmerzsyndrome
  • G44.3 Chronischer posttraumatischer Kopfschmerz
  • G44.8 Sonstige näher bezeichnete Kopfschmerzsyndrome
• R51 Kopfschmerz

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Diagnosekriterien nach ICHD-3¹

• A: Kopfschmerz, der das Kriterium C erfüllt.
• B: Klinischer und/oder bildgebender Nachweis einer Erkrankung oder Läsion innerhalb der HWS oder des Weichteilgewebes im Halsbereich, die als valide
  Ursache von Kopfschmerzen bekannt ist.
• C: Erfüllung von mindestens zwei der folgenden Kriterien:
  1. Kopfschmerzen in zeitlichem Zusammenhang mit der zervikalen Erkrankung oder der Läsion
  2. Besserung der Kopfschmerzen bei Besserung der zervikalen Erkrankung
  3. eingeschränkte HWS-Beweglichkeit mit Verschlechterung des Kopfschmerzes durch entsprechende kopfschmerzprovozierende Manöver
  4. Beseitigung des Kopfschmerzes nach diagnostischer Blockade einer zervikalen Struktur bzw. des versorgenden Nervs
• D: Nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärt

Differenzialdiagnosen

• Siehe auch die Artikel Kopfschmerzen bzw. Nackenschmerzen.
• Kopfschmerz vom Spannungstyp
• Migräne
• Kopfschmerz bei zervikomyofaszialem Schmerzsyndrom¹
  • muskulär verursachte Schmerzen mit Triggerpunkten
  • oft mit Kopfschmerz vom Spannungstyp assoziiert
• Kopfschmerzen durch übermäßigen Gebrauch von Medikamenten
• Dissektion der Zervikalarterien⁵
  • akute Nacken- und Kopfschmerzen, ggf. neurologische Defizite
• Meningitis⁵
• Zervikale Radikulopathie (z. B. Diskusprolaps)¹
• Fibromyalgiesyndrom
• Kraniozervikale Dystonie¹
• Retropharyngeale Tendinitis¹
  • Kopfschmerz durch Entzündung oder Verkalkung der retropharyngealen Weichteile, provozierbar durch Retroflexion
  • Nachweis abnormer Schwellung der prävertebralen Weichteile mittels Bildgebung

Anamnese

Kopfschmerzanamnese

• Schmerzcharakter
  • meist dumpf-ziehender Schmerz
• Intensität
  • meist moderate Schmerzen^3,5
• Dauer
  • Dauerschmerz über Stunden bis Tage
  • oft attackenartige Verstärkung
• Lokalisation
  • einseitige Kopfschmerzen vom Hinterkopf^1,3,5
  • Schmerzausstrahlung von hinten nach vorne
• Mögliche Auslöser
  • Palpation der Nackenmuskulatur⁵
  • Kopfbewegung (u. a. längeres Beugen oder Strecken des Kopfes)

Begleitsymptome

• Nackenschmerzen¹
• Übelkeit, Erbrechen und Photo-/Phonophobie¹
  • generell in geringerem Umfang als bei Migräne
• Diffuser Begleitschmerz in Schulter oder Arm³
• Seltenere Begleitsymptome³
  • Schluckstörung mit Kloßgefühl
  • Schwindel
  • Tränenfluss oder Rhinorrhö
  • periorbitales Ödem

Klinische Untersuchung

• Allgemeine körperliche Untersuchung
  • Augenmerk auf Kopf, Hals, Wirbelsäule und Schulterregion
  • Anzeichen einer möglichen Grunderkrankung (z. B. Tumoren)
• Unauffällige orientierende neurologische Untersuchung
• Fakultative klinische Zeichen
  • Schonhaltung
  • reduzierte HWS-Beweglichkeit
    • Cave: Flexion der HWS bei rheumatoider Arthritis vermeiden!
  • Muskelhartspann
  • Druckempfindlichkeit Höhe HWK 2 mit Schmerzprovokation

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

• Keine erforderlich

Diagnostik bei Spezialist*innen

Bildgebende Diagnostik

• Bildgebung der oberen HWS und benachbarter Strukturen zum Nachweis möglicher Ursachen
  • z. B. Steilstellung, Knickbildung, Spondylose, kongenitale, posttraumatische, entzündliche oder neoplastische Veränderungen
  • Modalität abhängig von der Verdachtsdiagnose (Röntgen/CT/MRT)
• Ggf. Funktionsaufnahmen zum Nachweis beeinträchtigter Beweglichkeit

Diagnostische Nervenblockade bzw. der Facettengelenke

• Blockade mittels Injektion von Lokalanästhetika und/oder Kortikosteroiden
• Zielstrukturen⁷
  • Nervenblockade N. occipitales major und minor (C2 und C3)
  • Facettengelenke C2/C3
• Diagnostisch wegweisend nach zweimaliger Schmerzreduktion auch in nicht anästhesierten Regionen (unter Placebokontrolle)⁵
• Ein Sistieren des Kopfschmerzes nach diagnostischer Blockade ist ein Diagnosekriterium der ICHD-3-Klassifikation.¹

Indikationen zur Überweisung

• Bei Verdacht auf zervikogenen Kopfschmerz abhängig von der vermuteten Ursache Überweisung an Neurolog*innen, Orthopäd*innen oder Schmerzspezialist*innen
• Bei Verdacht auf andere sekundäre Kopfschmerzen oder eine Radikulopathie der oberen HWS Überweisung an Neurologie bzw. Orthopädie

Therapie

Therapieziele

• Symptome lindern.
• Ursache behandeln.

Allgemeines zur Therapie

• Behandlung der Grunderkrankung anstreben, falls möglich.
• Bisher sind keine wirksamen, evidenzbasierten Therapien für zervikogenen Kopfschmerz verfügbar.^5,7
• Bei wahrscheinlichem zervikogenem Kopfschmerz bietet sich ein pragmatischer Therapieansatz mit Physiotherapie, ggf. mit manueller Therapie an.⁵

Medikamentöse Therapie

• Bisher keine nachgewiesene Wirksamkeit medikamentöser Therapien zur spezifischen Behandlung des zervikogenen Kopfschmerzes⁵
  • bei Unwirksamkeit zeitnahe Beendigung einer probatorischen Therapie (cave Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch)
• Eingesetzte Substanzen (Off-Label-Therapien)⁹
  • Analgetika bzw. NSAR
    • z. B. Ibuprofen 400 mg 3 x/d über einige Tage
  • Muskelrelaxanzien
  • trizyklische Antidepressiva
  • Antikonvulsiva
• Nachgewiesen unwirksame Substanzen
  • Botulinumtoxin¹⁰
  • Opiate³

Weitere Therapien

• Manuelle Therapien und Physiotherapie
  • bislang uneindeutige Daten zur Wirksamkeit^5,11
  • in einer Studie Besserung des zervikogenen Kopfschmerzes durch manuelle Therapie und/oder Physiotherapie mit Wirksamkeit über 12 Monate¹²
• Entspannungstechniken
  • z. B. progressive Muskelentspannung nach Jacobson
• Bewegung und körperliche Aktivität abhängig von der Grunderkrankung/Ursache

Blockade

• Blockade von N. occipitalis major oder Facettengelenk mit Lokalanästhetika und/oder Kortikosteroiden
• Bedeutung in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung¹
• Therapeutisch selten anhaltende Wirksamkeit⁵
  • Beschwerdelinderung in 94 % der Fälle, jedoch nur durchschnittlich 23,5 Tage anhaltend

Elektrotherapie

• TENS (Transkutane elektrische Nervenstimulation), Iontophorese, Magnetfeld
  • Einsatz nicht empfohlen, keine kontrollierten Studien zur Wirksamkeit⁵

Operative Therapie

• Operative Eingriffe zur Behandlung der Grunderkrankung, falls indiziert
• Operative, neuroablative Verfahren
  • z. B. „Befreiung“ oder Resektion des N. occipitalis major
    • Konnte in Studien eine vorübergehende Besserung bewirken.⁵
  • keine kontrollierten Studien zur Wirksamkeit einer Operation

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

• Chronifizierung der Schmerzen
• Kopfschmerzen durch übermäßigen Gebrauch von Medikamenten

Prognose

• Die Prognose ist abhängig von der Ursache des zervikogenen Kopfschmerzes.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

• Zervikogene Kopfschmerzen

Illustrationen

Seitaufnahme der Halswirbelsäule: 1 = Prosessus spinosus axis 2 = Atlas 3 = Schädelbasis 4 = Dens axis 5 = Facettengelenk 6 = Wirbelkörper C6