Zusammenfassung
- Definition:Neuralrohrdefekte sind embryonale Entwicklungsstörungen des ZNS, die auf einem gestörten Verschluss des Neuralrohrs in der 3.–4. SSW beruhen.
- Häufigkeit:Die häufigsten kongenitalen Fehlbildungen des ZNS; betreffen etwa 0,5–0,8 pro 1.000 Neugeborenen.
- Symptome:Abhängig von Ausmaß und Lokalisation der Fehlbildung. Bei Spina bifida variable Querschnittssymptomatik, Blasenfunktionsstörung und Hydrozephalus, z. T. auch asymptomatisch. Bei Enzephalozele zentrale Defizite. Schwere Fehlbildungen (Anenzephalie und Kraniorachischisis) sind nicht mit dem Leben vereinbar.
- Befunde:Exposition oder Herniation von Nervengewebe ohne Hautbedeckung bei offenen Neuralrohrdefekten (Myelomeningozele, Enzephalozele). Sensomotorische Querschnittssymptomatik bei Spina bifida. Makrozephalie, Entwicklungsverzögerung und Bewusstseinsstörung bei sekundärem Hydrozephalus.
- Diagnostik:Diagnosestellung heute überwiegend anhand pränataler Sonografie sowie zusätzliche Labordiagnostik und/oder Bildgebung. Postnatal klinisch-neurologischer Befund.
- Therapie:Frühzeitige operative Deckung offener Neuralrohrdefekte nach der Geburt, in Ausnahmefällen bereits pränatal intrauterin. Behandlung von Komplikationen, z. B. Shuntoperation bei Hydrozephalus. Lebenslange interdisziplinäre Behandlung abhängig von der Schwere der Symptomatik.
Allgemeine Informationen
Definition
- Neuralrohrdefekte (Dysraphien) sind die häufigste embryonale Entwicklungsstörung des ZNS und umfassen verschiedene Fehlbildungen mit gestörtem Verschluss des Neuralrohres auf dem Boden von genetischen und Umweltfaktoren.1-4
- Siehe auch Artikel Spina bifida.
Häufigkeit
- Neuralrohrdefekte sind die zweithäufigsten kongenitalen Fehlbildungen (nach angeborenen Herzfehlern).
- Inzidenz von ca. 0,5–0,8 pro 1.000 Neugeborenen in den USA und Europa1-3
- Global höhere Inzidenz von 1,86 pro 1.000 Neugeborenen2
Ätiologie und Pathogenese
Embryonale Entwicklung2,5
- Die Entwicklung des ZNS erfolgt initial aus der Neuralplatte, einer Ansammlung embryonaler Zellen, die aus dem Ektoderm (Keimblatt) differenziert.
- Ausdifferenzierung der Neuralplatte in der 3.–4. Embryonalwoche in
- Neuralrohr: Vorläufer des zentralen Nervensystems (ZNS)
- Neuralleisten: Vorläufer des peripheren Nervensystems (PNS)
- Neurulation
- Beginn an Tag 18 der Embryonalentwicklung
- zentrale Absenkung der Neuralplatte zur Neuralrinne
- Das Zusammenwachsen der äußeren Neuralfalten bildet das Neuralrohr.
- Das kraniale und kaudale Ende werden als Neuroporus bezeichnet.
- Verschluss Neuroporus cranialis: 21.–25. Tag
- Verschluss Neuroporus caudalis: 26.–28. Tag
- Das Gehirn entstammt dem kranialen/rostralen Ende des Neuralrohrs, das Rückenmark dem kaudalen Anteil.
Pathogenese der Neuralrohrdefekte2,4-5
- Die Klassifikation der Fehlbildung ist abhängig von der Lokalisation und dem Ausmaß des unvollständigen Verschlusses des Neuralrohrs.
- Gestörter Verschluss des kranialen Neuralrohrs
- Anenzephalie: unvollständige Entwicklung des Schädelknochens und Gehirns
- Inienzephalie: Fehlbildung des zerviko-okzipitalen Überganges und des ZNS
- Gestörter Verschluss des kaudalen Neuralrohrs
- Dies führt zu Spina bifida.
- Spina bifida aperta: Schließungsdefekt mit Verbindung des Rückenmarks nach außen
- Spina bifida cystica: Rückenmark von Hirnhaut bedeckt
- geschlossene Spina bifida: intakte Hautdeckung
- Spina bifida occulta: knöcherne Fusion gestört ohne Beeinträchtigung des Rückenmarks
- Dies führt zu Spina bifida.
- Kraniorachischisis
- unvollständiger Verschluss des gesamten Neuralrohrs
- Dies führt zu Anenzephalie und Spina bifida aperta bzw. Myelomeningozele.
- Zystische Protrusionen bei unvollständigem Neuralrohrverschluss
- von Meningen und Liquor: Meningozele
- von Hirngewebe: Enzephalozele
- von Rückenmarksgewebe: Myelomeningozele
- Assoziation zu Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs (z. B. Arnold-Chiari-Malformation) und Hydrozephalus4-5
Ätiologie1-2,4-5
- Die genaue Ätiologie der Fehlbildungen ist noch unbekannt, vermutlich embryonale Entwicklungsstörungen bei genetischer Prädisposition mit auslösenden Umweltfaktoren während der Schwangerschaft.
Prädisponierende Faktoren
Genetische Prädisposition
- Genetische Faktoren sind für etwa 70 % der Neuralrohrdefekte verantwortlich.2
- Im Mausmodell sind bereits über 240 risikobehaftete Genloci dokumentiert.
- Chromosomale oder genetische Syndrome (z. B. Trisomie 13, 18, Meckel-Syndrom) machen einen relativ kleinen Anteil aus (< 10 %).3
- Das Wiederholungsrisiko beträgt nach einem Neuralrohrdefekt in der vorangegangenen Schwangerschaft 2–5 %.1,3-5
- 10–20 % nach zwei zuvor betroffenen Schwangerschaften
- Vermutlich (poly-)genetische Suszeptibilität, die bei Vorliegen intrauteriner Umweltfaktoren zur Ausbildung eines Neuralrohrdefektes führt (Schwellenwerteffekt).1-2,5
- Bei etwa 95 % der Kinder mit Spina bifida unauffällige Familienanamnese
Umweltfaktoren während der Schwangerschaft
- Mangelernährung, insbesondere Vitaminmangel1-4
- Folsäuremangel ist der etablierteste Risikofaktor.
- Ein Vitamin B12-Mangel ist ebenfalls mit erhöhtem Risiko verbunden.
- Teratogene Medikamente1-3
- Valproat und andere Antiepileptika, Clomifen, Retinoide
- Teratogene Stoffe1-5
- Arsen, Pestizide, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), Luftverschmutzung
- Alkohol2-3
- Tabak2-4
- Hyperthermie während des 1. Trimenons1-5
- Mütterliche Adipositas2-3,6
ICD-10
- Q00 Anenzephalie und ähnliche Fehlbildungen
- Q00.0 Anenzephalie
- Q00.1 Kraniorhachischisis
- Q00.2 Inienzephalie
- Q01 Enzephalozele
- Q01.0 Frontale Enzephalozele
- Q01.1 Nasofrontale Enzephalozele
- Q01.2 Okzipitale Enzephalozele
- Q01.8 Enzephalozele sonstiger Lokalisationen
- Q01.9 Enzephalozele, nicht näher bezeichnet
- Q05 Spina bifida
- Q05.0 Zervikale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.1 Thorakale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.2 Lumbale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.3 Sakrale Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.4 Nicht näher bezeichnete Spina bifida mit Hydrozephalus
- Q05.5 Zervikale Spina bifida ohne Hydrozephalus
- Q05.6 Thorakale Spina bifida ohne Hydrozephalus
- Q05.7 Lumbale Spina bifida ohne Hydrozephalus
- Q05.8 Sakrale Spina bifida ohne Hydrozephalus
- Q05.9 Spina bifida, nicht näher bezeichnet
- Q76 Angeborene Fehlbildungen der Wirbelsäule und des knöchernen Thorax
- Q76.0: Spina bifida occulta
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Einteilung der Neuralrohrdefekte nach Lokalisation1
- Diagnosestellung in der Regel im Rahmen der Pränataldiagnostik oder bei Geburt1
- Das klinische Bild und die Prognose sind abhängig von der Lokalisation und Ausprägung der Fehlbildung.1-2,4-5
Spina bifida
- Siehe Artikel Spina bifida.
- Definition1,3-5,7
- Fehlbildungen im Bereich der Wirbelsäule und des Rückenmarks
- Spina bifida aperta: zur Außenwelt exponiertes Rückenmark ohne Hautbedeckung
- Spina bifida cystica: Aussackung von Hirnhaut (Meningozele) und ggf. zusätzlich Rückenmarksgewebe (Myelomeningozele), von Hirnhaut bedeckt
- geschlossene Spina bifida: intakte Hautbedeckung, oft mit lokalen Hautveränderungen (Lipom, Nävus, Haarwachstum)
- Spina bifida occulta: knöcherner Schließungsdefekt (vertebrale Fusion) oft ohne Krankheitswert
- Häufigkeit
- etwa 50 % der Neuralrohrdefekte4
- Klinik und Prognose
- meist lumbosakrale Lokalisation
- bei hautbedeckter Spina bifida Pigmentstörungen, Haarwachstum, Fistel auf Höhe der Läsion
- sensomotorische Querschnittsymptomatik unterschiedlicher Ausprägung (Höhe und Grad der Fehlbildung)1
- gute postnatale Überlebenswahrscheinlichkeit, Mortalität von 1 % pro Jahr bei Betroffenen zwischen 5 und 30 Jahren3-4
- Eine Myelomeningozele ist in 90 % der Fälle mit einer Arnold-Chiari-Malformation Typ II assoziiert.3
Anenzephalie
- Definition
- fehlende Anlage der Schädelkalotte und des Großhirns4
- Häufigkeit
- etwa 10–40 % der Neuralrohrdefekte4-5
- Klinik und Prognose
Enzephalozele
- Definition
- mediane Vorwölbung einer Aussackung der Meningen mit Hirngewebe aus dem Schädel4
- Häufigkeit
- etwa 7 % der Neuralrohrdefekte4
- Klinik und Prognose
Kraniorachischisis
- Definition
- schwerste Form mit Spaltbildung entlang des gesamten Neuralrohrs mit exponiertem Gehirn und Rückenmarks3
- Häufigkeit
- etwa 3 % der Neuralrohrdefekte4-5
- Klinik und Prognose
- Fehlbildung nicht mit dem Leben vereinbar4-5
Differenzialdiagnosen
- Geburtstraumatischer Querschnitt
- Neonatale Meningitis
- Spinaler epiduraler Abszess
- Spinale Tumoren
- Spinalis-anterior-Syndrom
- Syringomyelie
- Hydrozephalus
- Tethered-Cord-Syndrom4
- Rückenmarkschädigung durch Adhäsionen des kaudalen Rückenmarks
- Assoziation mit Spina bifida und Myelomeningozele
Anamnese
Schwangerschaftsanamnese1
- Komplikationen vorangegangener Schwangerschaften
- Medikamentenanamnese (insbesondere teratogene Medikamente wie Valproat)
- Risikofaktoren
- Mangelernährung, v. a. Folsäuremangel
- Rauchen
- Alkohol
Beschwerden1,3-4
- Abnormer Schrei bei Neugeborenen (gellend, heiser)
- Enzephalozele mit variablen zentralen neurologischen Defiziten
- Spina bifida aperta mit (inkompletter) Querschnittssymptomatik
- Sensibilitätsstörungen ab einem sensiblen Niveau
- Lähmungen (Paresen) abhängig von der Höhe der Läsion
- neurogene Blasenfunktionsstörung8
- Betrifft ca. 88 % der Neugeborenen mit Myelomeningozele.
- verminderte Urinausscheidung und distendierte Blase oder anhaltendes Urintropfen bei Neugeborenen
- Harninkontinenz, Restharnbildung, Harnwegsinfektionen, Pyelonephritis
- Inkontinenz von Mekonium oder Stuhl
- ggf. Hinweis auf verminderten Analsphinktertonus
- Assoziierter Hydrozephalus
- Bewusstseinsstörung
- Entwicklungsverzögerung und Intelligenzminderung
- Spastik
- neuroorthopädische Deformitäten
- Spina bifica occulta oder Meningozelen sind oft asymptomatisch.
Klinische Untersuchung
- Siehe auch Artikel Untersuchung des Neugeborenen.
- Inspektion des Neugeborenen
- Ein offener Neuralrohrdefekt ist bei der Geburt offensichtlich.
- Neurologische Untersuchung mit Augenmerk auf:1
- Hirnnervenstatus
- Kraftprüfung (Paresen)
- bei Neugeborenen Spontanbewegung der Extremitäten
- Sensibilitätsstörungen (spinales sensibles Niveau)
- bei Neugeborenen z. B. ausbleibende Reaktion auf Schmerzreiz an den Füßen
- Kleinhirnfunktion
- Muskeleigenreflexe
- Zeichen der Spina bifida1,3-5,7
- Hautveränderungen am Rücken auf Höhe der Läsion (meist lumbal/sakral)
- Lipom
- Haarwachstum
- Pigmentstörungen
- Fistelbildung
- offene Spina bifida ohne Hautbedeckung
- Meningozele: mit Liquor gefüllter Bruchsack aus Hirnhäuten
- Meningomyelozele: Bruchsack mit Liquor und Rückenmarksgewebe
- Spina bifida aperta: exponiertes Rückenmark
- sensomotorische Querschnittssymptomatik abwärts der Läsion
- neurogene Blasen-/Mastdarmfunktionsstörung
- knöcherne Deformitäten
- im Bereich der Wirbelsäule
- sekundär, z. B. an den Füßen (Klumpfuß) oder Hüftluxation
- Hautveränderungen am Rücken auf Höhe der Läsion (meist lumbal/sakral)
- Zeichen des kongenitalen Hydrozephalus1,3
- vergrößerter Kopfumfang (Makrozephalie)
- gespannte, vorgewölbte große Fontanelle
- Dehiszenz der Schädelnähte: tympanitischer Klopfschall über der Kalotte
- Bewusstseinsminderung, Opisthotonus
- Sonnenuntergangsphänomen
- Deviation der Augen nach unten, Iris teilweise durch das Unterlid verdeckt
- durch vorgewölbte Stirnknochen, heruntergedrängte Orbitalplatte und vertikale Blickparese
Diagnostik bei Spezialist*innen
Pränataldiagnostik1,3-5
- In westlichen Ländern erfolgt die Diagnose eines Neuralrohrdefekts überwiegend pränatal.3-4
- Pränatale Ultraschalldiagnostik1,3-4
- Dies ermöglicht eine frühzeitige Diagnosestellung.
- Meningomyelozele mit Detektionsraten von 90–98 % im Routine-Ultraschall im 2. Trimenon3
- mögliche Befunde1,3-5
- Schädelaplasie, Mikrozephalie, Anenzephalie
- „Lemon Sign“: abgeflachte Konvexität des frontalen Schädelknochens
- „Banana Sign“: kleines, bananenförmiges Kleinhirn
- abnorme Bewegungsmuster
- Labordiagnostik
- Hat einen Stellenwert insbesondere bei unzureichender sonografischer Beurteilbarkeit.3
- Bestimmung von Alpha-Fetoprotein (AFP) im mütterlichen Serum1,3-4
- bei allen Neuralrohrdefekten erhöht
- Amniozentese (14.–16. SSW)3
- Bestimmung von Alpha-Fetoprotein und Acetylcholinesterase in Amnionflüssigkeit
- Risiko des Aborts (ca. 1 %) limitierend
- nichtinvasive pränatale Bluttests (NiPT)
- Diagnostik auf Chromosomenaberrationen (Trisomien 13, 18, 21) aus zirkulierender kindlicher DNA im Blut der Mutter
- Fetale MRT-Bildgebung3
- ggf. bei unklarer Befundlage oder präoperativ
Bildgebende Diagnostik
- Neonataler Ultraschall bei offener Fontanelle1
- Nachweis eines Hydrozephalus
- Röntgen oder CT der Wirbelsäule
- Nachweis dorsaler Bogendefekte (mangelnde vertebrale Fusion)
- MRT der Wirbelsäule und/oder Myelografie
- Nachweis einer Meningen-, Myelonmitbeteiligung bei Spina bifida
- Nachweis eines Tethered-Cord-Syndrom
- MRT des Schädels3
- Nachweis assoziierter Veränderungen (Arnold-Chiari-Malformation oder Hydrozephalus)
Therapie
Therapieziele
- Behandlung akut bedrohlicher Veränderungen (z. B. Hydrozephalus)
- Vermeidung von Komplikationen (z. B. ZNS-Infektionen)
- Langzeitbehandlung bleibender neurologischer Defizite
- Die pränatale Diagnose erlaubt einen Schwangerschaftsabbruch bei schweren Fehlbildungen.
Allgemeines zur Therapie
- Frühzeitige, pränatale Diagnosestellung erlaubt einen Schwangerschaftsabbruch bei schweren Neuralrohrdefekten ohne Überlebensfähigkeit.4
- Bei pränatal diagnostizierter Spina bifida in der Regel primäre Sectio
- Eine offene Spina bifida oder Enzephalozele macht eine frühzeitige operative Behandlung notwendig.1,3
- anschließend in der Regel lebenslange, multidisziplinäre Therapie3
Operative Therapie
Pränatale Operation
- Ziel: Verhinderung einer sekundären Schädigung von exponiertem Nervengewebe nach unvollständigem Neuralrohrverschluss im Verlauf der Gestation
- Intrauterine fetale Operation3-5,7
- operative Defektdeckung intrauterin laparoskopisch oder offen an spezialisierten Zentren seit Anfang der 2000er-Jahre
- Option bei Spina bifida aperta (Myelomeningozele) in der 19.–25. SSW1
- Studien zeigen ein verbessertes Outcome nach intrauteriner vs. postnataler Rekonstruktion bei Myelomeningozele, allerdings treten vermehrte Schwangerschaftskomplikationen auf.
Postnatale Operation
- Offene Spina bifida1,5,7
- möglichst zeitnahe operative Korrektur (bis 24–36 h post partum)
- Rückverlagerung/Resektion einer Myelomeningozele, Verschluss und Hautdeckung des Defektes
- Prävention von Komplikationen (v. a. ZNS-Infektionen)
- Geschlossene Spina bifida (mit intakter Hautbedeckung)
- elektive operative Versorgung3
- Enzephalozele
- Resektion und Verschluss der Meningen, Hautdeckung des Defektes
- Meist ist eine Resektion des hernierten Hirngewebes unumgänglich.
- Hydrozephalus1,3,5
- in der Regel operative, meist ventrikuloperitoneale Shuntanlage
- notwendig bei nahezu allen Fällen einer thorakalen, etwa 85 % der lumbalen und etwa 70 % der sakralen Neuralrohrdefekte3
- Neuroorthopädische Therapie
- chirurgische Korrektur knöcherner Deformitäten meist kurz nach Geburt3
Weitere Therapie
Interdisziplinäre Langzeittherapie3
- Lebenslange interdisziplinäre Verlaufskontrolle und Langzeittherapie für Menschen mit Spina bifida und Querschnittsyndrom3
- Behandlung durch Pädiater*innen, pädiatrischen Neurochirurg*innen,
Neuropädiater*innen, Kinderurolog*innen, pädiatrische Nephrolog*innen und Kinderorthopäd*innen
- Behandlung durch Pädiater*innen, pädiatrischen Neurochirurg*innen,
Urologische Therapie
- Regelmäßige sonografische und urodynamische Verlaufsuntersuchungen
- Behandlungsoptionen der neurogenen Blasenfunktionsstörungen
- medikamentös, z. B. Antimuskarinika
- intermittierende Katheterisierung (IK)
- operative Therapie
Prävention
- Nach einem inkompletten Verschluss des Neuralrohrs ist die Schädigung des exponierten Nervengewebes irreversibel, sodass der Prävention ein hoher Stellenwert zukommt.5
Folsäuresubstitution
- Gute Evidenz zur Wirksamkeit der Folsäuresubstitution in der Prävention von Neuralrohrdefekten1,5,8-11
- Risikoreduktion > 70 % (insbesondere Spina bifida)1
- Empfohlener Zeitraum1,8
- Beginn sobald Schwangerschaft geplant oder möglich (> 4 Wochen vor Konzeption)
- Die Einnahme wird mindestens bis zum Ende des 1. Trimenon empfohlen.
- Empfohlene Dosierung1,8,12
- Folsäure 0,4 mg/d
- bei Neuralrohrdefekt in vorangegangener Schwangerschaft 4 mg/d
Weitere Maßnahmen
- Medikamente
- Medikation auf teratogene Substanzen überprüfen.
- z. B. Valproat als Dauertherapie bei Epilepsie
- Bei Kinderwunsch Medikamentenumstellung anstreben.
- Nikotin- und Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft
- Substitution von Vitamin B123
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die Schädigung intrauterin exponierten ZNS-Gewebes ist irreversibel.3-5
- Unbehandelt verlaufen offene Neuralrohrdefekte in der Regel tödlich (ZNS-Infektionen, weitere Schädigung des Nervengewebes).
- Bei geschlossenen Neuralrohrdefekten oder adäquater Behandlung offener Läsionen längeres Überleben mit variablem Ausmaß bleibender Defizite
Komplikationen
- Aszendierende Infektionen des exponierten ZNS (Meningitis)1,4
- Hydrozephalus1,4
- operative Shuntanlage und regelmäßige Verlaufskontrolle
- Neurogene Blasenstörung und Harninkontinenz4
- anticholinerge Therapie, intermittierende Katheterisierung oder suprapubischer Blasenkatheter
- Sekundäre knöcherne Deformitäten4
- z. B. Skoliose (45 % bei Spina bifida), Hüftluxation, Klumpfuß
- Tethered-Cord-Syndrom4
- Rückenmarksschädigung durch Adhäsionen des kaudalen Rückenmarks
- vielseitige Symptome (Schmerzen, Spastik, Blasenfunktionsstörung)
- ggf. operative Adhäsiolyse
- Chronische Nierenkrankheit (40 % im Erwachsenenalter)
Prognose
- Die Prognose ist abhängig von der Ausprägung und Lokalisation des Neuralohrdefekts.
- Anenzephalie und Kraniorachischisis1-2,4
- Sind nicht mit dem Leben vereinbar, führen postpartal frühzeitig zum Tod.
- Spina bifida aperta3-5
- Kinder können bei adäquater Behandlung überleben.
- oft bleibende neurologische Störungen abhängig von der Schwere der Läsion
- höhergelegene spinale Läsionen mit schwereren Defiziten und höherer Mortalität
- Mortalität von etwa 1 % pro Jahr (Alter 5–30 Jahre)3
- geschlossene Spina bifida3
- in der Regel geringere bleibende Defizite
- Spina bifida occulta1,3
- häufig asymptomatischer Zufallsbefund ohne Krankheitswert
- Anenzephalie und Kraniorachischisis1-2,4
Verlaufskontrolle
- Zentrale Aspekte der lebenslangen Nachsorge bei Querschnittsymptomatik
- querschnittspezifische neurologische Beurteilung
- allgemeinmedizinische/ internistische Beurteilung
- muskuloskeletale Beurteilung
- neuro-urologische/urogenitale Beurteilung
- Rehabilitationsstatus (funktionaler Gesundheitszustand nach ICF-Modell)
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
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Autor*innen
- Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg