Zusammenfassung
- Definition:Akute schmerzhafte und motorische Neuropathie, die meist einseitig den Plexus brachialis betrifft. Unterschieden werden idiopathische, vermutlich autoimmune Formen (INA) und hereditäre Formen (HNA).
- Häufigkeit:Inzidenz von 1 pro 1.000 Einw. pro Jahr mit Erkrankungsgipfel um das 40. Lebensjahr. Männer sind häufiger betroffen als Frauen.
- Symptome:Akute, sehr starke Schmerzen, meist in der Schulter-Arm-Region gefolgt von Paresen im betroffenen Bereich. Teils langwierige Verläufe mit persistierenden Defiziten über Jahre.
- Befunde:Proximal betonte Paresen, die sich nicht einer Spinalnervenwurzel zuordnen lassen. Bei beidseitiger Manifestation asymmetrische Verteilung.
- Diagnostik:Klinische Diagnose unterstützt durch Bildgebung, Elektrophysiologie und Liquordiagnostik. Zudem Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen.
- Therapie:Keine kausale Therapie verfügbar. Symptomatisch adäquate Schmerztherapie, frühzeitige Kortikosteroide sowie Physiotherapie.
Allgemeine Informationen
Definition
- Die neuralgische Amyotrophie bezeichnet eine schmerzhafte, motorische Neuropathie, meist des Plexus brachialis mit Manifestation im Schulter-Arm-Bereich.1
- Synonyme: neuralgische Schulteramyotrophie, Armplexusneuritis, Parsonage-Turner Syndrom
- Nach Ätiologie werden zwei Formen unterschieden:
- idiopathische neuralgische Amyotrophie (90 % der Fälle)
- hereditäre neuralgische Amyotrophie (10 % der Fälle).
Häufigkeit
- Inzidenz von 1 pro 1.000 Einw. pro Jahr2-3
- Erkrankungsgipfel um das 40. Lebensjahr
- Männer sind häufiger betroffen als Frauen (ca. 2:1).
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Idiopathische neuralgische Amyotrophie
- Ursache unbekannt, vermutlich autoimmune Genese3
- beschriebene Auslöser3
- vorangegangene Infektionserkrankung (bis 43 %)
- zeitgleiche Hepatitis-E-Infektion (ca. 10 %)3
- postoperativ oder nach Intensivbehandlung
- postpartal
- biomechanischer Stress
- z. B. schwere körperliche Belastung (der oberen Extremität)
- Hereditäre neuralgische Amyotrophie
- autosomal-dominante Vererbung mit hoher Penetranz
- in ca. 50 % der Fälle mit Mutation im Septin-9-Gen auf Chromosom 17q25 assoziiert
- oft zusätzliche körperliche Merkmale (z. B. Kleinwuchs, faziale Asymmetrie, tiefer Ohrenansatz, Hypotelorismus oder Gaumenspalte)
Pathogenese
- Genauer Pathomechanismus weitgehend unverstanden
- autoimmune Hypothese3
- genetische Prädisposition (auch bei idiopathischer Form)
- Biomechanischer oder sonstiger Trigger löst Autoimmunreaktion aus.
- Entzündungsreaktion gerichtet gegen Strukturen des Plexus
- autoimmune Hypothese3
- Histopathologische Merkmale in Nervenbiopsien3
- lymphozytäre entzündliche Infiltration der betroffenen Nerven
- Zeichen der axonalen Degeneration
- De- und Remyelinisierung
- Lokalisation der Neuropathie
- Meist sind obere Anteile des Plexus brachialis betroffen.
- Meist ist die dominante Seite betroffen.
- beidseitige Plexusneuritis in 25–30 % der Fälle3
- auch extrabrachiale Manifestation möglich (17 %),
- z. B. Plexus lumbosacralis, Hirnnerven, Bauchwand und N. phrenicus
Prädisponierende Faktoren
- Genetische Prädisposition3
- Kollagenosen
- Hodgkin-Lymphom
- I. v. Drogenabusus
ICPC-2
- N94 Periphere Neuritis/Neuropathie
ICD-10
- G54 Krankheiten von Nervenwurzeln und Nervenplexus
- G54.5 Neuralgische Amyotrophie
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- In erster Linie klinische Diagnose2-3
- Unterstützung mittels Elektrophysiologie, ggf. MRT und Nervensonografie3
- Diagnostik zum Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen2
- z. B. MRT HWS und Lumbalpunktion
Differenzialdiagnosen
- Radikuläre Läsion (v. a. C5–7)
- z. B. zervikaler Bandscheibenvorfall
- sensible und motorische Defizite im Versorgungsgebiet derselben Nervenwurzel
- Schultergelenksarthrose
- Zervikale Spondolyse
- Muskuloskelettale Schulterschmerzen
- Transverse Myelitis
- Borreliose
- Zoster-Radikulitis
- Diabetische Mononeuropathie
- Thoracic-outlet-Syndrom
- Apikales Bronchialkarzinom (Pancoast-Tumor)
- Horner-Syndrom, eher untere Plexusläsion
- Multifokal motorische Neuropathie
- schmerzlos, distal betonte Paresen
- Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)
- Schmerz diffus, vasomotorische Symptome
Anamnese
Symptome
- Akute neuropathische Schmerzen in der Schulter-Arm-Region3
- häufigstes Erstsymptom (> 90 %),
- oft nächtlicher Beginn (> 60 %),
- starke, „unerbittliche“ Schmerzen (Analogskala > 7/10)3
- mediane Dauer der Schmerzen 17 Tage
- Motorische Störungen
- proximal betonte Paresen in der betroffenen Region
- variables Muster („Patchiness“)
- Beginn variabel
- 33 % innerhalb der ersten 24 h
- 27 % nach mehr als 2 Wochen
- im Median 13 Tage nach Schmerzbeginn
- Sensible Störungen
- Beidseitige Manifestation (25–30 %)
- falls beidseitiges Auftreten, dann asymmetrische Manifestation
- Extrabrachiale Manifestationen (17 %)
- Schmerzen und Paresen der unteren Extremitäten bei Beteiligung des Plexus lumbosacralis
- Dyspnoe bei Beteiligung des N. phrenicus
Begleitumstände
- Vorangegangene Infekte
- Körperliche (biomechanische) Beanspruchung der betroffenen Extremität3
- Reiseanamnese (Hepatitis E)
- Grunderkrankungen (Kollagenosen, Hodgkin-Lymphom)
- Familienanamnese
- hereditäre Form bei positiver Familienanamnese und rezidivierenden Attacken wahrscheinlicher3
Klinische Untersuchung
- Allgemeine körperliche Untersuchung
- Untersuchung der Schulter-Arm-Region
- Inspektion und Palpation des Schultergürtels (Asymmetrie? Atrophie?)
- passive Bewegungseinschränkung eher bei Schultergelenksarthrose2
- Orientierende neurologische Untersuchung
- abnorme Bewegungsführung der Schulter und des Oberarms als Hinweis auf Paresen
Paresen
- Untersuchung durch Einzelkraftprüfung im Seitenvergleich
- Graduierung der Paresen nach Kraftgrad
- 0: keine Kontraktion
- 1: tastbare Zuckung und Spur einer Kontraktion
- 2: aktive Bewegung möglich unter Aufhebung der Schwerkraft
- 3: aktive Bewegung möglich gegen die Schwerkraft
- 4: aktive Bewegung möglich gegen Widerstand
- 5: normale Kraft
- Variables Verteilungsmuster der Paresen („Patchiness“)
- Häufige Lähmungen bei „klassischer“ Verteilung der Muskelschwäche
- Einschränkung der Außenrotation der Schulter3
- Einschränkung der Flexion des Daumens und Zeigefingers3
- Ausfall des Musculus serratus anterior bei Beteiligung des N. thoracicus longus (50 %)3
- erschwerte Elevation des Armes nach vorne
- Abstehen des Schulterblattes nach hinten (Scapula alata)
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Labordiagnostik
- bei neuralgischer Amyotrophie in der Regel unauffällig2
- z. T. diskrete Infektkonstellation aufgrund vorangegangener Infekte
- Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen
- Basisdiagnostik bei peripheren Neuropathien
- Differenzialblutbild, CRP, Elektrolyte (Na, K, Ca), Leberwerte (GGT, AP, GOT, GPT), Nierenwerte (Kreatinin, Harnstoff), HbA1c, Vitamin B12, TSH, Serum-Elektrophorese
- ggf. Serologie zur Abklärung einer (vorangegangenen) Infektion
- z. B. Hepatitis-E-Virus
- insbesondere bei Hepatitis, Reiseanamnese und Konsum von Schweinefleischprodukten
- z. B. Hepatitis-E-Virus
- bei neuralgischer Amyotrophie in der Regel unauffällig2
Diagnostik bei Spezialist*innen
Elektrophysiologie
- EMG (Elektromyografie)
- pathologische Befunde häufig erst nach 2–4 Wochen3
- Nachweis der Denervierung betroffener Muskeln
- Detektion des Verteilungsmusters
- ENG (Elektroneurografie)
- eingeschränkte Sensitivität3
- unauffällige Neurographie in 80 % der klinisch betroffenen Nerven2-3
- differenzialdiagnostische Abklärung (Polyneuropathie oder periphere Mononeuropathie)
- eingeschränkte Sensitivität3
Bildgebung
- Röntgen-Thorax
- Zwerchfellhochstand bei Beteiligung des N. phrenicus
- Ausschluss eines Pancoast-Tumors
- MRT der HWS
- differenzialdiagnostische Abklärung
- MRT des Plexus brachialis
- Auffälligkeiten nur in 5 % der Fälle
- Die hochauflösende Bildgebung peripherer Nerven verbessert die Detektion.
- Nachweis segmentaler Verdickungen mit „uhrglasartigen“ Konstriktionen und Hyperintensität3
- Hochauflösende Nervensonografie
- Nachweis fokaler Verdickungen der betroffenen Nerven
- Konstriktion und Torsion, insbesondere bei protrahierten Verläufen3
Liquordiagnostik
- Lumbalpunktion inkl. Liquordiagnostik
- Differenzialdiagnostische Abklärung (z. B. Borreliose, Zoster-Radikulitis)
- Eiweißerhöhung bei etwa 10 % der Fälle
Indikationen zur Überweisung
- Bei Verdacht auf die Erkrankung Überweisung zu Neurolog*innen
Therapie
Therapieziele
- Schmerzlinderung
- Funktionelle Besserung
Allgemeines zur Therapie
- Keine kausale Therapie verfügbar
- Symptomatische Behandlung2-3
- akute Schmerztherapie
- z. B. mit NSAR, Morphinpräparaten, Gabapentin oder Pregabalin
- Patientenedukation
- Physiotherapie
- akute Schmerztherapie
- Kortikosteroide mit Wirksamkeit bei frühzeitiger Therapie3-6
Medikamentöse Therapie
Schmerztherapie
- Siehe auch Artikel Neuropathische Schmerzen und Artikel Schmerzbehandlung, Grundsätze.
- NSAR
- lang wirksame NSAR vorteilhaft
- z. B. Diclofenac 3 × 50 mg p. o. tgl.
- in der Akutphase häufig nicht ausreichend2
- Antikonvulsiva
- Gabapentin und Pregabalin
- Opioide
- z. B. retardiertes Morphin
Kortikosteroide
- Frühzeitige orale Gabe von Prednisolon (im 1. Monat)
- Häufig längere Latenzen bis zur Diagnosestellung
- ggf. pragmatischer Therapieversuch auch später im Verlauf
- Dosierung
- Prednisolon 1–1,5 mg/kg KG p. o. für 1 Woche
- Anschließend alle 2 Tage Dosis halbieren.
Weitere Therapien
- Physiotherapie3
- Ergotherapie
- Weitere bedarfsgerechte Rehabilitationsmaßnahmen
- Konventionelles Krafttraining und Massage häufig unwirksam
- Operative Therapie
- In seltenen, ausgewählten Fällen ohne signifikante spontane Besserung sind chirurgische Dekompression oder Rekonstruktion der Nerven effektiv.3
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Chronifizierung neuropathischer oder muskuloskelettaler Schmerzen,
- Residuelle Paresen mit funktioneller Einschränkung
- Arbeitsunfähigkeit oder Notwendigkeit des Berufswechsels in 50 %3
Prognose
- Prognose häufig nicht günstig3
- Besserung der Schmerzen nach 1–2 Wochen
- bleibende muskuloskelettale Schmerzen in ca. 65 %
- Besserung der Paresen noch nach bis zu 2 Jahren
- komplette Erholung der Muskelkraft nur in etwa 4 %3
- ausgeprägte Paresen (Kraftgrad ≤ 4) bei 20 % nach 3 Jahren
- Residuelle Symptome bei 1/4–1/3 der Betroffenen nach 2 Jahren3
- Schmerzen, Fatigue und Einschränkungen bei Alltagsaktivitäten
- Rezidive in etwa 10 %
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- van Alfen N. Clinical and pathophysiological concepts of neuralgic amyotrophy. Nat Rev Neurol. 2011;7(6):315-322. Published 2011 May 10. doi:10.1038/nrneurol.2011.62 doi.org
- Van Eijk JJ, Groothuis JT, Van Alfen N. Neuralgic amyotrophy: An update on diagnosis, pathophysiology, and treatment. Muscle Nerve. 2016;53(3):337-350. doi:10.1002/mus.25008 doi.org
- Gstoettner C, Mayer JA, Rassam S, et al. Neuralgic amyotrophy: a paradigm shift in diagnosis and treatment. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2020;91(8):879-888. doi:10.1136/jnnp-2020-323164 doi.org
- van Alfen N, van Engelen BG. The clinical spectrum of neuralgic amyotrophy in 246 cases. Brain. 2006;129(Pt 2):438-450. doi:10.1093/brain/awh722 doi.org
- van Alfen N, van Engelen BGM, Hughes RAC. Treatment for idiopathic and hereditary neuralgic amyotrophy (brachial neuritis). Cochrane Database of Systematic Reviews 2009, Issue 3. Art. No.: CD006976. DOI: 10.1002/14651858.CD006976.pub2 DOI
- van Eijk JJ, van Alfen N, Berrevoets M, van der Wilt GJ, Pillen S, van Engelen BG. Evaluation of prednisolone treatment in the acute phase of neuralgic amyotrophy: an observational study. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2009; 80: 1120-4 PubMed
Autor*innen
- Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung, Neurologie, Hamburg