Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Zusammenfassung

  • Definition:Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine progressive neurodegenerative Erkrankung, die selektiv die Motoneuronen in allen Teilen des Nervensystems schädigt: im Rückenmark, Hirnstamm und motorischen Kortex.
  • Inzidenz:Die Inzidenz beträgt ca. 1,5–2,5 Neuerkrankungen je 100.000 Einw. pro Jahr.
  • Symptome:ALS beginnt meist asymmetrisch und in den Extremitäten. Typische frühe Symptome sind Schwäche und Ungeschicklichkeit der Hand mit einer sich allmählich entwickelnden Atrophie der Muskulatur von Hand und Arm.
  • Befunde:Zu den frühen klinischen Befunden zählen atrophische Muskelschwäche, oft zunächst in den Händen und Armen, leichte Spastizität der Extremitäten sowie eine generalisierte Hyperreflexie.
  • Diagnostik:Abgesehen von der EMG dienen weitere Untersuchungen in erster Linie dazu, andere Erkrankungen auszuschließen.
  • Therapie:Eine kurative Therapie gibt es nicht; die Therapie erfolgt daher symptomatisch und palliativ.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-2

Definition

  • Auch als Motoneuronenerkrankung bezeichnet.
  • Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine progressive neurodegenerative Erkrankung, die die Motoneuronen aller Teile des ZNS betreffen kann: des Rückenmarks, des Hirnstamms und des motorischen Kortex.
  • Bei ALS sind meist sowohl das 1. als auch das 2. Motoneuron betroffen, und es kommt in den nachgeschalteten Muskeln zu Kraftminderung, Atrophie und bei einem Teil der Patient*innen zur Spastik.
    • Die ersten (oberen) Motoneuronen sind im motorischen Kortex lokalisiert und leiten die motorischen Potenziale an die 2. Motoneuronen weiter.
    • Die zweiten (unteren) Motoneuronen sind die efferenten Nervenzellen, die vom Rückenmark oder Hirnstamm ausgehend zu den einzelnen Muskeln verlaufen.

Überlappung mit anderen Erkrankungen

  • ALS zählt zu den Motoneuronerkrankungen. Genetische Studien legen nahe, dass die Grenzen zwischen ALS und einigen anderen Motoneuronerkrankungen sowie zu den frontotemporalen Demenzen fließend sind.3-4Folgende Erkrankungen werden heute als Teil des ALS-Spektrums angesehen:
    • progressive Bulbärparalyse
    • Flail-Arm-/Flail-Leg-Syndrom
    • progressive Muskelatrophie (nicht zu verwechseln mit der progressiven Muskeldystrophie)
    • primäre Lateralsklerose
    • ALS mit frontotemporaler Demenz.
  • Zudem geht man inzwischen von einem genetisch, molekularpathologisch und pathophysiologisch überlappenden Spektrum degenerativer Motoneuronerkrankungen aus, das mit der Aggregation spezifischer Proteine (TDP-43, SOD1, FUS) assoziiert ist und neben der ALS folgende Erkrankungen umfasst:
    • hereditäre spastische Spinalparalysen (HSP)
    • spinobulbäre Muskelatrophie (SBMA)
    • spinale Muskelatrophie (SMA).

Klinisches Bild

  • Körperliche Anzeichen der Krankheit umfassen Ausfallerscheinungen sowohl des 1. als auch des 2. Motoneurons in Form von Muskelschwäche in den Armen, Beinen und im Gesicht sowie Schwierigkeiten beim Sprechen, Schlucken und Atmen. Vor allem infolge der Schluckstörung kommt es zur Hypersalivation (Sialorrhö).

Häufigkeit

  • Inzidenz
    • Beträgt international etwa 1,5–2,5 Neuerkrankungen je 100.000 Einw. pro Jahr; laut einer deutschen Registerstudie 3,1/100.000.5
  • Prävalenz
    • Liegt wegen der kurzen Lebenserwartung nur bei 6–10 Individuen pro 100.000 Einw.5
  • Nach Geschlecht
    • Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Das Verhältnis beträgt ca. 3:2.
  • Nach Alter
    • Die Krankheit tritt meist nach dem 50. Lebensjahr auf.
    • Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei ca. 55 Jahren, aber auch jüngere Menschen können betroffen sein.
  • Geografische Verbreitung
    • endemisch erhöhte Prävalenz im pazifischen Raum, z. B. auf Guam

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Krankheitsmechanismus ist unbekannt; es werden verschiedene Theorieansätze verfolgt.
  • Erbliche und sporadische Form
    • In 5–10 % der Fälle ist die Krankheit autosomal-dominant mit altersabhängiger Penetranz vererbt („familiäre ALS“).
    • Mehrere Gene wurden bislang identifiziert.6
    • Am häufigsten ist aber die sporadische Form, die etwa 90 % aller Fälle ausmacht. Klinisch ist diese Form praktisch identisch mit der erblichen.
  • Glutamattoxizität
    • Ein Überschuss an extrazellulärem Glutamat führte in vitro zum Absterben von Zellen.
    • Dem könnte eine mangelnde Aktivität der glialen Glutamattransporter zugrunde liegen.
    • Antiglutaminerge Substanzen wirken dem entgegen.
  • Mutationen im C9ORF72-Gen
    • Sind für etwa 1/4 der Patient*innen mit familiärer Form und bis zu 10 % der sporadischen Form der ALS verantwortlich.7
  • Mutationen im SOD1-Gen
    • Bei etwa 10–20 % der von der erblichen Form Betroffenen ist eine Mutation des SOD1-Gens zu beobachten, das das Enzym Cu-Zn-Superoxiddismutase kodiert.
    • Einer Hypothese zufolge wirkt die Akkumulation und Aggregation des mutierten SOD1-Gens toxisch auf die Organellen und führt somit zum Zelltod.
    • Interferenz mit anti-apoptotischen Mechanismen kann zum programmierten Absterben des Motoneurons führen.
  • Exzitotoxizität, oxidativer Stress, Mikrogliaaktivierung, mitochondriale Dysfunktion, gestörter axonaler Transport und Autoimmunität sind diskutierte Mechanismen, die die neuronale Schädigung bei ALS verursachen könnten.8-9

Pathophysiologie

  • ALS ist eine neurodegenerative Erkrankung, die durch den progressiven Verlust kortikaler (frontotemporaler), bulbärer (Pons, Medulla) und spinaler Motoneuronen gekennzeichnet ist.
  • Auf das Absterben der motorischen Zellen folgt eine axonale Degeneration mit anschließender Denervation und Reinnervation der entsprechenden Muskeln.
  • Zu kognitiven Dysfunktionen kommt es bei 20–50 % der Betroffenen, und 5–15 % entwickeln eine frontotemporale Demenz.10-11

Pathologisch-anatomische Befunde

  • Hauptbefund ist der Verlust der motorischen Vorderhornzellen und der Motoneuronen des Rückenmarks, des Hirnstammes und des Kortex.
  • Große Neuronen sind als Erste betroffen. Untergegangene Zellen werden durch Astrozyten ersetzt.
  • Überlebende Zellen sind atroph und mit Lipofuszin gefüllt.
  • Zytoplasmatische Einschlusskörperchen
  • Bei ausgeprägten Zellverlusten im frontotemporalen Kortex kommt es zur Demenz.
  • Histologisches Bild einer Low-grade-Entzündung

Prädisponierende Faktoren

  • Alter über 40 Jahre
  • Viele Umweltfaktoren wurden als mögliche Risikofaktoren für ALS in Betracht gezogen, aber die Studienlage hierzu ist ungenügend und hat noch keine klaren Hinweise auf einen Zusammenhang erbracht.

ICPC-2

  • N99 Neurologische Erkrankung, andere

ICD-10

  • G12 Spinale Muskelatrophie und verwandte Syndrome
    • G12.2 Motoneuron-Krankheit

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose gründet sich auf Zeichen einer progredienten Degeneration des 1. und 2. Motoneurons in einer oder mehreren Körperregionen.

Hauptkriterien

  1. Funktionsstörung des 2. Motoneurons
    • progrediente Kraftminderung und Muskelatrophie
    • EMG spricht für fortschreitende neurogene Muskelatrophie.
    • Faszikulationen
  2. Funktionsstörung des 1. Motoneurons
    • Hyperreflexie
    • Kraftminderung in den Extremitäten
  3. In etwa 5–10 % der Fälle Beteiligung des frontotemporalen Kortex
  4. Was eher gegen die Diagnose ALS spricht, sie aber nicht ausschließt:
    • sensible Defizite
    • Schmerzen (außer Muskelschmerzen)
    • Beeinträchtigung der Sphinkterfunktion (Ausnahme: bestimmte erbliche Formen).
  5. Objektivierbare Funktionsstörungen sensorischer Nerven sind nie durch ALS bedingt, sondern nur durch neurologische Komorbidität erklärbar.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Frühe Anzeichen
    • schmerzlose asymmetrische Paresen
    • generalisierte Faszikulationen
    • Schluckbeschwerden
    • Heiserkeit
    • Dysarthrie12
  • Über Monate und Jahre weder starke Fluktuationen noch Stabilisierung der motorischen Defizite, sondern annähernd linearer Progress
  • Unterschiedliche Lokalisation der betroffenen Muskulatur je nach erkranktem ZNS-Abschnitt: kortikal, bulbär, zervikal, thorakal oder lumbal

Spinaler Krankheitsbeginn

  • ALS beginnt meist asymmetrisch und in den Extremitäten (bei 75 %), allerdings kann die Krankheit auch in jedem anderen Muskelbereich einsetzen, einschließlich des N. phrenicus (Atmung).
  • Zervikaler Krankheitsbeginn
    • Typische frühe Symptome sind Schwäche und Ungeschicklichkeit der Hand mit einer sich nach und nach entwickelnden Atrophie der Muskulatur von Hand und Arm.
    • Die Patient*innen haben Schwierigkeiten mit feinmotorischen Fingerbewegungen, begleitet von einer charakteristischen Steifigkeit der Finger.
    • Eine Ausbreitung in die Hand und den Arm der anderen Körperhälfte ist im Laufe von Wochen oder Monaten möglich.
    • Die Muskelatrophie progrediert, und es kommt mit der Zeit vermehrt zu Faszikulationen.
    • Faszikulationen erlangen erst dann klinische Bedeutung, wenn sie ausgebreitet und in Verbindung mit einer geschwächten Muskulatur auftreten.
  • Lumbaler Krankheitsbeginn
    • Die Muskelschwäche kann ihren Ausgang auch im lumbosakralen Bereich des Rückens nehmen.
    • Äußert sich in einer Tendenz zum Stolpern sowie in Form von Schwierigkeiten beim Treppensteigen (proximale Schwäche).
  • Die Krankheit ist ausnahmslos progressiv: Es entwickeln sich nach und nach Spastizität und zunehmende Schmerzen beim Gehen, bis die Patient*innen schließlich bettlägrig werden.

Progressive Bulbärparalyse

  • Bei ca. 25 % finden sich Anzeichen einer Bulbärparalyse, noch ehe sich Symptome in anderen Körperregionen ausbilden.
  • Die gesprochene Sprache verändert ihren Charakter und die Stimme wird zunehmend heiser, bis schließlich auch die Aussprache immer undeutlicher wird (Dysarthrie).
  • Schluckbeschwerden sind häufig; es kommt zum Verschlucken (Dysphagie).
  • Keine Augensymptome
  • Eine bulbäre Beteiligung kann sich von den unteren Motoneuronen herleiten (Bulbärparalyse) oder von den oberen Motoneuronen (Pseudobulbärparalyse) oder von beiden.
    • Eine Bulbärparalyse äußert sich in Form einer oberen und unteren Gesichtsschwäche sowie mit reduzierten Zungenbewegungen in Zusammenhang mit einer Atrophie, Schwächung und mit Faszikulationen der Zunge.
    • Eine Pseudobulbärparalyse ist durch emotionale Labilität (pathologisches Lachen oder Weinen), plötzliche Kieferzuckungen und Dysarthrie gekennzeichnet.

Weitere Syndromvarianten

  • Primäre Lateralsklerose
    • Betrifft nur die oberen Motoneuronen.
    • Die Prognose ist günstiger als bei anderen ALS-Formen.
  • Progressive Muskelatrophie
    • Betrifft nur die unteren spinalen Motoneuronen.
    • Paresen und Atrophien der distalen Muskulatur in den Extremitäten sind dominierend.
    • Es treten lebhafte Faszikulationen auf.
  • Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy
    • Betrifft nur die unteren spinalen und bulbären Motoneuronen.
    • X-chromosomal rezessiv vererbt
    • Charakteristische Befunde sind Zungenatrophie und Faszikulationen, Gynäkomastie, Hodenatrophie und Infertilität.
    • Die Prognose ist günstiger als bei anderen ALS-Formen.
  • Flail-Arm-/Flail-Leg-Syndrom (Vulpian-Bernhart Syndrom)
    • meist initial Paraparese der oberen Extremitäten ohne Reflexsteigerungen
    • Die Prognose ist günstiger als bei anderen ALS-Formen.
  • ALS mit frontotemporaler Demenz (ALS/FTD)
    • zusätzlich zu den motorischen auch kognitive Defizite und Verhaltensauffälligkeiten

Klinische Untersuchung

  • Im Frühstadium ist die ALS oft schwer zu erkennen.
    • Symptome des 1. Motoneurons sind häufig maskiert und lassen sich erst in der darauf fokussierten neurologischen Untersuchung nachweisen.
    • Generalisierte Faszikulationen und Krämpfe sind charakteristisch und häufig. Sie sind aber weder spezifisch noch notwendig für die Diagnose ALS.
  • Atrophische Muskelschwäche, zunächst in den Händen und Armen
  • Langsame, stetige Ausbreitung von bereits befallenen auf angrenzende Körperregionen
  • Vermeintlicher „Stillstand“ oder „Besserung“ der Erkrankung machen eine ALS unwahrscheinlich.
  • Die Beinmuskulatur bleibt oft lange symptomfrei.
  • Leichte Spastik der Extremitäten
  • Generalisierte Hyperreflexie
  • Evtl. invertierter Plantarreflex (Kontraktion des Antagonisten)
  • Verteilungsmuster Atrophie: Die Abduktoren, Adduktoren und Extensoren der Finger und Daumen sind oft vor den langen Flexoren betroffen.
  • Oberarm- und der Schultermuskeln sind erst später betroffen.
  • Die atrophische Muskelschwäche weitet sich aus und erfasst nach und nach auch Hals, Zunge, Rachen und Larynxmuskulatur, die unteren Extremitäten und den Rumpf.
  • Bei progressiver Bulbärparalyse
    • Atrophie, verminderte Beweglichkeit und Faszikulationen von Zunge und mimischer Muskulatur
    • lebhafter Kieferreflex
  • Objektive sensorische Befunde sind mit der Diagnose ALS unvereinbar, sofern sie nicht auf eine neurologische Komorbidität zurückzuführen sind.
  • Fatigue
    • besonders ausgeprägt in fortgeschrittenen Stadien
    • Korreliert mit der Schlafqualität und bei beeinträchtigter Atmungsfunktion mit der Hyperkapnie.

Ergänzende Untersuchungen

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Um andere Erkrankungen auszuschließen.
  • ENG- und EMG-Registrierung
    • Zeigt den Grad der Schädigung motorischer Vorderhornzellen an. Umfassende Fibrillationen und Faszikulationen sind als Zeichen einer aktiven Denervierung zu werten.
    • Die Nervenleitgeschwindigkeit ist normal.
  • MRT des Kopfes, der gesamten Medulla oblongata und ggf. des Rückenmarks
    • Ist oft ohne Befund.
    • Wird verwendet, um eine spondylotische Myelopathie und Tumoren im Spinalkanal auszuschließen.
  • FDG-PET
    • Ist geeignet, einen evtl. Hypometabolismus im primären motorischen Kortex aufzuzeigen.13-14
  • Lumbalpunktion
    • Zellzahl, Eiweiß, Epho, Borrelien-Ak, Neurofilament (pNfH)
  • Muskelbiopsie
    • ggf. zur Abgrenzung von einer Polymyositis oder einer Einschlusskörperchenmyositis
  • Bei Demenz: VLCFA (Very Long Chain Fatty Acids) im Serum, Arylsulfatase A im Serum
  • Erweiterte Labordiagnostik
    • NfL (Neurofilament)
    • Angiotensin Converting Enzyme/ACE
    • Hexosaminidase A und B
    • ANA
    • Anti-DNA
    • Anti-Hu
    • Anti-MAG
    • Anti-AchR
    • Anti-MUSK
  • Serologie (z. B. Borrelien, Lues, HIV)
  • Antikörper gegen Kaliumkanäle
  • HNO-ärztliche Untersuchung
    • bei ausschließlich bulbärer und pseudobulbärer Manifestation
    • Differenzialdiagnose von Sprech- und Schluckstörungen (ggf. Videoendoskopie)
  • Genetische Diagnostik
    • Kommt nur bei Patient*innen mit positiver Familienanamnese infrage oder bei jungen Menschen mit sehr frühem Erkrankungsbeginn und schnellem Progress (Verdacht auf De-novo-Mutation im FUS-Gen).
    • nur nach vorheriger genetischer Beratung und schriftlicher Einverständniserklärung
    • Reihenfolge der Gensuche nach Häufigkeit des Auftretens: zunächst nur C9ORF72, dann SOD1, FUS, TARDBP (TDP-43)
    • bei Verdacht auf Kennedy-Syndrom: Androgenrezeptorgen

Indikationen zur Überweisung

  • Bei akuten und schweren Lähmungserscheinungen ist eine sofortige Klinikeinweisung angezeigt. Die stationäre Behandlung sollte an einem spezialisierten Zentrum erfolgen.

Therapie

Therapieziele

  • Progression verlangsamen.
  • Beschwerden lindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Eine kausale Therapie für ALS gibt es nicht.
  • Die Schwierigkeiten, denen sich die Patient*innen im Zuge der fortschreitenden Erkrankung gegenüber sehen, sind so vielfältig und komplex, dass sie einen interdisziplinären und multimodalen Ansatz erfordern.
  • Erkrankungsmodifizierende Therapie
    • Eine Reihe unterschiedlicher Wirkstoffe wurde getestet, doch ist bisher (Stand August 2022) lediglich Riluzol für diese Indikation zugelassen.7

Medikamentöse Therapie

Glutamatantagonist Riluzol (Tabletten)

  • Kann die Initialphase der Erkrankung hinauszögern und verlängert nachweislich die Überlebenszeit von Patient*innen mit bulbärem Befall um 2–3 Monate.7
  • Riluzol, Tabletten 50 mg: je 1 Tablette morgens und abends
  • Verschreibung durch Neurolog*in
  • Hepatotoxizität beachten.

Medikamente in der Entwicklungs- und Erprobungsphase

  • Edaravone
    • Radikalfänger, bindet Peroxylradikale und Peroxynitrit.
    • Das Medikament seit 2018 in Japan, Südkorea, den USA, Kanada und der Schweiz zugelassen.
      • In den zulassungsrelevanten Studien konnte eine Verlangsamung der Krankheitsprogression gezeigt werden.
      • Dieser Effekt scheint auf ALS-Patient*innen beschränkt zu sein, die den Einschlusskriterien der Phase-III-Studien entsprechen. Dazu zählen: Zeichen einer ALS in mindestens 2 Körperregionen, Erkrankungsdauer von ≤ 2 Jahre, gute Atemfunktion (Forcierte Vitalkapazität ≥ 80 %), geringer bis mittlerer ALS-Schweregrad sowie geringe bis mittlere Krankheitsprogression.
    • Aufgrund der ablehnenden Bewertung der europäischen Zulassungsbehörde EMA hat der Hersteller den Zulassungsantrag im Juni 2019 zurückgezogen. Das Medikament kann aber über internationale Apotheken importiert werden.
  • Rasagilin
    • MAO-B-Hemmer, seit langem zur Therapie des M. Parkinson zugelassen.
    • Eine randomisiert kontrollierte Studie, in der Rasagilin zusätzlich zu Riluzol eingesetzt wurde, zeigte keinen signifikanten Effekt bezüglich des Überlebens der Gesamtpopulation, aber in der Subgruppe mit schneller Progression einen deutlichen Effekt auf das Fortschreiten der im ALSFRS-R gemessenen Krankheitsschwere.15
    • Ein Off-Label-Einsatz in dieser Subgruppe kann erwogen werden.
  • Derzeit in Phase III der klinischen Entwicklung befindliche Substanzen (Auswahl, Stand August 2022):
    • Arimoclomol
      • Wirkt als Aktivator der Hitzeschockantwort.
    • Tauroursodeoxycholsäure (TUDCA)
      • Wirkt antiapoptotisch und somit neuroprotektiv.
    • Masatinib
      • Tyrosinkinaseinhibitor
      • Hemmt den Tyrosin-Kinase-Rezeptor koloniestimulierenden Faktor 1R (CSF-1R) und verhindert eine CSF-induzierte Proliferation und Expression von inflammatorischen Faktoren.
    • Fasudil
      • Rho-Kinase(ROCK)-Inhibitor
      • Scheint die axonale Regeneration zu verbessern und die mikrogliale Funktion zu modulieren.

Symptomatische Behandlung

Hypersalivation16

  • Amitriptylin, 3 x 10 mg (kann je nach Ansprechen auf bis zu 75 mg/d gesteigert werden)
  • Scopolamin, Depotpflaster, 1,5 mg alle 3 Tage
  • Atropin, Tropfen 1 %, sublingual verabreicht, 3- bis 4-mal tgl.
  • Glycopyrroniumbromid
  • Botulinumtoxin-Injektionen
  • Bestrahlung der Speicheldrüsen als Ultima Ratio

Respiratorische Symptome

  • Bronchiale Hypersekretion
    • Acetylcystein, 3 x 200–400 mg tgl. kann nützlich sein, sofern noch ausreichend Kraft zum Abhusten besteht.
    • mechanisch unterstütztes Husten (Hustenassistent)
      • Gerät zur mechanischen In- und Exsufflation
      • Erleichtert die Sekretmobilisation, wenn die Kraft zum Abhusten nicht mehr ausreicht.
    • ggf. Speichelsauger mit Absauggerät; Luftbefeuchter
  • Ateminsuffizienz
    • Die Symptome einer chronischen nächtlichen Hypoventilation wie Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit können über Monate und Jahre vor dem endgültigen Versagen der Atmung bestehen und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen.
    • Pneumonieprophylaxe
      • physikalische Therapie
      • bei Atemwegsinfekten frühzeitige Antibiose
    • evtl. schleimlösende Mittel wie N-Acetylcystein
    • ggf. Tracheotomie und künstliche Beatmung
      • Im Krankheitsverlauf sollte wiederholt die Willensbildung bezüglich invasiver Beatmung thematisiert werden.
      • Tracheotomie und invasive Beatmung sollten unter strenger Indikationsstellung und vor allem unter Berücksichtigung des individuellen Krankheitsverlaufs, des Wertegefüges und der
        psychosozialen Ressourcen erfolgen.
      • Die nichtinvasive Heimbeatmung ist lebensverlängernd, symptomatisch wirksam und verbessert daher die Lebensqualität, vor allem bei ALS mit primär axialer Symptomatik.
    • kurzwirksame Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) oder Morphin

Dysarthrie

  • Logopädie
  • Ggf. elektronische Hilfen

Mangelernährung, Kachexie

  • Ernährungsberatung
    • fettreiche hochkalorische Nahrungsergänzung erwägen (Hinweise auf lebensverlängernden Effekt)17
  • Bei schweren Schluckstörungen
    • Nasensonde?
    • perkutane endoskopische Gastrostomie (peG)?
      • Scheint in Verbindung mit spezifischen Ernährungsstrategien zu weniger Katabolismus, höherer Lebensqualität und verlängertem Überleben beizutragen.

Muskuloskelettale Symptome

  • Spastik
    • Physiotherapie
    • Antispastika (z. B. Baclofen oder Cannabinoide)
    • Eine intrathekale Applikation von Baclofen kann in schweren Fällen sinnvoll sein.
  • Muskelkrämpfe
    • Chininsulfat (off label)
    • Baclofen
    • Tizanidin, Dantrolen
    • Physiotherapie, Hydrotherapie
  • Schmerzen
    • Bis zu 70 % aller ALS-Patient*innen sind betroffen.
    • durch Atrophie, gestörte Regulation des Muskeltonus in Gelenknähe, Kontrakturen und Gelenksteife
    • Physiotherapie
    • NSAR und/oder Opioide

Fatigue

  • Respiratorische Insuffizienz als mögliche Ursache
  • Riluzol absetzen oder Dosis reduzieren?
  • Modafinil kann versucht werden, aber es gibt keine aussagekräftigen Studien zu den Langzeiteffekten.

Psychische Symptome

  • Pseudobulbäre emotionale Labilität (bei ca. 50 %)
    • Die Betroffenen darüber informieren, dass die Stimmungsschwankungen durch Krankheitseffekte auf das Gehirn verursacht werden.
    • Kann mit Amytriptylin, Fluvoxamin oder Chinidin/Dextramethorphan behandelt werden.
  • Depression
    • psycho- und ggf. pharmakotherapeutisch
    • SSRI oder Amitriptylin möglicherweise von Vorteil
  • Angstzustände und Insomnie
    • Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) sind anxiolytisch wirksam; allerdings ist deren mögliche atemdepressive Wirkung zu berücksichtigen. Sie sind deswegen vorsichtig aufzudosieren.
    • SSRI wie Paroxetin als mögliche Alternative

Weitere Maßnahmen

  • Mechanische Hilfsmittel wie Rollstühle, Rampen und Treppenlifte
  • Ergo- und Physiotherapie
  • Nackenstütze, um die Beschwerden zu lindern, die durch die Schwierigkeiten entstehen, den Speichel zu schlucken.
  • Dekubitusprophylaxe bei immobilisierten Patient*innen
  • Ggf. Thromboseprophylaxe bei fortgeschrittener Immobilität
    • Auf ausreichende Hydrierung achten.
    • physiotherapeutische Mobilisierung
    • niedrigmolekulare Heparine, bei Kontraindikationen direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) in niedriger Dosierung (off label)
    • bei Kontraindikationen gegen medikamentöse Prophylaktika evtl. Kompressionsstrümpfe (kein Wirksamkeitsnachweis bei ALS oder Querschnittsyndromen)
  • Psychosoziale Betreuung von Patient*innen und Angehörigen durch:
    • Psychotherapeut*innen
    • Palliativmediziner*innen
    • Selbsthilfegruppen.

Terminalphase

  • Etwa 90 % der ALS-Kranken sterben nach ärztlichem Ermessen friedlich, die meisten im Schlaf. Qualvolles Ersticken kommt bei adäquater palliativmedizinischer Versorgung nicht vor.
  • Unruhe und Anzeichen von Atemnot sind am besten mit Morphin subkutan oder intravenös zu behandeln.
  • Angstzustände können mit Lorazepam oder Midazolam behandelt werden. Die Dosis wird so weit erhöht, bis eine zufriedenstellende Wirkung erreicht ist.
  • Die Lebenszeit wird durch keine dieser Maßnahmen verkürzt.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Gleichmäßig progredienter Verlauf ohne merkliche Schwankungen. Vermeintlicher Stillstand oder Besserung der Symptomatik sind immer Anlass zur Überprüfung der Diagnose ALS. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt bei progressiver Bulbärparalyse etwa 3 Jahre.
  • Bei leichteren Verlaufsformen, bei denen in erster Linie die unteren Motoneuronen angegriffen sind, können die Betroffenen viele Jahre mit der Krankheit leben.

Komplikationen

  • Rezidivierende Infektionen der Lunge infolge reduzierter Lungenfunktion

Prognose

  • Etwa die Hälfte der Patient*innen stirbt innerhalb von 2,5 Jahren nach Diagnosestellung.
    • Die meisten Patient*innen sterben an Lungenversagen.
    • Nach 10 Jahren leben noch etwa 10 %.
  • Die Patient*innen werden mit der Zeit bettlägrig und pflegebedürftig.
  • Indikatoren für eine schlechte Prognose
    • Erkrankte mit bulbärem Krankheitsbeginn haben eine schlechtere Prognose als die mit spinalem Beginn.
    • Ein hohes Alter bei Krankheitsbeginn, eine niedrige forcierte Vitalkapazität (FVC), ein kurzer Zeitraum zwischen dem ersten Auftreten der Symptome und dem medizinischen Erstkontakt sowie ein bulbärer Anfangsverlauf sind sämtlich Indikatoren für eine schlechte Prognose.
  • In der Regel eine bessere Prognose als andere Verlaufsformen der ALS haben:
    • Kennedy-Syndrom
    • primäre Lateralsklerose
    • Flail-Arm-/Flail-Leg-Syndrom.
  • Bei der progressiven Muskelatrophie tritt der bulbäre Befall zwar oft erst spät oder gar nicht auf, die Erkrankung schreitet aber oft schnell voran und die Prognose ist mit der anderer Verlaufsformen vergleichbar.

Verlaufskontrolle

  • Die Verlaufskontrolle erfordert einen fachübergreifenden Ansatz.
  • Besonderes Augenmerk gilt Verlaufsparametern, die eine grundlegende Änderung der Therapie einschließlich stationärer Behandlung induzieren können.
  • Kurz-Fragebogen ALS/FRS-R zur Erhebung des funktionellen Status
  • Fortlaufende Absprache zwischen Patient*in, Angehörigen, Hausärzt*in, Physio- und Ergotherapeut*in und Pflegefachkräften
  • Ggf. Sozialarbeiter*in, Psycholog*in, Palliativmediziner*in, Seelsorger*in, Ernährungsberater*in hinzuziehen.
  • Proaktive Begleitung der Patient*innen mit dem Ziel, Akzeptanz gegenüber der gegenwärtigen Situation zu fördern und auf die zu erwartenden Schwierigkeiten im weiteren Krankheitsverlauf vorzubereiten.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Über Selbsthilfegruppen und -vereine
  • Die Patient*innen sollten die individuellen Möglichkeiten des sozialen Rückhalts ausloten.
  • Eine in späten Stadien der Krankheit erforderliche künstliche Beatmung sollte rechtzeitig mit den Betroffenen und ihren Angehörigen besprochen werden.
  • Patientenverfügung und Notfallplan erstellen und kontinierlich überprüfen.
  • Anbindung an ein pallativmedizinisches Netzwerk

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. National Institute for Health and Care Excellence (NIH). Motor neurone disease: assessment and management. NICE guideline [NG42]. February 2016; last updated: July 2019. www.nice.org.uk
  2. McDermott CJ. Amyotrophic lateral sclerosis. BMJ Best Practice. Last reviewed: 13 Jul 2022, last updated: 10 Mar 2020 bestpractice.bmj.com
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Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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