Läsion des N. cutaneus femoris lateralis (Meralgia paraesthetica)

Zusammenfassung

  • Definition:Schädigung des N. cutaneus femoris lateralis, meist durch Kompression im Bereich des lateralen Leistenbands (Meralgia paraesthetica).
  • Häufigkeit:Inzidenz von 4 pro 10.000 Einw. pro Jahr. Männer sind häufiger betroffen.
  • Symptome:Schmerzen und Sensibilitätsstörungen wie Missempfindungen und Taubheit im Bereich des vorderen und lateralen Oberschenkels.
  • Befunde:Schmerzen und Sensibilitätsstörungen mit Provokation durch Extension im Hüftgelenk. Provokationstests wie „umgekehrter Lasègue“ und Hoffman-Tinel-Zeichen.
  • Diagnostik:Fakultative apparative Zusatzdiagnostik umfasst MRT, SEP, ENG, Sonografie.
  • Therapie:Häufig spontane Remission (ca. 25 %). Konservative Therapieverfahren wie Infiltration mit Lokalanästhetika und Kortikosteroiden. Bei therapierefraktären Beschwerden ggf. operative Therapie.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Meralgia paraesthetica bezeichnet ein Nerven-Engpass-Syndrom mit Kompression des N. cutaneus femoris lateralis im Bereich des Leistenbandes.
    • Gehört zu den selteneren Kompressionssyndromen.

Häufigkeit

  • Inzidenz von etwa 4 pro 10.000 Einw. pro Jahr1
  • Häufigkeitsgipfel im mittleren Lebensalter (50–55 Jahre)
  • Männer sind häufiger betroffen als Frauen (3:1).

Ätiologie und Pathogenese

Anatomie

  • N. cutaneus femoris lateralis
    • rein sensibler Nerv
    • Versorgungsgebiet: Haut des vorderen und lateralen Oberschenkels
    • Entspringt aus den lumbalen Nervenwurzel L2 und L3.
    • Verläuft von medial oben nach lateral unten zur Spina iliaca anterior superior.
    • Verlauf entlang des Leistenbandes variabel (4 Verlaufsvarianten)
    • distal des Leistenbands Aufspaltung in ventralen und dorsalen Ast

Ätiologie

  • Ursache der Meralgia paraesthetica ist eine Einklemmung des N. cutaneus femoris lateralis in Höhe des lateralen Leistenbandes, meist zwischen beiden Blättern des Leistenbandes
  • Unterschieden werden eine symptomatische Form (selten) oder eine genuine Form bei ungünstigen anatomischen Verhältnissen (häufig).
  • Seltenere Ursachen von Läsionen des N. cutaneus femoris lateralis
    • traumatische Verletzung
    • Mononeuropathie (z. B. im Rahmen eines Diabetes mellitus)
    • iatrogene Schädigung
      • im Rahmen bestimmter Eingriffe (z. B. Spongiosaplastik aus Beckenkamm, Herniotomie, Leistenlappen, ilioinguinaler Zugang zum Acetabulum)
  • Assoziation mit dem Karpaltunnelsyndrom

Prädisponierende Faktoren

  • Übergewicht
  • Schwangerschaft
  • Enge Hosen („Jeanskrankheit“) oder Korsette
  • Enge Sicherheitsgurte („Seat-Belt-Syndrom“)
  • Körperliche Anstrengungen (z. B. Fahrradfahren oder langes Laufen)
  • Bettlägerigkeit
  • Retroperitoneale Tumoren
  • Diabetische Polyneuropathie
  • Intraabdominelle Erkrankungen (z. B. Aszites)

ICPC-2

  • N81 Verletzung Nervensystem, andere

ICD-10

  • G57 Mononeuropathien der unteren Extremität
    • G57.1 Meralgia paraesthetica

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose ergibt sich aus der typischen Anamnese und klinischen Untersuchung.
  • Die Verdachtsdiagnose kann mittels Blockade mit einem Lokalanästhetikum und ggf. weiterer Zusatzdiagnostik bestätigt werden.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

Beschwerden

  • Brennende Schmerzen, Missempfindungen (Parästhesien) und Taubheit (Hypästhesie)
  • Lokalisation an der Vorder- bzw. Außenseite des Oberschenkels
    • Versorgungsgebiet des N. cutaneus femoris lateralis
  • In 7–10 % beidseitige Manifestation

Auslöser und Risikofaktoren

  • Provokation der Symptome durch:
    • Streckung im Hüftgelenk
    • Bewegungen, die Zug am Leistenband ausüben.
      • langes Stehen, Gehen oder Liegen mit gestrecktem Bein
  • Zu enge Kleidung oder Kompression durch einen Sicherheitsgurt
  • Grunderkrankungen (z. B. Diabetes mellitus Typ 2)
  • Schwangerschaft

Klinische Untersuchung

  • Allgemeine Untersuchung des lumbalen Rückens, der Hüfte und des Beins
  • Inspektion und Palpation der Leistenregion und des Oberschenkels

Neurologische Untersuchung

  • Prüfung der Sensibilität
    • Sensibilitätsstörungen im Bereich des ventrolateralen Oberschenkels
  • Prüfung der Motorik
    • keine motorischen Defizite (rein sensibler Nerv)
  • Provokationstests der Meralgia paraesthetica
    • „umgekehrter Lasègue“
      • Hyperextension im Hüftgelenk und Flexion im Kniegelenk
    • Hoffmann-Tinel-Zeichen
      • Beklopfen der Region medial der Spina iliaca superior
    • Provokation von Schmerzen und Missempfindungen am Oberschenkel
  • Prüfung der Muskeleigenreflexe
    • unauffällig bei Meralgia paraesthetica
    • PSR abgeschwächt bei L3/4-Syndrom (Differenzialdiagnose)

Diagnostik beim Spezialisten

  • Blockade des N. cutaneus femoris lateralis 
    • probatorische Infiltration mit einem Lokalanästhetikum an der Durchtrittsstelle des Nervs
    • bei Meralgia paraesthetica Besserung der Schmerzsymptomatik
  • Somatosensorisch evozierte Potenziale (SEP)
    • meist pathologische Latenzverzögerung oder Fehlen einer kortikalen Antwort
  • Sensible Neurografie
    • Messung der sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit
    • technisch z. T. schwierig umsetzbar
  • MRT
    • pathologische Signalveränderungen zur Lokalisation der Kompression
    • Nachweis symptomatischer Ursachen (z. B. retroperitoneale Tumoren)
  • Sonografie
    • Nachweis typischer Veränderungen im Nervenquerschnitt

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Eine Behandlungsbedürftigkeit ist nicht immer gegeben.2
    • spontane Besserungen in ca. 25 % der Fälle
    • In leichten Fällen ist ein abwartendes Verhalten gerechtfertigt.
  • Aufgrund begrenzter Studienlage existiert nur wenig Evidenz für die Behandlungsempfehlungen.3-4
  • Konservative und operative Therapieoptionen
    • Die konservative Therapie sollte vorrangig durchgeführt werden.
    • Operative Behandlung bei schweren Verläufen und therapieresistenten Beschwerden in Erwägung ziehen.5
    • Beobachtungsstudien zeigen eine vergleichbare Wirksamkeit von Injektionsbehandlung und Operation.3-4

Konservative Therapie

  • Schonung und Vermeidung von Auslösern
    • z. B. von Streckbelastungen im Hüftgelenk oder enger Kleidung
  • Infiltrationen mit Lokalanästhetika
    • unter die Fascia lata medial und kaudal der Spina iliaca superior anterior
    • ggf. ergänzende Infiltration mit Kortikosteroiden
  • Gewichtsreduktion
  • Schmerztherapie
    • Antiphlogistika
    • Schmerztherapie nach WHO-Stufenschema
    • Kombinationstherapien können vorteilhaft sein.
    • Siehe auch Therapie im Artikel Neuropathische Schmerzen.

Operative Therapie

  • Zwei operative Techniken stehen zur Verfügung.4
  • Dekompression und Neurolyse des Nervs
    • Beseitigung aller komprimierenden Strukturen
  • Durchtrennung des Nervs (Neurektomie)5
    • führt oft zur Besserung
    • bleibende Hypästhesie im Innervationsareal und Gefahr von Deafferenzierungsschmerzen4

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Prognose

  • Spontane Remission der Beschwerden in ca. 25 % der Fälle
  • Erfolgreiche konservative Behandlung in bis zu 50 % der Fälle
  • In Beobachtungsstudien vergleichbares Outcome von konservativer Injektionsbehandlung, operativen Verfahren (Dekompression
    oder Nervendurchtrennung) sowie Fällen ohne Behandlung3

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

N. cutaneus.png
Innervationsgebiet des Nervus cutaneus femoris lateralis

Quellen

Literatur

  1. Pearce JMS. Meralgia paraesthetica (Bernhardt-Roth syndrome)Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry 2006;77:84. jnnp.bmj.com
  2. Parisi TJ, Mandrekar J, Dyck PJ, Klein CJ. Meralgia paresthetica: relation to obesity, advanced age, and diabetes mellitus. Neurology 2011; 77:1538. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Khalil N, Nicotra A, Rakowicz W. Treatment for meralgia paraesthetica. Cochrane Database Syst Rev. 2012;12(12):CD004159. Published 2012 Dec 12. doi:10.1002/14651858.CD004159.pub3 doi.org
  4. Assmus H, Antoniadis G, Bischoff C: Carpal and cubital tunnel and other rare nerve compression syndromes. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 14–26. www.aerzteblatt.de
  5. de Ruiter GC, Wurzer JA, Kloet A. Decision making in the surgical treatment of meralgia paresthetica: neurolysis versus neurectomy. Acta Neurochir (Wien) 2012; 154:1765. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Harney D, Patijn J. Meralgia paresthetica: diagnosis and management strategies. Pain Med 2007; 8:669. PubMed
  7. van Slobbe AM, Bohnen AM, Bernsen RM, et al. Incidence rates and determinants in meralgia paresthetica in general practice. J Neurol 2004; 251:294. PubMed
  8. Kho KH, Blijham PJ, Zwarts MJ. Meralgia paresthetica after strenuous exercise. Muscle Nerve 2005; 31:761. PubMed
  9. Gooding MS, Evangelista V, Pereira L. Carpal Tunnel Syndrome and Meralgia Paresthetica in Pregnancy. Obstet Gynecol Surv. 2020;75(2):121-126. doi:10.1097/OGX.0000000000000745 doi.org
  10. D. R. Durbin, K. B. Arbogast, E. K. Moll: Seat belt syndrome in children: a case report and review of the literature. In: Pediatr Emerg Care. 2001 Dec;17(6), S. 474–477. www.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Wong CA, Scavone BM, Dugan S, et al. Incidence of postpartum lumbosacral spine and lower extremity nerve injuries. Obstet Gynecol 2003; 101:279. PubMed

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg

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