Karpaltunnelsyndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist ein Engpasssyndrom mit Druckschädigung des Nervus medianus bei seinem Durchtritt durch den Karpaltunnel am Handgelenk.
  • Häufigkeit:Häufigstes Nervenkompressionssyndrom, betrifft etwa 3–5 % der Bevölkerung. Frauen sind etwa 3- bis 4-mal häufiger betroffen. Der Häufigkeitsgipfel liegt zwischen 40 und 60 Jahren.
  • Symptome:Nächtliches Einschlafen und Missempfindungen der Hände ist ein häufiges Erstsymptom (Brachialgia paraesthetica nocturna) mit Besserung durch Ausschütteln; im Verlauf anhaltende Schmerzen und Sensibilitätsstörungen sowie Kraftminderung und Atrophie des lateralen Daumenballens.
  • Befunde:Im Frühstadium oft unauffällig; im Verlauf Sensibilitätsstörungen (Berührung, Schmerz, Ertasten). Bei schwerer Ausprägung Kraftminderung des Daumens mit Thenaratrophie. Provokationstests wie das Hoffmann-Tinel-Zeichen und der Phalen-Test liefern zusätzliche Hinweise.
  • Diagnostik:Die Diagnose basiert auf typischer Anamnese und klinisch-neurologischer Untersuchung der Hände. Zusatzdiagnostik mittels elektrophysiologischer Untersuchung (Neurografie) sowie ggf. bildgebenden Untersuchungen (Nervensonografie oder MRT).
  • Therapie:Therapie abhängig vom Schweregrad. Konservative Therapie mit Schonung, nächtlicher Schienung oder Kortikosteroidinjektion. Operative Therapie mit Spaltung des Retinaculum flexorum eher bei schweren Verläufen oder Therapieversagen. Spontane Remissionen in 20–30 % der Fälle, insbesondere bei jungen Frauen.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist das häufigste Nerven-Engpass-Syndrom, bei dem es zu einer Druckschädigung des N. medianus im Karpaltunnel an der Handwurzel kommt.1-5

Häufigkeit

  • Häufigste periphere Nervenschädigung und häufigstes Nervenkompressionssyndrom1,5
  • Inzidenz von 3–4 Fällen pro 1.000 Einw. pro Jahr5
  • Prävalenz von 3,7–10,6 % der Bevölkerung2-3,5
  • Häufigkeitsgipfel im Alter zwischen 40 und 60 Jahren5
  • Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer (ca. 72 % der Fälle).2,4-6

Ätiologie und Pathogenese

  • Bei Nervenkompressionssyndromen kommt es durch chronische Druckschädigung eines peripheren Nervens in einer anatomischen Engstelle zu Missempfindungen sowie sensiblen oder motorischen Ausfallerscheinigungen.

Anatomische Verhältnisse

  • Karpaltunnel 
    • Anatomischer Raum, der dorsal von den Handwurzelknochen und ventral vom Karpalband (Retinaculum flexorum) begrenzt wird.
      30272-karpaltunnelsyndrom-anatomie-und-symptome_2.jpg
      Karpaltunnel
    • Führt den N. medianus und die Sehnen der Beugemuskulatur der Hand.
  • Versorgungsgebiet des distalen N. medianus
    • sensible Innervation
      • Palmarseite der Finger I–III und radialseitig des Fingers IV (Daumen bis Ringfinger)
      • radialseitige Handinnenfläche
      • Das Handgelenk wird radialseitig vom R. palmaris des N. medianus, der schon vor dem Karpaltunnel abgeht, sensibel versorgt.
    • motorische Innervation 
      • Thenarmuskulatur
        • M. opponens pollicis
        • M. abductor pollicis brevis
        • M. flexor pollicis brevis
      • Mittelhandmuskulatur (Mm. lumbricales der ersten 2 Finger)

Ätiologie2,5

  • Ursache ist eine Kompression des N. medianus durch Volumen- und dadurch Druckzunahme im Karpaltunnel.
  • Die meisten Fälle werden als idiopathisch gewertet.2,5
  • Manifestation im Rahmen anderer Erkrankungen2
  • Hinweise auf familiäre Häufungen2
    • Bedeutung der genetischen Komponente noch nicht geklärt

Pathogenese2,5

  • Kompression des N. medianus bei seinem Durchtritt durch den Karpaltunnel (Canalis carpi), in dem ein erhöhter Druck herrscht.
    • physiologischer Druck im Karpaltunnel: 2–10 mmHg
    • Druckerhöhung mit Symptomen: ab ca. 30 mmHg
  • Ischämie des Nervs (v. a. Epineurium)
    • durch Kompression der Venolen, später auch der Arteriolen
    • bei intermittierender Ischämie keine dauerhafte Schädigung mit nur vorübergehenden Symptomen
    • bei anhaltender Ischämie Nervenfaserschädigungen (axonaler Verlust), intraneurales Ödem und Vernarbung
  • Verlust der Myelinscheide (Demyelinisierung)
    • frühzeitige Folge der Kompression
    • teils symptomlos, daher mögliche Erklärung für bereits auffällige Nervenleitgeschwindigkeit in der Diagnostik ohne entsprechende Symptomatik5
  • Sensible Nervenfasern sind von einer Schädigung durch Kompression eher betroffen als motorische Nervenfasern.3
    • Gefühlsstörungen gehen motorischen Ausfällen im Krankheitsverlauf voraus.
  • Nächtliche Symptomzunahme (Brachialgia paraesthetica nocturna)
    • vermutlich durch ein Abknicken des Handgelenks im Schlaf

Prädisponierende Faktoren

  • Körperliche Tätigkeiten3,5-6
    • Inzidenz bei körperlich Arbeitenden um das 3- bis 7-Fache erhöht
    • KTS gehört zu den häufigsten anerkannten Berufskrankheiten in Europa.
    • Bewegungsmuster mit erhöhtem Risiko5-6
      • repetitive Beuge- und Streckbewegungen der Hände
      • Vibration bzw. Hand-Arm-Schwingungen (z. B. Presslufthammer) 
      • hoher Kraftaufwand der Hände
    • Beispiele für Berufe mit Gefährdung6
      • Fließbandarbeit, Fleischverpackung und Geflügelverarbeitung
      • Gartenarbeit, Forstarbeit und Landwirtschaft
      • Reinigungsarbeit
      • Fabrik- und Baustellenarbeit
      • professionelle Musiker*innen
    • kein Nachweis einer Risikoerhöhung bei Tätigkeiten am Computer,,
  • Schwangerschaft und Stillzeit5
    • Prävalenz von 5–43 % unter Schwangeren, meist im 3. Trimenon
    • Ursache vermutlich vermehrte Flüssigkeitsretention
    • üblicherweise spontane Remission innerhalb von Wochen nach der Geburt
    • z. T. längere Verläufe oder erst postpartaler Beginn bei stillenden Müttern
  • Traumata und Frakturen im Bereich des Handgelenks2,7
  • Rheumatoide Arthritis5-6
    • vermutlich aufgrund einer Verengung des Karpaltunnels durch Verdickung der Sehnenscheiden und Gelenkkapsel5
  • Dialysepflichtigkeit5
    • Risiko von 80–90 % bei langfristiger Dialyse
    • insbesondere Shuntarm betroffen
    • möglicherweise aufgrund Amyloid-Ablagerungen an Sehnen im Karpaltunnel5
  • Übergewicht und Gewichtszunahme2
  • Diabetes mellitus,
  • Exzessiver Alkoholkonsum
  • Distale Tendovaginitis und Tendinopathien der oberen Extremität2
  • Tendovaginosis stenosans (schnellender Finger)
    • Komorbidität in 16–43 %
  • Perimenopause und postmenopausale Östrogentherapie
  • Multiples Myelom
  • Amyloidose
  • Hypothyreose (Myxödem)
  • Akromegalie
  • Längerfristige Kortikosteroidbehandlung
  • Genetische Prädisposition2

ICPC-2

  • N81 Verletzung Nervensystem, andere

ICD-10

  • G56 Mononeuropathien der oberen Extremität
    • G56.0 Karpaltunnel-Syndrom
    • G56.1 Sonstige Läsionen des N. medianus

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Diagnosestellung in den meisten Fällen durch typische Anamnese und klinische Untersuchung hinreichend möglich
    • z. T. erschwert durch atypische Symptome oder Lokalisation3-4
  • Anamnese und Beschwerdebild2-5
    • „Einschlafen der Hand“ als typisches Erstsymptom
    • Symptome nur oder verstärkt in der Nacht (Brachialgia paraesthetica nocturna)
    • Taubheitsgefühl (Hypästhesie), Kribbeln (Parästhesien) und Schmerzen in der Handinnenfläche und den radialseitigen Fingern, später Feinmotorikstörung, Lähmungen (Paresen) und Atrophie des Daumenballens
  • Klinische Untersuchung3-4
    • im Frühstadium oft unauffällig
    • sensible oder motorische Ausfallerscheinungen und Funktionseinschränkungen
  • Elektrophysiologische Zusatzdiagnostik6,8
    • sensible und motorische Neurografie des N. medianus zum sicheren Nachweis

Differenzialdiagnosen

Weitere Läsionsorte des N. medianus5

  • Läsion am Oberarm
    • Ursache z. B. Humerusfraktur, Drucklähmung während des Schlafs („Paralysie des Amants“)
    • klinisch motorische Defizite der Pronation und Opposition von Daumen und kleinem Finger sowie „Schwurhand“ beim Versuch eines Faustschluss
  • Läsion im Bereich der Ellenbeuge9
    • Ursachen z. B. Frakturen, iatrogen (Venenpunktion)
    • klinisch ähnlich einem Ausfall am Oberarm
  • Pronator-Teres-Syndrom9-10
    • Kompression durch Lacertus fibrosus unter dem Musculus pronator teres im Unterarm
    • Ursache z. B. exzessive Pro-/Supinationsbewegungen (Schraubendrehen)
    • klinisch ähnliche Symptomatik wie das KTS, jedoch häufig Druckschmerz am M. pronator teres und Aggravation durch Pronation und Supination
    • Hoffmann-Tinel- und Phalen-Zeichen am Handgelenk negativ
  • Läsion des N. interosseus anterior am Unterarm9
    • Ursache z. B. Fraktur, Plexusneuritis, auch spontan
    • klinisch rein motorische Defizite der tiefen Beuger der Digiti I und II sowie des M. pronator quadratus (Pronation des Handgelenks)
  • Läsion im Bereich der Handinnenfläche9
    • Ursache oft Mitbeteiligung bei Druckschädigung des N. ulnaris im Rahmen einer „Radfahrerlähmung“
    • klinisch Thenaratrophie und ggf. sensible Ausfälle

Anamnese

Verlauf und Lokalisation

  • Zeitlicher Verlauf4
    • meist Beginn mit intermittierenden Beschwerden und langsame Progredienz
    • zunächst vermehrtes Auftreten in der Nacht, anschließend auch tagsüber
    • sehr selten akute Verläufe
  • Lokalisation2,5,11
    • dominante Hand häufiger betroffen
    • häufig beidseitige Manifestation (80 %)
      • Gefahr der Fehldeutung als HWS-Syndrom oder Polyneuropathie
      • dadurch meist einseitige Differenzialdiagnosen (z. B. Schlaganfall) unwahrscheinlich

Beschwerden

  • Frühsymptome4
    • vorübergehendes, meist nächtliches „Einschlafen“ der Hand und Missempfindungen (Brachialgia paraesthetica nocturna)
      • typisches Erstsymptom und sehr spezifisch für das KTS
    • Besserung der Beschwerden durch Ausschütteln der Hände
  • Sensibilitätsstörungen und Schmerzen3-4,6
    • Kribbeln (Parästhesien), elektrisierende, z. T. anhaltende Missempfindungen (Dysästhesien), Schmerzen, Taubheit (Hypästhesie)
    • Lokalisation: Innervationsgebiet des N. medianus
      • Handinnenfläche, vorwiegend radiale Finger (DI–DIII), jedoch auch darüber hinausgehende palmarseitige Symptome
      • teilweise auch Taubheit der gesamten Hand
      • Schmerzausstrahlung über den Unter- und Oberarm bis zur Schulter möglich
    • Beeinträchtigung der Feinmotorik durch Sensibilitätsverlust in den Fingerspitzen (Stereoästhesie)
      • Führt zu Verlust der Geschicklichkeit der Hand (z. B. Fallenlassen von Gegenständen).
  • Motorische Ausfälle4
    • Kraftminderung und Atrophie der Thenarmuskulatur im Spätstadium der Erkrankung
    • motorische Einschränkungen funktionell meist wenig relevant
  • Fragebögen und Bewertungsskalen
    • Können zur Erfassung der subjektiven Beschwerden verwendet werden.
    • z. B. „Boston Carpal Tunnel Questionnaire", CTS-6, visuelle Analogskala

Modifizierende Faktoren

  • Besserung durch Ausschütteln, Massieren oder kaltes Wasser12
  • Verschlechterung durch anhaltende Beuge- oder Streckstellung der Hand
    • z. B. beim Stricken, Tragen von Einkaufstaschen, Telefonieren, Halten eines Buches, Rad- und Motorradfahren7,13
  • Verstärkung oft nach körperlicher Arbeit 
    • z. B. durch repetitive Handbewegungen, Vibrationen,

Risikofaktoren2,5-7

  • Trauma und Frakturen
  • Schwangerschaft
  • Perimenopause
  • Medikamentenanamnese (Kortikosteroide, Hormontherapie)
  • Metabolische oder rheumatologische Erkrankungen
  • Familienanamnese
  • Berufliche oder sonstige manuelle Tätigkeiten (belastungsinduziertes KTS)

Klinische Untersuchung

  • Untersuchung der oberen Extremitäten, des Nackens und der Schultern
    • insbesondere zum Ausschluss anderweitiger Ursachen3
  • Allgemeine körperliche Untersuchung bei vermuteter Grunderkrankung
  • Im Frühstadium der Erkrankung häufig unauffälliger Untersuchungsbefund
  • Inspektion und Palpation
    • Sollte zur Erkennung einer Muskelatrophie im Seitenvergleich erfolgen.
    • Muskelatrophie des lateralen Daumenballens (Thenar) im Spätstadium der Erkrankung
    • verminderte Schweißsekretion bei vegetativer Nervenschädigung (selten)
  • Zweipunktediskrimination
    Zweipunktediskrimination
    Prüfung der Sensibilität
    • Oberflächensensibilität
      • Prüfung durch Berührung mit Wattebausch
      • herabgesetzte Sensibilität im Versorgungsgebiet des N. medianus (Handinnenfläche vom Daumen bis zum Ringfinger)
    • Stereoästhesie
      • Prüfung der Zweipunktediskrimination
      • Ertasten und Erkennen von Objekten (z. B. Münze, Büroklammer)
  • Prüfung der Motorik
    • Abduktions- und Oppositionsschwäche des Daumens sollte beachtet werden.
    • „Flaschenzeichen“: Objekt (z. B. Flasche) kann aufgrund der Lähmung nicht vollständig umfasst werden.
      • guter Indikator einer motorischen Beteiligung
  • Provokationstests
    • Können fakultativ angewandt werden.
    • Phalen-Test und Hoffmann-Tinel-Zeichen

Provokationstests

  • Fakultative Tests mit eher untergeordnetem diagnostischem Wert5
    • einfache Durchführbarkeit und im Frühstadium der Erkrankung hilfreich4
    • Nicht ausreichend, um die Diagnose zu stellen oder auszuschließen.5-6
  • Hoffmann-Tinel-Zeichen
    Karpaltunnelsyndrom, Tinel-Zeichen
    Hoffmann-Tinel-Zeichen
    • Sensitivität von 38–100 % und Spezifität von 55–100 %4
    • Beklopfen des Handgelenks über dem Karpaltunnel2-3
    • bei positivem Zeichen elektrisierende Missempfindungen entlang des Verlaufs des N. medianus bis in die Fingerspitzen3
    • allgemeines Zeichen für Nervenschädigungen (auch bei anderen Nervenläsionen)
  • Phalen-Test
    Phalen-Test
    Phalen-Zeichen
    • Sensitivität von 42–85 % und Spezifität von 54–98 %4
    • passive Flexion der Hand bis auf 90 Grad (durch Untersucher*in oder Patient*in) und Halten der Position über etwa 60 sec2-4
    • bei positivem Zeichen Kribbeln, Missempfindungen oder Schmerzen im Versorgungsgebiet des N. medianus3-5

Diagnostik bei Spezialist*innen

Elektrophysiologische Diagnostik

  • Elektroneurografie (ENG)15
    • Soll als relevante Methode zum zuverlässigen Nachweis eines KTS durchgeführt werden.
    • sensible und motorische Neurografie zur Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG) und Amplituden
    • Leitbefund: reduzierte Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus im Karpaltunnel als Folge der Demyelinisierung
  • Elektromyografie (EMG)
    • routinemäßig nicht erforderlich
    • Kann zum Nachweis einer axonalen Läsion oder bei technischen Schwierigkeiten durchgeführt werden.
    • Untersuchung des M. abductor pollicis brevis zum Nachweis von Denervierungszeichen

Weitere Zusatzdiagnostik

  • Röntgenuntersuchung des Handgelenks
    • Kann bei klinischem Verdacht auf Arthrose oder knöcherne Veränderungen erfolgen.
  • MRT- oder CT-Untersuchung des Handgelenks
    • Kann in begründeten Fällen (z. B. Tumorverdacht) durchgeführt werden.
    • MRT mit Sensitivität von 72–96 % und Spezifität von 33–74 % für das KTS
  • Hochauflösende Nervensonografie
    • Kann zur Diagnostik des KTS eingesetzt werden.
    • Sensitivität von 74 % und Spezifität von 77 % in Metaanalyse
    • stark abhängig von der Erfahrung des Untersuchers
    • Nachweis möglicher zystischer Raumforderungen im Karpaltunnel (z. B. Ganglion)

Indikationen zur Überweisung

  • Bei intermittierenden Beschwerden, die länger als etwa 4–6 Wochen anhalten oder anhaltenden Beschwerden Überweisung an Neurolog*innen.10

Therapie

Therapieziele

  • Symptomatik (Schmerz, Sensibilität, Motorik) verbessern.
  • Funktionelle Einschränkungen der Hand verbessern.
  • Irreversible Schädigung (z. B. Muskelatrophie) verhindern.
  • Arbeitsunfähigkeit vermeiden.

Allgemeines zur Therapie

  • Therapeutisches Vorgehen abhängig vom Schweregrad des KTS3,5,7
    • Indikation zur Therapie bei häufigen oder anhaltenden typischen Beschwerden
    • Bei 20–30 % der Betroffenen kommt es zu einer spontanen Besserung.
  • Entscheidung zwischen konservativer und operativer Therapie
    • Kriterien, die für eine konservativen Therapie sprechen:
      • Frühstadium der Erkrankung (z. B. nächtlichen Parästhesien)
      • junge Patient*innen und Schwangere
      • behandelbare Grunderkrankung
      • mögliche Anpassung der Auslöser (z. B. manuelle Tätigkeiten, Beruf).
    • Kriterien, die für eine operative Therapie sprechen:
      • ausbleibender Behandlungserfolg unter konservativer Therapie
      • beeinträchtigende Schmerzen oder Parästhesien
      • anhaltende sensiblen und/oder motorischen Ausfallserscheinungen
      • funktionelle Einschränkung der Hand
      • akute, rasch progrediente Verläufe (seltene, absolute OP-Indikation).

Konservative Therapie

  • Anlegen einer Handgelenksschiene in der Nacht
    • Soll im Rahmen der konservativen Therapie erfolgen.
    • gute Evidenzlage
  • Lokale Injektion von Kortikosteroiden
    • Kann im Rahmen der konservativen Therapie erfolgen.
    • ultraschallgesteuerte Infiltration von Kortikoid-Kristallsuspension in den Karpaltunnel mit geringer Komplikationsrate
    • Mehrfachinjektionen nicht empfohlen
    • in der Langzeitwirkung der Schienung und Operation unterlegen aber bessere Wirksamkeit als orale Kortikosteroide16-18
  • Orale Kortikosteroidtherapie
    • Kann im Rahmen der konservativen Therapie erfolgen.
    • Anwendung auf 2 Wochen begrenzt
  • „Low-Level-Laser“-Therapie
    • Kann im Rahmen der konservativen Therapie versucht werden.
    • unzureichende Evidenz bezüglich klinischer Wirksamkeit in einer Cochrane-Metaanalyse19
  • Konservative Behandlungsverfahren ohne Bewertung
    • lokale Ultraschalltherapie
      • unzureichende Evidenz in einer Cochrane-Metaanalyse20
    • Medikamente ohne anhaltenden signifikanten Effekt
      • NSAR, Diuretika, Vitamin B6-Präparate
    • Yoga, Handwurzelmobilisation, Nervengleitübungen, Magnettherapie

Entlastung und Schienung des Handgelenks

  • Manuelle Schonung und Entlastung des Handgelenks1,5,7
    • insbesondere Vermeidung auslösender Tätigkeiten (z. B. im Beruf)
  • Schienung des Handgelenks in der Nacht2,5,21-25
    • Handgelenk in neutraler Position (0 Grad) oder seltener 20-Grad-Extension
    • abhängig vom Schweregrad über 4 Wochen bis 3 Monate
    • z. T. eingeschränkte Akzeptanz aufgrund des beeinträchtigten Schlafkomforts
    • Wirksamkeit nach 12 Monate gegenüber alleiniger Schonung
    • bei ausgeprägter Symptomatik der Operation unterlegen
    • Häufig eingesetzt bei Schwangeren, da sich die Symptome postpartal zurückbilden.

Operative Therapie

  • Operative Behandlung bei entsprechender Indikationsstellung den konservativen Maßnahmen eindeutig überlegen
  • Ziel der Operation: vollständige Spaltung des Retinaculum flexorum
    • Öffnung des Karpaltunnels und Dekompression des N. medianus
    • Schonung der Nn. medianus und ulnaris und ihrer Äste
  • Durchführung der Operation
    • in der Regel ambulante Operation
    • beidseitiger Eingriff in einer Sitzung möglich
    • Operationsverfahren mit vergleichbaren klinischen Ergebnissen26
      • offene Operation mit Spaltung des Retinaculum flexorum
      • endoskopische Spaltung des Retinaculum flexorum
    • Eine Rekonstruktion des Retinakulum kann erfolgen.
    • Verletzungen des motorischen Astes des N. medianus sollen ausgeschlossen werden.
    • Endoskopische Eingriffe und kleine offene Zugänge sollten nur durch erfahrene Operateur*innen durchgeführt werden.
    • ggf. operative Mitbehandlung von Begleiterkrankungen
  • Komplikationen bei beiden Verfahren in der Größenordnung von 1 %
  • Funktionelle Nachbehandlung mit Bewegungsübungen soll ab dem ersten postoperativen Tag erfolgen.
  • Arbeitsunfähigkeit nach Operation bei regulärem Verlauf 3–6 Wochen

Anerkennung als Berufskrankheit

  • In Europa liegt das Karpaltunnelsyndrom auf Rang 6 der Häufigkeit anerkannter Berufskrankheiten.
  • Tritt ein Karpaltunnelsyndrom im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit auf (repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke, erhöhter Kraftaufwand der Hände oder Hand-Arm-Schwingungen), kann dieses als Berufskrankheit anerkannt werden.
  • Es wird eine ausführliche Arbeits- und Gefährdungsanamnese erhoben, und ein Gutachten entscheidet über die Anerkennung als Berufskrankheit.
  • Dann können bestimmte Maßnahmen auf Kosten der GUV durchgeführt werden:
    • geeignete Schutzvorrichtungen
    • spezielle therapeutische Maßnahmen
    • Einstellung der gefährdenden Tätigkeit
    • Minderung der Erwerbsfähigkeit bis zur Zahlung einer Rente.
  • Manchmal muss die Tätigkeit erst vollständig aufgegeben werden, damit die Anerkennung als Berufskrankheit erfolgen kann.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Der Verlauf des Karpaltunnelsyndroms variiert.5-6
    • milde, intermittierende Symptome mit Phasen der Beschwerdefreiheit
    • schwere Verläufe mit progredienten und anhaltenden Defiziten
  • Spontane Besserungen (20–30 %) kommen insbesondere bei jungen Frauen (vermutlich hoher Anteil schwangerschaftsassoziierter KTS) vor.5,7

Komplikationen

  • Irreversible Schädigung des N. medianus mit persistierender Symptomatik
  • Funktionelle Einschränkung der Hand4
  • Komplikationen der Operation3-5
    • Nervenläsionen (< 0,5 % der Eingriffe)
      • N. medianus, N. ulnaris und deren Äste
    • Wundinfektionen
    • komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)
      • extrem selten
    • inkomplette Spaltung des Retinaculum flexorum
      • häufigste Ursache einer ausbleibenden Besserung der Beschwerden
    • protrahierte Narbenschmerzen oder -empfindlichkeit4
      • vermutlich durch Ausbildung schmerzhafter Neurome im Narbenbereich
      • in der Regel Besserung nach spätestens 6 Monaten
    • Rezidive nach anfänglicher Beschwerdefreiheit
  • Rezidive (< 5 % der Fälle)5,27
    • Ursachen: Vernarbungsvorgänge, knöcherne Veränderungen, rheumatische Synovialitis und Chondrokalzinose (v. a. bei Dialyse)
    • erneute Diagnostik, konservative Therapie und ggf. operative Revision

Prognose

  • Spontane Remissionen in bis 20–30 % der Fälle5,7
    • bei Schwangeren meist postpartale Remission innerhalb von Wochen
  • Insgesamt gute Prognose bei frühzeitiger Diagnosestellung und Behandlung
    • auch in höherem Lebensalter (> 70 Jahre), bei Diabetes mellitus oder bei Dialysebehandlung
  • Behandlungseffekt nach konservativer Therapie5
    • Verbesserung durch nächtliche Schienung in etwa 70 % nach Wochen bis Monaten
    • Verbesserung durch lokale Kortikosteroidinjektion in 60–70 % nach 6 Monaten
    • Langzeiteffekte der konservativen Therapien der Operation unterlegen
  • Behandlungseffekt nach Operation3,5,28
    • Erfolgsraten der Operation von 80–90 %
    • meist sofortige Besserung der Schmerzen, langsam rückläufige Sensibilitätsstörung (Tage bis Wochen) und Besserungen bis zu 1 Jahr postoperativ möglich
    • Muskelatrophie oft nicht mehr rückbildungsfähig
    • Ein langes Intervall (> 3 Jahre) zwischen Symptombeginn und Operation verschlechtert die Prognose.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

30272-karpaltunnelsyndrom-anatomie-und-symptome_2.jpg
Anatomie des N. medianus beim Durchtritt durch den Karpaltunnel
Innervation hand .jpg
Sensible Innervation der rechten Hand (Quelle: Wikimedia Commons)
Muskelatrophie der Thenarmuskulatur
Muskelatrophie der Thenarmuskulatur
Hoffmann-Tinel-Zeichen
Hoffmann-Tinel-Zeichen
Phalen-Test
Phalen-Test 
Prüfung der Zweipunktediskrimination
Prüfung der Zweipunktediskrimination

Quellen

Literatur

  1. LeBlanc KE, Cestia W. Carpal Tunnel Syndrome. Am Fam Physician 2011; 83: 952-8. American Family Physician
  2. Middleton SD, Anakwe RE. Carpal tunnel syndrome. BMJ. 2014;349:g6437. doi: 10.1136/bmj.g6437. DOI
  3. Wipperman J, Goerl K. Carpal Tunnel Syndrome: Diagnosis and Management. Am Fam Physician. 2016;94(12):993-999. www.aafp.org
  4. Padua L, Coraci D, Erra C, Pazzaglia C, Paolasso I, Loreti C, Caliandro P, Hobson-Webb LD. Carpal tunnel syndrome: clinical features, diagnosis, and management. Lancet Neurol. 2016 Nov;15(12):1273-1284. pmid:27751557 PubMed
  5. BMJ Best Practice. Carpal tunnel syndrome. Last reviewed: 6 Jun 2022. Last updated: 23 Oct 2019. (letzter Zugriff am 06.07.2022) bestpractice.bmj.com
  6. American Academy of Orthopaedic Surgeons. Management of Carpal Tunnel Syndrome Evidence-Based Clinical Practice Guideline. Published February 29, 2016. aaos.org
  7. Hughes R. Peripheral nerve diseases: The bare essentials. Practical Neurology 2008; 8: 396-405. PubMed
  8. Jablecki CK, Andary MT, Floeter MK et al. Practice parameter: Electrodiagnostic studies in carpal tunnel syndrome. Report of the American Association of Electrodiagnostic Medicine, American Academy of Neurology, and the American Academy of Physical Medicine and Rehabilitation. Neurology 2002; 58: 1589-92. PubMed
  9. Preston D C, Shapiro B E. Electromyography and Neuromuscular Disorders, 4th Edition. Elsevier: , 2020. www.eu.elsevierhealth.com
  10. Neal SL, Fields KB. Peripheral nerve entrapment and injury in the upper extremity. Am Fam Physician 2010; 81: 147-55. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Bland JD, Rudolfer SM. Clinical surveillance of carpal tunnel syndrome in two areas of the United Kingdom, 1991-2001. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2003; 74: 1674-9. PubMed
  12. D`Arcy CA, McGee S. Does this patient have carpal tunnel syndrome? JAMA 2000; 283:3110-17. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  13. Bland JD. Carpal tunnel syndrome. BMJ. 2007 Aug 18;335(7615):343-6. Review. PubMed PMID: 17703044 www.ncbi.nlm.nih.gov
  14. Vaught MS, Brismée JM, Dedrick GS, et al.. Association of disturbances in the thoracic outlet in subjects with carpal tunnel syndrome: a case-control study. Journal of hand therapy 2011; 24: 44-52. PubMed
  15. American Association of Electrodiagnostic Medicine, American Academy of Neurology, and American Academy of Physical Medicine and Rehabilitation. Practice parameter for electrodiagnostic studies in carpal tunnel syndrome: summary statement. Muscle Nerve. 2002 Jun;25(6):918-22. PubMed PMID: 12115985 www.ncbi.nlm.nih.gov
  16. Marshall SC, Tardif G, Ashworth NL. Local corticosteroid injection for carpal tunnel syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007, Issue 2. Art. No.: CD001554. DOI: 10.1002/14651858.CD001554.pub2 www.cochranelibrary.com
  17. Wong SM, Hui AC, Lo SK, Chiu JH, Poon WF, Wong L. Single vs two steroid injections for carpal tunnel syndrome: A randomized clinical trial. Int J Clin Pract 2005; 59: 1417-21. PubMed
  18. Atroshi I, Flondell M, Hofer M, et al. Metyhylprednisolone injections for the carpal tunnel syndrome: A randomized, placebo-controlled trial. Ann Intern Med 2013; 159: 309-17. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  19. Rankin IA, Sargeant H, Rehman H, Gurusamy KS. Low‐level laser therapy for carpal tunnel syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews 2017, Issue 8. Art. No.: CD012765. DOI: 10.1002/14651858.CD012765. www.cochranelibrary.com
  20. Page MJ, O'Connor D, Pitt V, Massy‐Westropp N. Therapeutic ultrasound for carpal tunnel syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 3. Art. No.: CD009601. DOI: 10.1002/14651858.CD009601.pub2. www.cochranelibrary.com
  21. Muller M, Tsui D, Schnurr R, Biddulph-Deisroth L, Hard J, MacDermid JC. Effectiveness of hand therapy interventions in primary management of carpal tunnel syndrome: a systematic review. J Hand Ther 2004; 17: 210-28. PubMed
  22. McClure PS. Evidence-based practice: an example related to the use of splinting in a patient with carpal tunnel syndrome. Hand Ther 2003; 16: 256-63. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  23. Page MJ, Massy‐Westropp N, O'Connor D, Pitt V. Splinting for carpal tunnel syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 7. Art. No.: CD010003. DOI: 10.1002/14651858.CD010003. www.cochranelibrary.com
  24. Shrivastava N, Szabo RM. Decision making in the management of entrapment neuropathies of the upper extremity. J Musculoskeletal Med 2008; 25: 278-89. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  25. Piazzini DB, Aprile I, Ferrara PE, et al. A systematic review of conservative treatment of carpal tunnel syndrome. Clin Rehabil 2007; 21: 299-314. PubMed
  26. Vasiliadis HS, Georgoulas P, Shrier I, Salanti G, Scholten RJPM. Endoscopic release for carpal tunnel syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014, Issue 1. Art. No.: CD008265. DOI: 10.1002/14651858.CD008265.pub2. www.cochranelibrary.com
  27. Mosier BA, Hughes TB. Recurrent carpal tunnel syndrome. Hand Clin. 2013 Aug;29(3):427-34. doi:10.1016/j.hcl.2013.04.011 Epub 2013 Jun 27. Review.PubMed PMID: 23895723 www.ncbi.nlm.nih.gov
  28. Atroshi I, Larsson G-U, Ornstein E, Hofer M, Johnsson R, Ranstam J. Outcomes of endoscopic surgery compared with open surgery for carpal tunnel syndrome among employed patients: randomised controlled trial. BMJ 2006; 332: 1473-6. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung, Neurologie, Hamburg

Link lists

Authors

Previous authors

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit