Zusammenfassung
- Definition: Die Körpergröße liegt oberhalb der 97,5. Perzentile oder der Wachstumsprozess verlagert sich auf eine höhere Perzentile als zuvor. Dies ist in manchen Fällen auf eine verfrühte Pubertät zurück zu führen.
- Häufigkeit: Im 1. Lebensjahr ist ein Wechsel der Perzentile ein häufig auftretendes Phänomen. Geschieht dies im 2. Lebensjahr oder später, ist evtl. von einer pathologischen Wachstumsstörung auszugehen.
- Symptome: Hohe Wachstumsrate/Wechsel der Perzentile; besondere Beachtung verdient die Familienanamnese.
- Befunde: In der Regel liegt ein klinischer Normalbefund vor, insbesondere ist das aktuelle Pubertätsstadium zu berücksichtigen.
- Diagnostik: Bestimmung der zu erwartenden Endgröße. Evtl. hilft eine Röntgenuntersuchung der linken Hand zur Bestimmung des Knochenalters. Evtl. ist zu untersuchen, ob eine erhöhte Produktion von Wachstumshormonen vorliegt.
- Therapie: Die Indikation zur Therapie sollte jeweils individuell und in Absprache mit pädiatrischen Endokrinologen gestellt werden. Die Therapiemaßnahmen richten sich nach der vorliegenden Grunderkrankung.
Allgemeine Informationen
Definition1
- Eine Körpergröße, die oberhalb der 97,5. Perzentile liegt oder die das bisherige Segment auf der Perzentilkurve nach oben hin verlässt
- Erhöhte jährliche Wachstumsgeschwindigkeit > 75. Perzentile
- Voraussetzung der Diagnosestellung ist eine korrekte Messung der Körperlänge
- bei Säuglingen und Kleinkindern unter 2 Jahren im Liegen mithilfe einer Messschale oder eines Messstabes
- bei Kindern und Jugendlichen ab 2 Jahren im Stehen mithilfe einer an der Wand befestigten Messlatte
- Beurteilung der Messwerte anhand aktueller populationsspezifischer und geschlechtsbezogener Perzentilkurven
- Diagnose des familiären Hochwuchses nur, wenn Zielgröße des Kindes im familiären Zielbereich liegt (familiäre Zielgröße + / - 8,5 cm)
Häufigkeit
- Ein Wechsel der Größenperzentile tritt innerhalb der ersten beiden Lebensjahre bei ca. 2/3 aller gesunden Kinder auf2
- Während des 2. Lebensjahres verlangsamt sich die Wachstumsgeschwindigkeit erwartungsgemäß im Vergleich zum 1. Lebensjahr, sodass eine nähere Untersuchung ratsam sein kann, falls Perzentilwechsel fortbestehen2
- Eine Körpergröße > 97,5. Perzentile ist am häufigsten in Familien mit großen Eltern anzutreffen.
- Andere Ursachen für verstärktes Größenwachstum finden sich in der Hausarztpraxis nur selten.
Normales Wachstum
- In den ersten 2 Lebensjahren verläuft das Längenwachstum zunächst sehr rasch, um dann langsam abzunehmen. Insgesamt beträgt das Längenwachstum in dieser Periode 30–35 cm, davon ca. 25 cm im ersten Lebensjahr.2
- Bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr erfolgt ein rasches Längenwachstum.2
- 0 - 6 Monate: 2,5 cm pro Monat
- 7 - 12 Monate: 1,25 cm pro Monat
- 12 - 24 Monate: 10 cm pro Jahr
- Im Kindesalter von 2–10 Jahren verläuft das Wachstum relativ konstant.2
- 2–3 Jahre: 8 cm pro Jahr
- 3–4 Jahre: 7 cm pro Jahr
- 4-10 Jahre: 5-6 cm pro Jahr bis zur Pubertät
- In der Pubertät beschleunigt sich das Längenwachstum.3-5
- Jungen: 5–11 cm pro Jahr
- Mädchen: 6–10 cm pro Jahr
- Der Zeitpunkt des max. Längenwachstums ist abhängig vom Geschlecht und davon, wann die Pubertät einsetzt.
- Bei Mädchen erreicht das Längenwachstum sein Maximum in der Anfangszeit der Pubertät, ab einem Alter von etwa 10 Jahren.
- Bei Jungen ungefähr in der Mitte der Pubertät, ab einem Alter von etwa 12 Jahren.
- Nach der Pubertät nimmt das Längenwachstum schnell ab und hört ganz auf, sobald die Epiphysenfugen geschlossen sind.
Ätiologie und Pathogenese
- Hochwuchs als Normvariante (familiär oder nicht-familiär)
- Akzeleration von Wachstum und Pubertät als Normvariante
- chromosomale Veränderungen mit Aneuploidie
- Klinefelter-Syndrom (47, XXY)
- 47, XYY-Syndrom
- 47, XXX-Syndrom
- fragiles X-Syndrom
- Syndrome mit Hochwuchs
- Sotos-Syndrom
- Marfan-Syndrom
- Loeys-Dietz-Syndrom
- Beckwith-Wiedemann-Syndrom
- Weaver-Syndrom
- Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom
- PTEN-Hamartoma-Tumor-Syndrom
- Krankheiten des endokrinen Systems
- Wachstumshormonexzess (Gigantismus)
- Pubertas praecox
- Pseudopubertas praecox
- Adrenogenitales Syndrom
- Hyperthyreose
- Östrogenmangel/Östrogeninsensitivität
- Stoffwechselerkrankungen
- Homocystinurie
Prädisponierende Faktoren
- Große Eltern
- Aufholwachstum in den ersten 2 Lebensjahren bei Frühgeborenen
- Makrosome Säuglinge bei schlecht eingestelltem Gestationsdiabetes
ICD-10
- E30.9 Pubertätsstörung, nicht näher bezeichnet
- E34.4 Konstitutioneller Hochwuchs
- E22.0 Akromegalie und hypophysärer Hochwuchs
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Wechsel der Perzentile des Längenwachstums
- Körpergröße auf/über der 97,5. Längenperzentile
Differenzialdiagnosen
- Siehe Abschnitt Ätiologie und Pathogenese.
Anamnese
- Familienanamnese (Syndrome innerhalb der Familie, Gestationsdiabetes der Mutter, konstitutioneller Hochwuchs)
- Vorliegen weiterer Symptome (z. B. Intelligenzminderung, überdehnbare Gelenke, siehe Abschnitt Ätiologie und Pathogenese)
Klinische Untersuchung
- körperliche Untersuchung inklusive Anzeichen einer beginnenden Pubertät (Tanner-Stadien)
- Beachtung ggf. vorliegender Anzeichen eines Syndromes (z. B. überdehnbare Gelenke, starke Kurzsichtigkeit, siehe Abschnitt Ätiologie und Pathogenese)
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis1
- Vergleich mit älteren Daten zu Größe und Gewicht, z. B. von Voruntersuchungen oder aus dem privaten Bereich
- Messung der Körperlänge von Eltern und Geschwistern
- Bestimmung der familiären Zielgröße, daraus Bestimmung der zu erwartenden Endgröße (weniger akkurat als die Bestimmung des Knochenalters)
- Mädchen: ((Größe des Vaters in cm - 13) + Größe der Mutter in cm) / 2
- Jungen: ((Größe der Mutter in cm + 13) + Größe des Vaters) / 2
Diagnostik beim Spezialisten
- Röntgenuntersuchung zur Bestimmung des Knochenalters und der zu erwartenden Endgröße als Erwachsener
- bei zusätzlichen klinischen Auffälligkeiten ggf. weitere Untersuchungen
- Chromosomenanalyse oder molekulargenetische Diagnostik
- Bestimmung von IGF-1 und IGFBP-3, GH-Suppressionstest
- Bestimmung von Testosteron/Estradiol, GnRH-Test
- Bestimmung von 17-Hydroxyprogesteron, 11-Desoxycortisol, ACTH-Test
- TSH, fT3, fT4
Indikationen zur Überweisung
- Bei frühzeitiger Pubertät
- unter 8 Jahren bei Mädchen
- unter 9 Jahren bei Jungen
- Vorliegen weiterer klinische Auffälligkeiten, z.B. Intelligenzminderung, überdehnbare Gelenke, starke Kurzsichtigkeit, siehe Abschnitt Ätiologie und Pathogenese zu den Differentialdiagnosen
Therapie
Therapieziel
- Reduktion des Längenwachstums
- Ggf. Behandlung einer zugrunde liegenden Erkrankung
Allgemeines zur Therapie
- Die Indikationsstellung und Durchführung der Therapie durch pädiatrische Endokrinologen wird empfohlen
- eine sorgfältige Abwägung der Indikation zur Therapie oder möglicher Alternativen sollte erfolgen
- Die Indikation der medikamentösen Therapie ist individuell zu stellen
- teilweise psychosoziale Belastung durch geringe Akzeptanz des Hochwuches im Umfeld, heutzutage jedoch meist gute Akzeptanz großer Menschen
- eine ausführliche Aufklärung zum Risikoprofil sowie der unsicheren Prognose sollte erfolgen und schriftlich festgehalten werden
Medikamentöse Therapie
- Therapie mit Testosteron-Enantat bei hochwüchsigen männlichen Jugendlichen
- bei prognostizierter erwachsenen Endgröße > 202 cm
- eine geschätzte Wachstumsminderung von ca. 5 cm wurde in Studien nachgewiesen
- die Hormonapplikation erfolgt intramuskulär alle 14 Tage bis zum Erreichen der erwachsenen Endgröße
- die Behandlung sollte vor Vorliegen eines Knochenalters von 14,5 Jahren erfolgen
- Fertilitätsstörungen sind nicht als Nebenwirkung bekannt
- Therapie mit Ethinyl-Estradiol bei hochwüchsigen weiblichen Jugendlichen
- bei prognostizierter erwachsenen Endgröße > 185 cm
- die Hormonapplikation erfolgt täglich oral bis zum Erreichen der erwachsenen Endgröße
- zur Zyklusregulation soll die Therapie um ein Gestagen ergänzt werden
- eine geschätzte Wachstumsminderung von ca. 5 cm wurde in Studien nachgewiesen, sofern vor Vorliegen eines Knochenalters von 13,0 Jahren mit der Therapie begonnen wird
- durch Studien wurden Fertilitätsstörungen bei medikamentös behandelten hochwüchsigen Frauen nachgewiesen
- experimentelle Therapien mit Somatostatin-Analoga werden aktuell untersucht
Weitere Therapien
- Die Epiphyseodese knienaher Wachstumsfugen stellt eine Alternative zur pharmakologischen Therapie dar 6
- wird an spezialisierten orthopädischen Zentren durchgeführt
- mögliche Alternative, falls medikamentöse Therapie aufgrund des Nebenwirkungsprofils abgelehnt wird
- ggf. Therapie einer zugrundeliegenden Erkrankung (s. Abschnitt Ätiologie und Pathogenese)
- kinder- und jugendpsychologische Unterstützung, insbesondere bei starker psychosozialer Belastung
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Besondere Umstände
- Bei Kindern mit einer Pubertas praecox endet das Wachstum frühzeitig und mit einer geringen Endgröße aufgrund vorzeitig verschlossener Wachstumsfugen.7
- Bei einer ernährungsbedingten Adipositas ist zwar die Wachstumsrate erhöht, aber zugleich setzt auch die Pubertät verfrüht ein, so dass die Endgröße wieder normal ist.
- Bei einem Hypogonadismus ist die Wachstumsrate zwar bis zur Pubertät im Normbereich, aber das Ausbleiben der Pubertät führt dazu, dass die Wachstumsdauer verlängert ist, woraus sich eine höhere Endgröße ergibt.1
- Der hypophysäre Gigantismus geht oft mit einer geringen Konzentration von Gonadotropinen einher; diese Patienten können unbehandelt bis zu 240 cm groß werden.8
Komplikationen
- Die medikamentöse Therapie birgt das Risiko einer verminderten Fertilität bei weiblichen Jugendlichen9
- Heutzutage deutliche höhere soziale Akzeptanz großer Menschen
Verlaufskontrolle
- Die Verlaufskontrolle erfolgt durch pädiatrische Endokrinologen, sofern eine nachgewiesene Erkrankung besteht.
- Kontrolle der jährlichen Wachstumsrate
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patienten informieren?
- Es gibt eine große Bandbreite bei der Endgröße.
- Heute besteht in der Regel eine größere Akzeptanz für große Menschen als in früheren Generationen.
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Richmond EJ, Rogol AD, et al., The child with tall stature and/or abnormally rapid growth. UpToDate 04.08.2023. www.uptodate.com
- Nichols J et al., Normal growth pattern in infants and prebuertal children. UpToDate 09.09.2022. www.uptodate.com
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- Latronico AC, Brito VN, Carel J-C: Causes, diagnosis, and treatment of central precocious puberty. Lancet Diabetes Endocrinol 4(3):265–274, 2016. doi: 10.1016/S2213-8587(15)00380-0. www.thelancet.com
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- Courant F, Aksglaede L, Antignac JP, Monteau F, Sorensen K, Andersson AM, Skakkebaek NE, Juul A, Bizec BL.. Assessment of circulating sex steroid levels in prepubertal and pubertal boys and girls by a novel ultrasensitive gas chromatography-tandem mass spectrometry method.. J Clin Endocrinol Metab 2010; 95 (1): 82-92
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- Bruinsma FJ, Venn AJ, Patton GC, et al. Concern about tall stature during adolescence and depression in later life. J Affect Disord 2006; 91:145. PubMed
Autoren
- Mareike Friedrich, Dr. med., Ärztin in Weiterbildung für Pädiatrie, Kaufbeuren