Zusammenfassung
- Definition: Nichtinfektiöse chronische Harnblasenerkrankung mit Blasen- und Unterleibsschmerzen, Pollakisurie und Nykturie.
- Häufigkeit: Vor allem Frauen zwischen 30–50 Jahren, bei Frauen Prävalenz 52–500 pro 100.000.
- Symptome: Ähnlich wie bei Harnwegsinfektion, häufig Schmerzlinderung postmiktionell.
- Befunde: Gewöhnlich liegen unauffällige Befunde vor mit negativer Urinkultur.
- Diagnostik: Ausschlussdiagnose.
- Therapie: Gute Information und Aufklärung. Multimodale symptomatische Therapie, nach Möglichkeit konservativ.
Allgemeine Informationen
Definition
- Chronisch-entzündliche, nichtinfektiöse Erkrankung der Harnblase mit in der Regel unauffälligen Untersuchungsbefunden
- Häufig Blasen- und Unterleibsschmerzen im Vordergrund1
- Dieser Symptomkomplex wird als Blasenschmerzsyndrom/Painful Bladder Syndrome bezeichnet.
- Wird den chronischen Beckenschmerz-Syndromen zugerechnet.2
- Es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose.3
Häufigkeit
- Verhältnis Frauen zu Männern etwa 9:1
- Alter bei Krankheitsbeginn liegt in der Regel zwischen 30 und 50 Jahren.4-5
- Prävalenz bei Frauen 52–500 pro 100.000, bei Männern 8–41 pro 100.0006
Ätiologie und Pathogenese
- Unbekannt
- Wahrscheinlich handelt es sich um eine multifaktorielle Genese.
- Vorgeschlagene Hypothesen
- Dysfunktion des Urothels, z. B. durch Anomalien der Urothelzellen
- chronische Entzündung durch erhöhte Expression von B- und T-Zellen, Zytokinen und Leukotrienen
- neuronale Hyperaktivität
- verminderte Durchblutung der Harnblase durch gestörte Angiogenese
- Lebensmittelunverträglichkeiten
- Beispielsweise können Zitrusfrüchte, Essig oder Pfeffer die Schmerzsymptomatik erhöhen.
- möglicherweise auch Assoziation mit Histamin-Intoleranz
- Beckenbodenhypertonie mit anomaler Relaxation
- viszeraler Crosstalk zwischen Darm und Harnblase
- Darmentzündung führt zu erhöhter Harnblasenpermeabilität.
- Endometriose
- psychosomatische Belastungsstörungen
- Mikrobiom
- verminderte Bakteriendiversität, Überschuss an Laktobazillen9
Histopathologie
- „Klassische Form“, Hunner-Typ10
- Hunner-Läsionen: kleine ulzeröse Läsionen
- < 10 % aller Fälle
- Nicht-Hunner-Typ
- histopathologisch unauffällig
- > 90 % aller Fälle
Disponierende Faktoren
- Assoziierte Krankheiten sind:11
- Reizdarmsyndrom
- Atopie
- chronisch entzündliche Darmerkrankungen
- Fibromyalgie
- systemischer Lupus erythematodes
- Endometriose7
ICD-10
- N30.1 Interstitielle Zystitis (chronisch)
Diagnostik
- Auf jeden Fall zu empfehlen:
- ausführliche Anamnese
- Ausschluss Differenzialdiagnosen
- Ausfüllen von Frage- und Dokumentationsbögen bezüglich der Symptomatik
- körperliche Untersuchung
- In den meisten Fällen zu empfehlen:
- Urinuntersuchung
- Urosonografie
- Uroflowmetrie mit Restharnbestimmung bei Männern
- Zystoskopie
- Nachweis von Hunner-Läsionen
- In manchen Fällen zu empfehlen:
- Hydrodistension der Harnblase unter Narkose
- Sichtbarmachung von Glomerulationen, Rhagaden oder Blutungen
- Flow-EMG oder urodynamische Untersuchung
- Beurteilung Blasensensorik und Blasenkapazität
- Kaliumchlorid-Test
- Beurteilung des subjektiven Schmerzempfindens durch Instillation von Kaliumchlorid in die Harnblase
- Biopsie der Harnblasenwand
- Stuhldiagnostik
- Hydrodistension der Harnblase unter Narkose
Diagnostische Kriterien
- Vorliegen der Leitsymptome Pollakisurie mit Nykturie, Harndrang und Schmerzen an Blase, Urethra, Genitale und/oder Perineum bei negativer Urinkultur und negativer Harn-Zytologie
- Kombination und Ausprägung der Beschwerden variieren individuell.
- In 1. Linie ist die interstitielle Zystitis eine Ausschlussdiagnose.
- Zystoskopie und evtl. Biopsien können zum Ausschluss der Differenzialdiagnosen nötig sein.
Differenzialdiagnosen
- Harnwegsinfektion: Urinbefund durch Teststreifen oder Kultivierung
- OAB/Drangsymptomatik mit oder ohne Inkontinenz
- Neurogene Blase
- Bakterielle Vaginose
- Endometriose
- Chlamydien-Infektion
- Durch Strahlung, Chemikalien oder Tuberkulose verursachte Zystitis
- Chronische Prostatitis
- Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems, z. B. Beckenboden
- Psychische Störungen
Anamnese
- Miktionsprotokoll mit objektiven Angaben zu Wasserlass- und Trinkgewohnheiten sowie Drang- und Schmerzausprägung
- Symptome, die sehr häufig ähnlich denen der Harnwegsinfektion sind, wobei die Urinkultur jedoch negativ ist.12
- Blasen-, Urethra- und/oder Beckenschmerzen (Prävalenz: 50–75 %)8
- Dyspareunie (Prävalenz: 50–60 %)8
- häufige Harnentleerung und oft starker Harndrang
- Nykturie
- Linderung der Schmerzen nach Blasenentleerung
- Seltenere Symptome sind:
- Häufig subakuter Beginn mit Symptomentwicklung über Wochen und Monate
- Begleitende Erkrankungen erfragen, z. B.:
- Fibromyalgie
- systemischer Lupus erythematodes
- chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
- Endometriose
- Vor-Operationen?
- Bisherige Therapie und Medikation
- in der Regel keine Reaktion auf Anticholinergika oder Spasmolytika
- Suchtverhalten, körperliche oder psychische Misshandlung und/oder Missbrauch erfragen.
- Assoziation der interstitiellen Zystitis mit Belastungssituationen
- Assoziation zur Einnahme von bestimmten Lebensmitteln?
- häufig Lebensmittelunverträglichkeit von histaminreichen Speisen
Untersuchung, klinischer Befund
- Gewöhnlich liegen normale Befunde vor.
- Digital-rektale Untersuchung
- Muskulo-fasziale Dysfunktionen?
- Beckenbodenspasmen oder rektale Spasmen können auftreten.14
- Untersuchung der Genitalorgane
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Harnuntersuchung und Urinkultur
- in der Regel unauffällig
- Harnzytologie
- bei steriler Leukozyturie und/oder Mikrohämaturie sinnvoll
- Sonografie der Harnblase
- Ausschluss von Raumforderungen und Wandveränderungen
Diagnostik beim Spezialisten
- Bildgebende Diagnostik ist normalerweise nicht notwendig.
- Die Durchführung der Zystoskopie ist in unkomplizierten Fällen nicht erforderlich, sondern sollte komplexen Fällen vorbehalten sein.15
- Zystoskopie
- Wird in 1. Linie durchgeführt, um Differenzialdiagnosen auszuschließen.
- Bei 10 % der von interstitieller Zystitis betroffenen Patienten können typische punktförmige Schleimhautblutungen (Glomerulationen) und ulzeröse Läsionen in der Harnblase (Hunner-Ulzera) nach Harnblasendistension gesehen werden.10
- Eine Biopsie der Blase kann indiziert sein, um Karzinome, Carcinoma in situ, eosinophile Zystitis oder tuberkulöse Zystitis auszuschließen.
- Die histologischen Zeichen sind unspezifisch und korrelieren weder mit dem zystoskopischen Bild noch mit der Prognose der Erkrankung.
- Urodynamische Untersuchung
- Dient dem Ausschluss eines sensorischen Harndrangs.
- Mehr als 350 ml Blasenkapazität schließt die Diagnose aus.
- Die Durchführung sollte komplexen Fällen vorbehalten sein.15
Indikationen zur Überweisung
- Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose und Bedarf nach zusätzlichen Untersuchungen
Therapie
Therapieziele
- Es ist bislang keine kurative Therapie bekannt.
- Symptome lindern und die Lebensqualität verbessern.
Allgemeines zur Therapie
- Es gibt keine kausale Behandlung, die für alle effektiv ist.
- Für keine Behandlungsmethode gibt es ausreichende Evidenz. 16
- Konservative Verfahren bevorzugen.
- Eine simultane Anwendung verschiedener Therapiemaßnahmen ist gut möglich.15
- Ineffektive Therapien zeitnah beenden.15
- Invasive Therapieoptionen sollten therapieresistenten Patienten mit deutlichen Einbußen der Lebensqualität vorbehalten sein. Insbesondere irreversible operative Maßnahmen sollten sehr zurückhaltend indiziert werden.
Therapieoptionen
- Bei der Therapie sollte folgendes Stufenschema durchlaufen werden:
- Aufklärung über Erkrankung, Lebensstil- und Ernährungsumstellung, Physiotherapie, psychologische/psychiatrische Betreuung, komplementärmedizinische Therapie
- multimodale medikamentöse Therapien, Instillationstherapie, EMDA, Hydrodistension, Rehabiliationsmaßnahmen
- alle Therapieoptionen unter 1. und 2. in Kombination
- Injektion von Botulinumtoxin in die Harnblasenwand, Neuromodulation
- operative Verfahren.
- Auf jeden Fall zu empfehlen:
- Lebensstiländerung
- Stress und Unterkühlung vermeiden, Blasentraining, sexuelle und körperliche Aktivitäten schmerzadaptiert anpassen.
- individualisierte Ausschluss-Diät mit schrittweise Re-Exposition
- häufig assoziierte Lebensmittelunverträglichkeiten, vor allem bei Lebensmitteln mit hohem Histamin-Gehalt
- Angebot der psychologischen/psychiatrischen Betreuung
- oft Depressionen oder Erschöpfungszustand durch langen Krankheitsverlauf
- Physiotherapie
- Relaxationsübungen bei spezialisierten Beckenboden-Physiotherapeuten erlernen.
- orale Therapie mit Pentosanpolysulfat
- Seit 2017 das einzige in Europa zugelassene orale Arzneimittel bei IC, sofern Glomerulationen und/oder Hunner-Läsionen vorliegen.
- Fördert Blasendurchblutung und Reparaturmechanismen des Urothels.
- empfohlene Dosis: 100 mg Kapsel 1–1–1
- Je früher die Einnahme begonnen wird, desto besser die Wirksamkeit.
- Wirkeintritt oft erst nach 3–6 Monaten
- Behandlung so lange fortsetzen, wie Wirkung anhält.
- Bei Nicht-Respondern oder Toleranzentwicklung absetzen.
- adäquate Schmerztherapie
- kein einheitliches Behandlungskonzept
- individueller Therapieversuch mit NSAR, Novaminsulfon oder Instillation von Lokalanästhetika
- stationäre Rehabiliation in spezialisierter urologischer Einrichtung bei fehlender Besserung durch ambulante Maßnahmen
- Lebensstiländerung
- In den meisten Fällen zu empfehlen:
- orale Therapie mit Amitryptilin
- Reduktion der Häufigkeit und Stärke des Blasenschmerzes
- Cave: häufig anticholinerge Nebenwirkungen!
- einschleichende Initialdosis von 10 mg am Abend
- intravesikale Therapie
- Instillation von Hyaluronsäure und Chondroitin-Sulfat
- Die Regeneration der Urothelschicht wird verbessert.
- Hydrodistension der Harnblase in Allgemein- oder Regionalanästhesie
- sowohl diagnostisches als auch therapeutisches Verfahren
- Schmerzreduktion durch Regeneration afferenter Nervenfasern
- Electromotive Drug Administration (EMDA)
- Iontophorese mittels transurethraler Anode und suprapubischer Haut-Kathode
- orale Therapie mit Amitryptilin
- In manchen Fällen zu empfehlen:
- Muskelrelaxanzien
- Tizanidin (Alpha-2-Agonist) 2–6 mg/d
- bei starken Krämpfen und Spasmen der Harnblase
- Cave: hepatotoxisch!
- Antikonvulsiva
- Pregabalin zur Schmerzreduktion
- Komplementärmedizin
- z. B. Akupunktur oder Neuraltherapie
- transurethrale Verfahren
- Injektion von Botulinumtoxin in die Harnblasenwand
- Injektion von Kortikosteroiden und Lokalanästhetika in die Submukosa der Harnblase bei Hunner-Läsionen
- Muskelrelaxanzien
-
Bei therapierefraktären Beschwerden Versuch der Neuromodulation
- z. B. sakrale oder pudendale Neuromodulation oder perkutane tibiale Nervenstimulation
- Als Ultima Ratio verbleibt bei therapieresistenten Fällen mit hohem Leidensdruck die operative Therapie.
- operative Intervention mit Blasenaugmentation, orthotopem Blasenersatz oder inkontinenter bzw. kontinenter Harnableitung
Empfehlungen für Patienten
- Ernährungsumstellung
- Verzicht auf histaminreiche Lebensmittel, Koffein, Alkohol und saure Getränke führt bei einigen Patienten zur Symptomlinderung.
- Stressreduktion und schmerzadaptierte Bewegung
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die interstitielle Zystitis verläuft für die Patientin und die behandelnden Therapeuten oft schwierig und unbefriedigend.
- Häufig undulierender Verlauf mit wechselnden Phasen von Exazerbation und Remission11
Komplikationen
- 80 % der Patienten berichten über Alltagsprobleme, 40 % über existenzielle Probleme.
- Chronische Schmerzen
- Dyspareunie mit Konflikten in der Partnerschaft
- Arbeitsunfähigkeit
- Psychische und psychosomatische Beschwerden
Prognose
- Selten Heilung, aber bei etwa 90 % der Patienten Besserung durch Therapie
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
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Autoren
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt